Karsten Malowitz | Zeitschriftenschau |

Aufgelesen

Die Zeitschriftenschau im Januar 2024

Mit schöner Regelmäßigkeit wünschen wir einander zu Beginn eines jeden neuen Jahres, dass es ein frohes und friedliches werden möge – wohl wissend, dass die Erfüllung dieses Wunsches immer nur einzelnen, niemals uns allen vergönnt sein wird. Glaubt man den Diagnosen und Prognosen zahlreicher politischer Beobachter:innen, geben die aktuellen und bevorstehenden politischen Ereignisse des noch jungen Jahres keinen Grund zu der Annahme, dass es diesmal anders sein könnte. Im Gegenteil. Es scheint, als drohe kollektives Ungemach. Anlass zur Sorge bereitet den Kommentator:innen des politischen Weltgeschehens neben den Kriegen zwischen Russland und der Ukraine sowie zwischen Israel und der Hamas vor allem die mögliche Wiederwahl Donald Trumps bei der bevorstehenden US-Präsidentschaftswahl im November dieses Jahres.

Im Heft 1 der Blätter für deutsche und internationale Politik stimmt Albrecht von Lucke seine Leser:innen auf ein für die westlichen Demokratien entscheidendes „Schicksalsjahr 2024“ ein. Ins Zentrum seiner um die Herausforderungen durch Putin, Trump und die Hamas kreisenden Analyse rückt er die „Logik der Zerstörung“ – eine Logik, die von Lucke zufolge dem strategischen Vorgehen aller drei Akteure in unterschiedlicher Weise zugrunde liegt.

„Putin und die Hamas eint ein strategischer Grundansatz: Da eine Überwindung des Gegners durch eigene Attraktivität oder die Eroberung des gegnerischen Territoriums (bisher jedenfalls) nicht möglich ist, setzen sie auf ein anderes Mittel – das der reinen Destruktion. Im Falle Russlands ist diese Strategie evident: Seit Moskau an der schnellen Eroberung Kiews gescheitert ist, hält es sich an der Zerstörung der Ukraine ,schadlos‘. Die Strategie der Hamas dagegen ist komplexer und perfider: Sie zielte mit ihrem brutalen Massaker an israelischen Zivilisten von Anfang an darauf ab, den Gegner zu einer massiven Reaktion zu provozieren, was Israel mit der flächendeckenden Zerstörung Gazas prompt erfüllte.“ (S. 35)

Folgt man dieser Deutung, handelte es sich bei dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nicht nur um einen Akt grausamer Gewalt, sondern auch um eine vorsätzlich gestellte Falle, die genau jene militärische Reaktion hervorrufen sollte, zu der sich die israelische Regierung schließlich entschloss. Der massive militärische Gegenschlag der israelischen Armee machte der Hamas demnach aller Opfer zum Trotz keinen Strich durch die Rechnung, sondern sorgte vielmehr dafür, dass diese aufgeht. Die erwartbare militärische Niederlage der Hamas, die Zerstörung der Infrastruktur in Gaza und das damit verbundene Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung sind demnach Teil eines zynischen Kalküls, das darauf angelegt ist, eine friedliche Beilegung des Konflikts des seit Jahrzehnten schwelenden Nahostkonflikts um jeden Preis zu unterbinden. Die „Logik der Zerstörung“ zielt in diesem Fall auf die Torpedierung aller Friedensbemühungen und, wenn möglich, die Verwicklung Israels in eine kriegerische Auseinandersetzung mit weiteren regionalen Mächten. Im Konflikt mit Israel hat die Hamas damit einen wichtigen strategischen Vorteil: Sie muss den Krieg überhaupt nicht gewinnen, es ist für sie völlig ausreichend, dass sie den Frieden verhindert. „Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Hamas jederzeit bereit, die eigenen Untertanen im Dschihad, im ,heiligen Krieg‘, zu opfern, ob als Terroristen oder auch als hilflose Zivilisten.“ (S. 36)

In einer strategisch ähnlich vorteilhaften Lage befindet sich von Lucke zufolge auch Russland, und zwar sowohl im heißen Krieg gegen die Ukraine als auch im kalten Krieg gegen den Westen. Denn um seine vorrangigen politischen Ziele – die Schwächung der Anrainerstaaten und der westlichen Demokratien – zu erreichen, muss Putin weder in dem einen noch in dem anderen Konflikt obsiegen. Er kann sich darauf beschränken, die militärische Konfrontation am Laufen zu halten und die damit verbundenen politischen wie ökonomischen Kosten für die Ukraine und die sie unterstützenden westlichen Staaten in die Höhe zu treiben, sei es auf direkte Weise, durch die Zerstörung von militärischem Gerät und ziviler Infrastruktur, oder auf indirekte Art, durch die Verminung von Gelände oder die Vertreibung der Zivilbevölkerung. Denn im Unterschied zur Ukraine und den westlichen Staaten, deren Regierungen mit Rücksicht auf ihre andernfalls schwindende politische Unterstützung mindestens mittelfristig an einer stabilen Friedenslösung gelegen sein muss, kann Putin den Krieg weitgehend ohne Rücksicht auf menschliche Verluste oder wirtschaftliche Einbußen für längere Zeit fortsetzen, da weitgehend nicht auf die Zustimmung der Bevölkerung angewiesen ist: „Damit verfügt der Zerstörer über weit bessere Karten als jene, die Rücksicht auf die eigene, aber auch auf die vom eigenen militärischen Vorgehen betroffene gegnerische Bevölkerung nehmen müssen.“ (S. 37 f.)

Seine besondere Brisanz gewinnt das Krisenszenario, das von Lucke für das laufende Jahr 2024 entwirft, aus dem Umstand, dass die beschriebene „Logik der Zerstörung“ die westlichen Demokratien – allen voran die USA – nicht nur von außen, sondern längst auch von innen heraus bedroht und schwächt.

„Das Agieren der Trumpisten in den Vereinigten Staaten, ihre Blockade jeglicher Haushaltsplanungen, zeigt, dass die jahrzehntelang pragmatisch agierende republikanische Partei inzwischen völlig von Radikalen unterwandert ist. Auch sie sind Akteure, die – wie Trumps Verhalten nach der letzten Präsidentschaftswahl gezeigt hat – letztlich auf die gleiche Unterminierung der Institutionen setzen wie Putin.“ (S. 39)

Sollte sich Trump im Rennen um das Weiße Haus gegen Amtsinhaber Joe Biden durchsetzen und den von ihm bei verschiedenen Gelegenheiten geäußerten Worten – von der sofortigen Beendigung des Ukraine-Krieges bis zur Verfolgung aller politischen Gegner – die entsprechenden Taten folgen lassen, stünde Schlimmes zu befürchten: Es könnte nicht weniger bedeuten als das Ende der US-amerikanischen Demokratie und den „worst case“ (S. 40) für die Ukraine und Europa, die dann ohne ihren bislang wichtigsten Verbündeten auszukommen hätten.

Was also tun? Angesichts der düsteren Zukunftsaussichten empfiehlt von Lucke, auf ein Ende der festgefahrenen militärischen Auseinandersetzungen sowohl in der Ukraine als auch in Gaza zu drängen und nach politischen Alternativen zu suchen. Während im Fall des Krieges zwischen Israel und der Hamas derzeit noch völlig unklar ist, wie eine solche Lösung aussehen könnte, sind mit Blick auf den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine von Lucke zufolge drei Optionen denkbar (und in Hintergrundgesprächen angeblich auch bereits in der Diskussion): 1) Die Korea-Lösung, also ein Einfrieren des Krieges auf Basis des gegenwärtigen Frontverlaufs, was allerdings die ständige Gefahr einer neuerlichen Eskalation des Konflikts durch Russland in sich birgt. 2) Die Deutschland-Lösung, die den Eintritt der Ukraine in die NATO bei gleichzeitigem Verzicht auf die von Russland besetzten Gebiete impliziert. 3) Die Neutralität der gesamten Ukraine bei gleichzeitiger Gewährleistung ihrer Sicherheit durch eine Staatenkoalition.

Allerdings weiß von Lucke selbst, dass die Chancen für die Verwirklichung einer der drei Optionen nicht zuletzt aus den von ihm angeführten Gründen eher schlecht stehen. Schließlich haben weder Putin noch die Führungsfiguren der Hamas unter den gegenwärtigen Bedingungen einen Grund dazu, ihren jeweiligen strategischen Vorteil aufzugeben und sich auf politische Verhandlungen einzulassen. Das gilt insbesondere für Putin, der in aller Ruhe den Ausgang der näher rückenden US-Präsidentschaftswahl abwarten kann. Wollen die westlichen Demokratien, zumal die europäischen, dem Despoten etwas entgegensetzen, bleibt ihnen nach von Luckes Ansicht nichts anderes übrig, als sich um eine Wiederannäherung an China zu bemühen, um die chinesische Führung dazu zu bewegen, ihren Einfluss auf Russland geltend zu machen. Eine Vorstellung, die nicht nur bei Freund:innen einer wertebasierten Außenpolitik gemischte Gefühle hervorrufen dürfte.

Für eine nüchterne, realistische Sicht auf die Welt plädiert auch Robert Kagan in seinem fulminanten Essay „Amerika vor der Trump-Diktatur“, der ebenfalls in Heft 1 der Blätter für deutsche und internationale Politik erschienen ist.[1] Kagan, einer der profiliertesten politischen Analysten der USA, der sich vor allem auf dem Gebiet der Außenpolitik einen Namen gemacht hat und um deutliche Worte nicht verlegen ist, hat eine unmissverständliche Botschaft für seine Leser:innen: „Beenden wir das Wunschdenken und stellen wir uns der harten Realität: Es gibt einen klaren Pfad zu einer Diktatur in den USA und er verkürzt sich jeden Tag.“ (S. 42) Die erste Etappe auf besagtem Pfad, den Kagan in seinem Text abschreitet, ist der sogenannte Super Tuesday am 5. März 2024, an dem in mehr als einem Dutzend US-Bundesstaaten Vorwahlen stattfinden. Gewinnt Trump am Super Tuesday, werden, da ist sich Kagan sicher, nicht nur die letzten verbliebenen innerparteilichen Kritiker:innen verstummen und die Reihen schließen, auch die dringend benötigten Geldgeber:innen, von denen einige bisher noch Zurückhaltung übten oder andere Kandidat:innen unterstützten, werden sich Trump anschließen, „solange er Überläufern noch dankbar ist“ (S. 44). Und spätestens, wenn er als Präsidentschaftskandidat der Republikaner gesetzt ist, werden auch die Medien ihm wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken: „Wie ein Koloss wird er sich über dem Land auftürmen, und über all seine Aussagen und Gesten wird endlos berichtet werden.“ (S. 45)

Anders als Trump, der Kagan zufolge „mit Rückenwind in den Hauptwahlkampf“ ziehen wird (ebd.), hat Amtsinhaber Joe Biden mit einer Reihe struktureller Probleme zu kämpfen, die seine Chancen empfindlich schmälern. Dazu gehören neben mangelndem Rückhalt in Teilen der Partei und sinkenden Zustimmungsraten bei wichtigen Wählergruppen auch Bidens fortgeschrittenes Alter und der Umstand, dass auch sein Herausforderer über einen Amtsbonus verfügt. Schließlich kandidiert mit Trump kein unerfahrener Politiker für das Amt des Präsidenten, sondern Bidens Vorgänger. Trumps größter Trumpf im Kampf um den Einzug ins Weiße Haus, die zweite Etappe auf dem Pfad, ist nach Kagan jedoch dessen Image als „Systemsprenger“ (ebd.), verschafft ihm Letzteres doch angesichts der landesweit herrschenden „Abscheu“ (S. 46) gegenüber dem politischen Betrieb einen gewichtigen Vorteil. Biden muss Erfolge vorweisen, um die Wähler:innen von sich und seiner Politik zu überzeugen, während für Trump bereits jede Dysfunktionalität eine Chance darstellt, um sich als Alternative ins Spiel zu bringen und sich gegenüber seinem Konkurrenten hervorzutun. Kagan bringt es auf den Punkt: „Trump tritt gegen das System an. Biden ist die lebende Verkörperung des Systems. Vorteil: Trump.“ (S. 46 f.)

Und auch was die letzten verbleibenden Hindernisse auf der zweiten Etappe anbelangt, namentlich die Gerichte und den Rechtsstaat, zweifelt Kagan daran, dass sie in der Lage sein werden, Trump aufzuhalten. Im Gegenteil. Kagan ist davon überzeugt, dass Trump die gegen ihn laufenden Prozesse, die er im Fernsehen übertragen lassen will, dazu nutzen wird, die Autorität der Gerichte und das Ansehen des Rechtstaats durch aufrührerisches Verhalten weiter zu schwächen. Die von vielen seiner Gegner:innen gehegte Hoffnung, die anhängigen Prozesse könnten Trump schaden, hält Kagan für naiv.

„Trumps Macht rührt aus seiner Gefolgschaft, nicht aus den Institutionen der US-Demokratie, und seine ihm ergebenen Wähler lieben ihn, eben weil er Linien überschreitet und alte Grenzen ignoriert. Sie fühlen sich dadurch ermächtigt, und das ermächtigt wiederum ihn.“ (S. 47)

Sollte Trump die zweite Etappe erfolgreich bewältigen und am 5. November 2024 abermals zum US-Präsidenten gewählt werden, wird er – ausgestattet mit der ganzen Macht der Exekutive – Kagan zufolge kaum noch mit nennenswertem institutionellem Widerstand zu rechnen haben. Dass das Justizsystem, dessen höchste Beamte Trump ernennt, weiterhin gegen ihn vorgehen wird, scheint Kagan ebenso unwahrscheinlich wie die Möglichkeit, dass sich die beiden Kammern des Kongresses gegen Trump wenden werden. Zudem ist für Kagan nur schwer vorstellbar, dass die Abgeordnet:innen und Senator:innen der Republikaner, die nicht bereit waren, sich nach dem Sturm auf das Kapitol gegen den abgewählten US-Präsidenten Trump zu stellen, nun einem amtierenden US-Präsidenten Trump die Stirn bieten werden. Und auch den zahlreichen Bundesbehörden und den dort beschäftigten politischen Beamten, die etliche von Trumps Vorhaben während seiner ersten Amtszeit durchkreuzten oder verschleppten, traut Kagan nicht zu, Trumps Machtfülle ein zweites Mal erfolgreich einzuhegen. Denn anders als nach seinem Wahlsieg 2016, als Trump über keinerlei Erfahrung im Tagesgeschäft eines US-Präsidenten und erst recht keine eigene Regierungsmannschaft verfügte, kann er im Fall eines Sieges bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im November auf ein handverlesenes Team ihm treu ergebener politischer Beamt:innen setzen.

Glaubt man Kagan, werden ebendiese ihrem Idol zu Diensten und zu Willen sein, wenn es darum geht, die dritte Etappe auf dem Weg zur Diktatur zu bewältigen, nämlich den Kampf gegen alle früheren wie gegenwärtigen Kritiker:innen und gegen die Opposition.

„Seine Regierung wird voll von Leuten mit ihren eigenen Feindeslisten sein, eine entschlossene Gruppe ,überprüfter‘ Beamter, die es als ihre vom Präsidenten autorisierte Hauptaufgabe ansehen werden, diejenigen im Staatsapparat ,auszurotten‘, denen man nicht vertrauen kann. Viele wird man schlicht entlassen, aber andere wird man Untersuchungen aussetzen, die ihre Karrieren zerstören.“ (S. 50)

An Vorwänden für ein solches Vorgehen wird es nach Kagans Ansicht nicht mangeln, sehen sich Biden und andere Spitzenpolitiker:innen der Demokraten doch heute schon den Vorwürfen ausgesetzt, amerikanische Interessen zu verraten und kommunistische Handlanger im Dienste Chinas zu sein. In seinen Augen ist die Wiederkehr eines „neuen McCarthyismus“ (ebd.) keine weit hergeholte, sondern eine sehr reale Gefahr, verfügen Trump und seine Verbündeten, sind sie erst einmal an der Macht, doch über zahlreiche Möglichkeiten, um ihren politischen Widersacher:innen das Leben schwer zu machen:

„Denken wir an all die Gesetze, die der Bundesregierung gewaltige Kompetenzen verleihen, Menschen wegen möglicher terroristischer Verbindungen zu beobachten, ein Tatbestand, der gefährlich flexibel auslegbar ist. Hinzu kommen all die regulären Möglichkeiten, gegen Menschen aufgrund behaupteter Steuerhinterziehung oder von Verstößen gegen Gesetze zur Registrierung von Auslandsvertretern zu ermitteln.“ (S. 51)

Zwar geht auch Kagan davon aus, dass sich gegen ein derartiges Vorgehen Trumps und seiner Administration Widerstand regen wird, doch bezweifelt er zugleich, dass dieser stark und entschlossen genug sein wird, um die Unterminierung der demokratischen Institutionen aufhalten zu können. Die Medien sind gespalten, das Militär zum Gehorsam verpflichtet und den Gouverneuren der einzelnen Bundesstaaten fehlt es an den notwendigen Machtmitteln, die es bräuchte, um sich der Regierung und ihren Anordnungen dauerhaft zu widersetzen. Bleibt noch die Opposition. Doch selbst wenn diese erfolgreich gegen Trump mobilisiert und viele Amerikaner:innen auf die Straßen gehen, muss man Kagan zufolge immer noch damit rechnen, dass Trump den Insurrection Act zur Aufstandsbekämpfung in Kraft setzen und die damit verbundenen Befugnisse nutzen wird, um etwaige Proteste niederzuschlagen. „Man darf vermuten“, so Kagan, „dass er sich über diese Gelegenheit freuen wird.“ (S. 53)

Das von Kagan entworfene Szenario ist bedrohlich, und die Aussichten, die es bietet, sind düster. Vor allem aber – und darauf kommt es an– ist es nicht ohne Plausibilität. Selbst wenn man seiner pessimistischen Analyse nicht in allen Punkten folgen mag und daran zweifelt, dass sich die Dinge in der von ihm beschriebenen Weise entwickeln werden, kommt man doch nicht um das Eingeständnis herum, dass sie sich durchaus so entwickeln könnten – und das ist erschreckend genug.

Gestützt werden Kagans Befürchtungen durch Beobachtungen, die in einer weiteren, jüngst erschienenen Veröffentlichung zur Sprache kommen. Diese stammt von Constanze Stelzenmüller, die sich in Heft 1 der Zeitschrift Internationale Politik ebenfalls mit der bevorstehenden US-amerikanischen Präsidentschaftswahl auseinandersetzt. Auch sie lässt keinen Zweifel daran, dass es sich „in verfassungsrechtlicher wie geopolitischer Hinsicht um die folgenreichste US-Wahl in vielen Jahrzehnten handelt. Denn 2024 stehen sich in Amerika nicht nur zwei Kandidaten, Parteien, politische Lager oder Weltanschauungen gegenüber, sondern – zum Teil hermetisch verschlossene – Wahrnehmungswelten.“ (S. 19) Im Unterschied zu Kagan, dessen Prognose vor allem die möglichen Folgen der Wahl thematisiert, ist Stelzenmüller in erster Linie um eine gleichermaßen kompakte wie sachliche Analyse der konkurrierenden Lager und ihrer jeweiligen Stärken und Schwächen bemüht. Dabei macht sie deutlich, dass die Biden-Administration auf eine durchaus beeindruckende Bilanz zurückblicken kann:

„Seine Mannschaft […] hat die Endphase der Pandemie und die daraus resultierende Wirtschaftskrise geschickt bewältigt. Sie hat eine Vielzahl von großen Gesetzgebungsvorhaben auf die Schiene gesetzt, der Wirtschaft geht es blendend, und die Arbeitslosenquote liegt unter 4 Prozent. In Europa und Asien wurden Bündnisse erneuert, erweitert und vertieft, insbesondere mit Indien.“ (S. 20)

Hinzu kommen die Vorreiterrolle bei der finanziellen wie militärischen Unterstützung der Ukraine, die enge Abstimmung und Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern sowie die – trotz aller zwischenzeitlichen Spannungen – friedliche Beilegung der außenpolitischen Differenzen mit China. Und auch in der Wirtschaftspolitik war die Biden-Regierung mit ihrer Wende vom Neoliberalismus zu einer staatlich subventionierten Industriepolitik erfolgreich. Ermöglicht wurde dies nicht zuletzt durch eine aus erfahrenen Diplomat:innen und Offizieren zusammengesetzte Regierung und einen ebenso nüchternen wie pragmatischen Regierungsstil: 

„All das geschah – auch verglichen mit dem Chaos und den Operettendramen der Vorgängermannschaft – mit lautloser Disziplin, Kompetenz und Loyalität.“ (Ebd.)

Stelzenmüller zufolge könnte sich im Wahlkampf nun aber genau diese vermeintliche Stärke der Biden-Administration als eine verhängnisvolle Schwäche erweisen. Denn zu ihrer an sich guten Bilanz gehört eben auch, „dass die US-Wähler nicht glauben, dass es ihnen besser geht; obwohl die Löhne schneller steigen als die Preise, und das auch für die weniger Wohlhabenden“ (ebd.). Offensichtlich gelingt es dem amtierenden US-Präsidenten und seinem Team nicht, die eigenen Leistungen erfolgreich zu kommunizieren und in politische Unterstützung umzumünzen. 

„Vielleicht“, so Stelzenmüller, „ist es gerade das Problem dieser hyperrationalen Mannschaft, die über ein so präzises analytisches Instrumentarium für strategische Zusammenhänge verfügt, dass sie für die scheinbar archaischen Aspekte der Politik keine Antworten hat – ja, vielleicht nicht einmal ein wirkliches Sensorium. Zorn, Hass, Feindschaft: Das ist ihr blinder Fleck.“ (S. 21) 

Sollten die Demokraten um Biden keine Lösung für dieses Problem finden, dürften sie es schwer haben, noch unentschiedene Wähler:innen für sich zu gewinnen. In dem Fall dürfte das kommende Jahr weder ein frohes noch ein friedliches werden.

  1. Bei dem Text handelt es sich um eine Übersetzung. Die amerikanische Version des Essays mit dem Titel „A Trump dictatorship is increasingly inevitable. We should stop pretending“ erschien am 30. November 2023 in der Washington Post.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Demokratie Gesellschaft Gewalt Globalisierung / Weltgesellschaft Internationale Politik Sicherheit

Karsten Malowitz

Karsten Malowitz, Politik- und Sozialwissenschaftler, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 und des Internetportals Soziopolis.

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