Martin Bauer | Zeitschriftenschau |

Aufgelesen

Die Zeitschriftenschau im Oktober 2023

Soziale Ordnung, wenn sie denn existiert, verdankt sich in der Regel der Asymmetrierung von Interaktionsbeziehungen: Kinder gehorchen Eltern, Knechte ihren Herren und Schüler:innen erteilt das Lehrpersonal die Zeugnisnoten. Eine der vielen kommunikativen Praktiken, an denen solche Asymmetrierungen beobachtbar werden, sind Danksagungen. Sie beliefern soziale Ordnungen, reproduzieren sie, liefern unter Umständen aber auch Indizien für etwaige Veränderungen einer gegebenen Sozialordnung. Der Ernst Jünger zugeschriebene Satz, alle Tugenden verdichteten sich in derjenigen der Dankbarkeit, verrät folglich auch ein bestimmtes Gesellschaftsbild, vermutlich ein eher ständisches. Die Probe aufs Exempel liefert die lesenswerte Antrittsvorlesung des Essener Zeithistorikers Jürgen Dinkel, die in überarbeiteter Fassung unter dem Titel „Dank sagen. Geschichte einer akademischen Kulturtechnik“ in der jüngsten Ausgabe der Zeithistorischen Forschungen/Studies in Contemporary History erschienen ist. Dinkel untersucht die spezielle Praxis von Danksagungen in der akademischen Welt, womit sich seine Studie in eine jüngere kulturwissenschaftliche Forschungstradition einreiht, die sich epistemologisch sowohl für die Gattung der Paratexte interessiert als auch wissenschaftshistorisch und -soziologisch für akademische Verkehrsformen und ihre Transformationen. „Anhand von Danksagungen“, so die Arbeitshypothese, „wird überprüft, in welchen fachlichen Schulen sich die Autor:innen verorten, für welche Unterstützung sie sich bei wem bedanken, welche privaten Ansichten und Angelegenheiten sie preisgeben und inwiefern sie fachliche Konventionen einhalten.“ Dinkels Auswertung der beeindruckend weit gefassten Quellenbasis, sie umgreift vier Jahrhunderte, vom 17. bis ins 21. Jahrhundert, identifiziert drei Idealtypen von Danksagungen. Im 17. wie 18. Jahrhundert dominiert die „untertänige, rhetorisch ausgefeilte Dankesrede“; sie wird abgelöst von der „knappen“, die Person der Wissenschaftler:in kommunikativ beschweigenden des 19. und 20. Jahrhunderts, führt schließlich zu der „ausführlich-subjektivierenden“ der Jetztzeit (S. 539).

Bemerkenswert ist ein erster Übergang von der feudalen in die sich formierende bürgerliche Gesellschaft. Immanuel Kant, der Königsberger Philosophieprofessor, der seine Hauptschriften nicht mehr in Latein verfasst, stellt seiner 1781 in erster Auflage erschienenen „Kritik der reinen Vernunft“ noch ein lateinisches Zitat von Francis Bacon voran: „De nobis ipsis silemus“. Das Motto „Von uns selbst schweigen wir“ bricht mit der vorbürgerlichen Üblichkeit von Gelehrten, sich in gestanzten Formeln, die den Verdacht provozierten, bloße Konvention, also unaufrichtig zu sein, für die Gunst eines Fürsten zu bedanken, der die wissenschaftliche Tätigkeit ermöglicht hatte. Bei Kant kommt demgegenüber ein neues Selbstverständnis moderner Wissenschaft zum Ausdruck. Um ungehindert durch weltliche oder religiöse Autoritäten seiner Profession nachzugehen, entzieht sich der Gelehrte dem Einfluss wie der Abhängigkeit von religiösen und weltlichen Autoritäten. Einer solchen „Entsozialisierung des (männlichen) Gelehrten, der sich nur noch der Wissenschaft hingibt“ (S. 541) korrespondiert „dessen Austritt als Subjekt aus seinem Werk“ (S. 542).

Dieser Habitus erweist seine erstaunliche Stabilität, wenn Max Weber noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem berühmten Vortrag über „Wissenschaft als Beruf“ vermerkt: „Persönlichkeit auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient.“[1] In dieser Epoche versachlichter Autorschaft – auch eine Variante des Tods des Autors, der angeblich doch erst für die Postmoderne einschlägig wird – , bedankt man sich (unter Historikern) nur noch bei hilfreichen Archivaren, erweist dem akademischen Lehrer die Reverenz oder gibt „ein nicht erwartbares, vages, manchmal auch rätselhaftes Nähebekenntnis zu einer Person oder politischen Überzeugung“ preis. Letztlich bleiben diese Paratexte jedoch allesamt knapp, weshalb Dinkel festhält, „dass sich mit der Aufklärung ein Gelehrtenideal herausbildete, das von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine außerordentliche Hingabe an die eigene Forschung und im eigenen Werk eine große persönliche Zurückhaltung forderte, womit Danksagungen aus ihren Publikationen verschwanden oder auf wenige Zeilen schrumpften“ (S. 545). Vermutend ließe sich ergänzen, dass der gelehrtenrepublikanische Egalitarismus, der zu den sozialen Verkehrsformen gehörte, wie sie die Aufklärung normativ postulierte, tendenziell auch diejenigen Asymmetrierungen suspendierte, die Danksagung zur innerakademisch auferlegten Pflicht gemacht hatten.

Obwohl es noch bis in die Gegenwart hineinwirkt, verändert sich dieses Bild rein sachorientierter Wissenschaftlichkeit signifikant gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Was sich zu diesem Zeitpunkt Bahn bricht, bringt Dinkel auf die drei Stichworte „Subjektivierung“, „Entkonventionalisierung“ und „Individualisierung“: „Formal zeigen sich dieser jüngste Trend und der Durchbruch der neuen Dankeskultur am deutlichsten darin, dass Bücher ab den 1990er-Jahren einen eigenen Textteil erhielten, der schon im Inhaltsverzeichnis klar als Danksagung ausgewiesen war.“ (S. 547). In den jetzt aufgesetzten und buchtechnisch eigens hervorgehobenen Paratexten nimmt sowohl die Zahl der Institutionen zu, denen gedankt wird, als auch die Zahl der Kolleg:innen, die man für Anregung, inhaltlichen Austausch, für technische Hilfe oder auch für Unterstützung bei Korrekturgängen durch Erwähnung würdigt. Zudem machen Geschichts- wie Sozialwissenschaftler:innen jetzt „ihr privates Umfeld stärker sichtbar“ – bis zu dem Punkt, wo nicht nur Ehemännern mit ihren Kochkünsten gedankt wird, sondern ob ihres Zuspruchs auch Familienmitgliedern wie Eltern, Geschwistern oder Kindern und selbst Haustieren. („Undenkbar wäre alles“, so eine schlagende Belegstelle (S. 548), „ohne meine Katze Madame, die mir, auf diversen Papierstapeln thronend, immer wieder anschaulich demonstriert, dass es nichts Schöneres gibt, als nach einer Pause auszuruhen.“)

Offenkundig finden familiensoziologische Umbrüche, Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen, schließlich auch Transformationen im Mensch-Tier-Verhältnis nun Eingang in den neuen Typus von Danksagung. Ergo vermutet Dinkel, das „übergreifende Ziel dieses spezifischen Dankes“ scheine „nicht eine für die Adressat:innen wahrnehmbare, öffentliche Gegengabe zu sein, sondern der Entwurf einer wissenschaftlichen und zugleich privaten Persona“ (S. 548). Die Danksagung eröffnet aufgrund der Erweiterung der scientific community um neue Aktanten vormals blockierte Chancen für Selbststilisierungen, die – weit davon entfernt, die akademische Reputation zu gefährden – umgekehrt zu deren Optimierung beitragen. Bekenntnishafte Singularisierung der subjektiven Umstände eigener wissenschaftlichen Produktivität bereichert das Ensemble markierbarer Distinktionsmerkmale.

In einer der vier abschließenden Thesen, mit denen Dinkel seine Beobachtungen wissenschaftssoziologisch überzeugend unterfüttert, heißt es denn auch, „eine neue Konvention der wissenschaftlichen Selbstdarstellung“ deute sich an, „nämlich die Figur des privaten wie beruflich gleichermaßen Kreativen“ (S. 556). Der neue Geist des Kapitalismus, der individuelle Kreativität prämiert, obwohl zugleich Teamfähigkeit gefordert wird, scheint in die heiligen Hallen der Alma Mater eingezogen zu sein. Im Fazit führt Dinkel die Analyse dieser Art von impression managment zu dem Befund, „dass es ein sozial zunehmend engerer und homogener Kreis an Personen ist, der in wissenschaftlichen Danksagungen auftritt“ (S. 559). Indem der Historiker vom kultur- ins sozialhistorische Register wechselt, hält er in bewusst überspitzter Formulierung für die Gegenwart fest, „dass in wissenschaftlichen Danksagungen Akademikertöchter und Akademikersöhne ihren akademischen Lehrerinnen und Lehrern sowie ihren akademisch gebildeten Eltern danken.“ (Ebd.) Nach dem Ende einer durch inkludierende Bildungskarrieren während der 1970er und 1980er Jahre ermöglichten Aufstiegsmobilität, also gewissermaßen after the boom, ist man jetzt unter Seinesgleichen, womit die Danksagung „innerhalb einer wieder homogener werdenden Peer-Group eine wichtige Distinktionsfunktion“ übernehmen kann (S. 559). Was Dinkel geradezu mustergültig für Soziolog:innen vorführt, ist die einst von Roland Barthes mit Bezugnahme auf ein japanisches Sprichwort bewunderte Fähigkeit, aus einer einzigen Sojabohne (hier aus der Textsorte der Danksagung) eine ganze Landschaft herauszulesen.

Auch Brigitte Bargetz und Nina Elena Eggers beobachten Kommunikation, tun dies in ihrem Aufsatz „Affektive Narrative: Theorie und Kritik politischer Vermittlungsweisen“, der unlängst von der Politischen Vierteljahresschrift veröffentlicht wurde, jedoch weniger, um soziale Ordnungen erkennbar zu machen, als vielmehr in der Absicht, zentrale Modalitäten der Vermittlung von Politik zu identifizieren. Auf der Höhe zeitgenössischer Praxissoziologie wollen die beiden Politologinnen affektive Narrative „als zugleich Politik anleitende und Politik legitimierende Praktiken“ verstehen (S. 221). In ihrer Funktion als soziale Praktiken bewirtschaften solche Narrative eine Trias von Beziehungen, in der sich Erzähler:innen, Erzählung und Publikum wechselseitig affizieren. Politiktheoretisch gewinnt der Sachverhalt reziproker Affizierung, der in der Narratologie schon länger geläufig und grundlegend für die bereits von Spinoza konzipierte, frühneuzeitliche Machttheorie[2] gewesen ist, seine volle Bedeutung allerdings erst durch die weitere These, „dass affektive Narrative einen zentralen Vermittlungsmodus im Politischen bilden“ (S. 223).

Zunächst bleibt noch offen, was die beiden Autorinnen näherhin unter dem ‚Politischen‘ verstehen. Sie spezifizieren ihren Punkt dann aber gesellschaftstheoretisch mit der Behauptung, affektive Narrative seien sowohl „Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse“ als auch „eine in gesellschaftliche Verhältnisse intervenierende Praxis“ (Ebd.). Klar ist damit, dass sie das Politische als einen Schauplatz von Affizierungen fassen wollen, sich mithin von idealisierenden Theorien absetzen, die politische Kommunikation sei es – mit Habermas – als Diskurs rationaler Konsensbildung, sei es – mit Luhmann – als Erzeugung kollektiv verbindlicher Entscheidungen begreifen. Wird politische Verständigung in diesen liberalen Theorien als ein primär propositionales, d.h. als ein auf Argumente rekurrierendes Verfahren gedacht, heben Bargetz und Eggers in ihrer Gegenrede darauf ab, dass ein unverkürzter Begriff politischer Vermittlung nicht-argumentative, namentlich narrative Modalitäten einzubeziehen hat, womit die affektive Dimension politischer Aushandlungen ins Spiel kommt.

Im Anschluss an die Arbeiten von Paul Ricoeur, der gegen die strukturalistische Konzeption von Narration die vornehmlich identitätsbildende Funktion von Erzählungen herausgearbeitet hat, und an Hannah Arendt, die Erzählungen bekanntlich die Fähigkeit zuschrieb, einen öffentlichen Raum aufzuspannen, „in dem Subjekte handelnd in Erscheinung treten und sich verstehend die Welt erschließen“ (S.225), plädieren Bargetz und Eggers für eine Verschiebung des analytischen Fokus. Ihre Narratologie in affektpolitologischer Absicht soll sich weniger auf die Abbildung von Welt durch die erzählerische Verfertigung eines Narrativs, d.h. einer „story“, konzentrieren, als „Erzählungen und Erzählen“ vielmehr als „Teile politischer Subjektkonstitution“ ausweisen (Ebd.). Wird Narration demgemäß als Praktik performativer Subjektivierung verstanden, tritt nicht nur zutage, dass Erzählung ein Medium bereitstellt, in dem sich Personen individuieren, vielmehr wird auch deutlich, dass Narrative „konstitutiv für politische Kollektive“ sind (S. 226). Politische Wirksamkeit gewinnen Erzählungen folglich dadurch, dass sie eingebettet in gesellschaftliche Kontexte „welt- und selbsterschließend“, also hermeneutisch operieren und „zugleich“ auch „(Kollektiv-)Subjekte“ hervorbringen (Ebd.). Folglich kommt ihnen sozialontologische Relevanz zu.

Zudem offenbart sich in der besonderen Fähigkeit von Narrativen, Ereignissequenzen zeitlich zu ordnen, was impliziert, dass sie unter Umständen auch Einsicht in Kausalitäten beanspruchen, Bargetz und Eggers zufolge ihr Status „als politische Praxis“: „Narrationen tragen zur (selektiven) Vergegenwärtigung von Vergangenem und Imagination von Zukünftigem, ebenso wie zur Selbstvergewisserung und politischen Legitimation bestimmter Handlungen und Entscheidungen bei.“ (S. 227). Auch wenn das Autorinnenduo betont hatte, nicht vornehmlich mit dem repräsentationalen Leistungsvermögen von Erzählungen befasst zu sein, weil sie Wirklichkeiten weniger abbilden als vielmehr konstruieren, entgeht den Politologinnen nicht, dass Narrative dann Legitimationsfunktionen übernehmen, wenn sie im Modus des Erzählens von Geschichten tatsächlich Vergangenheiten oder mögliche Zukünfte repräsentieren.

Wer Erzählungen attestiert, sie könnten Welt- und Selbstverhältnisse etablieren, sowohl individuelle als auch kollektive Subjekte performativ erzeugen und durch die Vergegenwärtigung vergangener wie zukünftiger Sachverhalte politisches Handeln rechtfertigen, bringt damit liberale Rationalitäskonzepte durchaus noch nicht in Verlegenheit. Liberale Theorien politischer Willensbildung können ohne Weiteres einräumen, dass Narrative zu vernünftiger Konsensfindung beitragen oder die Verbindlichkeit einer politischen Entscheidung mit Plausibilitäten ausstatten, die dem Publikum deren Akzeptanz erleichtern. Aus diesem Grund wird die von den Autorinnen reklamierte „Offenheit“ ihres narrativistischen Zugriffs für „nichtrationale Momente“ des Politischen erst in der expliziten Ambition greifbar, „die affektive Wende mit der narrativen Wende“ in den Kultur- und Sozialwissenschaften zu verschränken. Um dieser Verschränkung willen müssen Bargetz und Eggers allerdings „die Narrativität von Affekten“ (S. 231) behaupten. Sie vertreten die keineswegs selbstverständliche Auffassung, so fluide, polymorphe und schwer greifbare Phänomene wie individuelle und kollektive Affektzustände seien „Teil und Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse und werden nicht zuletzt auch narrativ hervorgebracht“ (Ebd.). Wie steht es um die Überzeugungskraft dieser Behauptung, die grundlegend für das gesamte Unternehmen ist, das Bargetz und Eggers in ihrem Aufsatz entfalten?

Dass es Texte gibt, die Affekte induzieren, ist kaum zu bestreiten. Schon ein x-beliebiger Leitartikel kann eine Leser:in in Rage bringen. Freilich wird es im Regelfall ein propositionaler Gehalt sein, d.h. ein eigener Überzeugung widersprechendes Argument, das die affektive Turbulenz auslöst. Weil ein Leitartikel nicht zwingend narrativ daherkommt, sondern diskursiv angelegt ist, könnte der Einwand lauten, solche Textsorten seien kein gutes Beispiel. In vielen Fällen spielt Narration bei Meinungsäußerungen eine untergeordnete Rolle. Versucht man in einem alternativen Gedankenexperiment durchzuspielen, wie ein Narrativ Affekte hervorbringen könnte, so wird es bei positiven Affekten das Einverständnis mit dem Erzählten und womöglich auch Sympathie für die Erzählerin sein, also eine zunächst doch wieder kognitiv eingefärbte Stellungnahme. Und bei negativen Affekte wird es sich umgekehrt um den wiederum propositionalen Akt einer Ablehnung handeln, etwa unter dem subjektiven Eindruck, die in der Erzählung ausgebreiteten Sachverhalte seien inkorrekt dargestellt. Denkbar ist außerdem, dass Form wie Sprache der Narration einen affektiven Widerwillen auslösen, was bei Lichte besehen heißt, dass ein ästhetisches Urteil zumindest an der affektive Reaktion beteiligt ist. Also scheint einiges dafür zu sprechen, dass sprachliche Äußerungen Affekte nicht hervorbringen, sondern eher auslösen. Da es die Autorinnen jedoch bei der Behauptung belassen, Affekte würden „nicht zuletzt narrativ hervorgebracht“, bleibt im Unklaren, wie Affekterzeugung kraft Narration tatsächlich vonstattengehen könnte, ohne dass propositionale Gehalt intervenieren. Man wünschte sich deshalb eine detailliertere Phänomenologie der Affektinduzierung durch Narration, um sich der für den Argumentationsgang ausschlaggebenden Pointe der Politolog:innen vorbehaltlos anschließen zu können. Eva Illouz hat ihrem Buch Undemokratische Emotionen mit einer ganzen Serie konkreter Fallstudien ein in der Tat eindrucksvolles Beispiel dafür geliefert, wie sich Affekte narrativ überformen und für politische Positionierungen funktionalisieren lassen. Ihre ebenso materialreiche wie feinkörnige Analyse ressentimentaler Affektsubstrate, welche die israelische Gesellschaft der Gegenwart (schon vor den Ereignissen des 7. Oktober) polarisieren, kommt zu aufschlussreichen Einsichten, ohne sich auf die abstrakte und kontra-intuitive These einer vermeintlichen Narrativität von Affekten stützen zu müssen.[3]

Nicht minder dunkel ist die zweite These, wonach Affekte „Teil und Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse“ seien. Was macht, so die naheliegende Rückfrage, Affekte wie Zorn, Empörung oder Wut denn zu einem „Teil und Ausdruck“ sozialer Gegebenheiten? Soll mit diesem Befund mehr und informativeres als die triviale (selbstverständlich immer richtige) Behauptung aufgestellt werden, dass solche Empfindungen stets situiert, also etwa durch soziale Interaktionen, wenn nicht verursacht, so doch mitbedingt sind? Und wie wäre zu erklären, dass die Person X affektiv anders auf den Sturm des Washingtoner Kapitols reagiert als die Person Y? Sind Affekte Teil und Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse müsste eine Affektenlehre des Politischen eigentlich in der Lage sein, die ungeheure Vielgesichtigkeit und Volatilität individueller wie kollektiver Affektzustände aufzuklären.

Es mag der Umfangsbegrenzung eines Aufsatzes geschuldet sein, dass sich Bargetz und Eggers damit bescheiden, kurzerhand festzustellen, Affekte seien „kein subjektiver Ausdruck eines inneren Kerns“ (S. 231). Doch überwindet man fragwürdige Dualismen wie Subjekt/Objekt, Innen/Außen, Affektion/Kognition, Gefühl/Verstand bestimmt nicht, indem man sie schlicht vom Tisch fegt. „Affekte verbinden und bewegen“, heißt es im Anschluss an die apodiktische These, „sie verweisen auf ein ‚Gefüge‘ […], das wirkmächtige, jedoch nicht linear wirkende Kräfte umfasst und damit auch Atmosphären und Stimmungen mit meint“ (S. 231). Unversehens ist hier von anonymen Kräften eines Gefüges die Rede, die Affekte in der Gestalt atmosphärischer Gestimmtheit mit Wirkmacht versorgen.

Überzeugender als der Versuch, affekt- und letztlich krafttheoretisch zu explizieren, was unter affektiven Narrativen zu verstehen wäre, fällt die empirische Anwendung der bereitgestellten Analyseinstrumente auf die Aussagen eines Interviewbandes aus, den Björn Höcke 2018 unter dem Titel Nie zweimal in denselben Fluss veröffentlicht hat. In sorgfältiger Analyse arbeiten die Autorinnen heraus, „wie Höckes Erzählung narrative Stimmungslagen aufgreift, politische Projektionsflächen anbietet, Identifikationen anregt und Zugehörigkeiten verhandelt und wie er sich als politischer Erzähler dabei affektiv selbst entwirft und sich selbst sowie seine Geschichten für das Publikum zugänglich macht“ (S. 237). Sinnfällig wird, dass dieser politische Psychagoge sein auf Affizierung zielendes Narrativ als die „emotionale Geschichte eines selbstlosen, sich dem Wohl der Nation aufopfernden Mannes“ präsentiert, „der sich in die demokratische Arena der Politik begibt, um mit der AfD für ‚sein Volk‘ einzustehen“. Schlagend verdeutlichen die Autorinnen, welche hetero-normativen Affizierungsstrategien Höcke nutzt, um sich „im doppelten Sinne als Mann des Volkes und als Mann des Volkes“ in Szene zu setzen. „Anteilnahme und Stärke, aber auch Verantwortungsgefühl und Entschlossenheit“ soll vermittelt und damit Zustimmungsbereitschaft abgerufen werden. „Affektiv nahegelegt“, so die gut begründete Schlussfolgerung, wird eine „Tendenz zur politischen Entscheidungsgewalt“, mithin ein Narrativ lanciert, das „schleichend autoritäre Politiken normalisiert und legitimiert“ (S. 240).

Nicht nur Menschen, auch Theorien migrieren. Diese Migrationsbewegungen stoßen selten auf Widerspruch, erst recht lösen sie keine affektiven Erregtheiten in größeren Öffentlichkeiten aus. Vielmehr spricht das Phänomen der Theoriemigration ein spezielles Interesse an, das gelegentlich als etwas abseitig belächelt, mitunter sogar beargwöhnt wird. Doch wenn für theoretische Werke gilt, was allemal auf literarische Werke zutrifft, dass nämlich ihre Wirkungsgeschichte nicht separiert betrachtet werden kann, da sie immer auch Auskunft über deren Gehalt erteilt, wird die bloß formale Unterscheidung zwischen Theorie einerseits und deren Wirkungsgeschichte andererseits porös. Deshalb sei abschließend in ein paar Sätzen auf einen Aufsatz von Carl Antonius Lemke Duque hingewiesen, der unter der Titel „Typical Protestant Mistakes“ in der druckfrischen Ausgabe von Modern Intellectual History erschienen ist. Lemke Duque leuchtet mit geradezu einschüchternder und polyglotter Gelehrsamkeit „The Influence of the Cologne School of Sociology in early Francoist Spain“ aus. Man lernt, wie die frühe, noch von Helmuth Plessner geprägte Kölner Soziologie von der franquistischen Gesellschaftswissenschaft sowohl vor wie nach dem Spanischen Bürgerkrieg aufgegriffen wurde, um einen Sonderweg Spaniens zu behaupten, in dessen Kultur- wie Religionsgeschichte weder die Renaissance noch die Reformation, sondern allenfalls ein gegenreformatorische Katholizismus Spuren hinterlassen habe. Postuliert wird gegen Max Webers Konzept von Moderne und unter Einbeziehung von Motiven aus Max Schelers materialer Wertethik eine soziologische Wirklichkeitswissenschaft, die Gesellschaft als „a Catholic community of wills“ konzipiert.[4] Unter der klerikal-faschistischen Diktatur Francos fällt der Soziologie der Auftrag zu, in eins mit der gesellschaftswissenschaftlichen und rechtsphilosophischen Begründung einer derartigen Willensgemeinschaft „Spain’s historical-cultural singularity“ (S. 830) einsichtig zu machen. Die Soziologie Webers wird in diesem Kontext zum Objekt einer „ideological stigmatization“, die strikt alle Formen eines nicht-katholischen Verständnisses von Universalismus als „stealthy cultural colonization“ zurückwies (S. 831).

Ganz im protestantischen Geist des Weberschen Ethos höchster Versachlichung klingt Lemke Dunques Text mit einer Danksagung aus, die knapp ist: „I would like to thank the anonymous readers and editors of Modern Intellectual Histroy for their valuable feedback that helped to improve this essay.“

  1. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, München 1919, S. 13.
  2. Dazu instruktiv Martin Saar, Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, Berlin 2013.
  3. Siehe Eva Illouz, Undemokratische Emotionen. Das Beispiel Israel, aus dem Englischen von Michael Adrian, Berlin 2023.
  4. Auch der bereits 1930 beginnenden, spanischen Rezeption Hans Freyers widmet Lemke Dunque längere, außerordentlich erhellende Ausführungen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Affekte / Emotionen Epistemologien Geschichte der Sozialwissenschaften Macht Politische Theorie und Ideengeschichte Wissenschaft

Martin Bauer

Martin Bauer, M.A., ist Philosoph, Literatur- und Religionswissenschaftler. Er war bis 2022 geschäftsführender Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Portals Soziopolis am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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