Sabine Ritter | Essay |

Vom Verantwortungssubjekt zum Konsumsubjekt

Kleine Beobachtungen zur Ökonomisierung des Sozialen im Schulbuch

„Ein Schulbuch“, so die Web-Enzyklopädie Wikipedia, „ist ein Lehrbuch, [...] mit dessen Hilfe der Schüler den Unterrichtsstoff lernt. [...] Es enthält Lehrstoff und -materialien in fachlich korrekter, aber altersgemäßer und didaktisch aufbereiteter Form. Das bedeutet meist eine vereinfachte Darstellung, die wissenschaftlich noch kontrovers diskutierte Fragen der herrschenden Lehrmeinung gemäß darstellt“.[1] Mehr als das: Ein Schulbuch ist innerhalb des Bildungsdispositivs[2] ein Instrument, das nicht nur sedimentierte wissenschaftliche, sondern überhaupt gesellschaftliche „herrschende Lehrmeinungen“ ventiliert. Schulbücher sind Medien hegemonialer Diskurse par excellence. Sie beinhalten ein Höchstmaß an im Hinblick auf Konsens erzeugtes, auf Dauer gestelltes Wissen[3], einen common sense über ideale Lebensweisen. In die Produktion dieses Wissens sind die politische Regierung (in Gestalt z.B. der Kultusbehörden) und pädagogische wie fachliche Expertise einbezogen; schließlich werden in aufwendigen Verfahren und durch zahlreiche Instanzen hindurch auf Basis ebenso komplex errichteter Lehrpläne die für essenziell und verbindlich erachteten Lerninhalte festgeschrieben.[4] Zugleich und vor dem Hintergrund dieser hohen Allgemeinverbindlichkeit des „Schulbuchwissens“ (Höhne) geben Schulbücher grundsätzliche, normative Anweisungen, sind folglich Subjektivierungsinstrumente, denen die Schüler_innen nahezu alternativlos unterworfen sind – gleichviel, ob sie deren Abbildungen und Inhalte nun ablehnen oder annehmen.[5]

Schulbücher, so also die Grundannahme der hier angestellten Überlegungen, sind Werkzeuge zur Herstellung einer „Mitte“ als normale und normative, zentrale und erstrebenswerte Identität der deutschen Gesellschaft. Wollte man die immense Bedeutung der Mitte erklären, könnte man mit Aristoteles beginnen und (vorläufig) damit enden, dass sich die überwältigende Mehrheit der Deutschen der Mittelschicht zugehörig fühlen will. So lässt sich eine „bis heute andauernde[...] historische[...] Kontinuität in der Anziehungskraft der gesellschaftlichen Mitte“ konstatieren.[6] Diese „Mitte“ betrachte ich diskurstheoretisch als Ergebnis von Prozessen, in denen Disziplinierung, Normierung und ein konstitutives Außen – in diesem Fall ein „Oben“ oder „Unten“, von dem die Mitte sich abgrenzt – zur Subjektwerdung als politische Identität führen.[7] Hieran anknüpfend möchte ich anhand von zwei bundesdeutschen sozialkundlichen Schulbüchern, die hegemoniales Wissen unterschiedlicher Dekaden konservieren, exemplarisch Bauteile der gesellschaftlichen Mitte im (West-) Deutschland der 1970/80er-Jahre beziehungsweise der 2000er-Jahre rekonstruieren – durchaus im Bewusstsein der begrenzten Generalisierbarkeit der Befunde.

Ausgangspunkt ist das erste Kapitel eines noch immer gebräuchlichen Schulbuchs für die gymnasiale Mittelstufe: Anhand von Lehrmaterial für das Fach „Politik – Gesellschaft – Wirtschaft“ (PGW, Hamburg) beziehungsweise „Politik – Wirtschaft“ (PW, Niedersachsen) versuche ich zu umreißen, welche Themen und Aspekte in Lehrwerken der „Gesamtschule[n] der Mittelschichten“ – so umschreibt Paul Nolte Gymnasien – die gesellschaftliche Wirklichkeit der (und für die) Mitte formen.[8]

Jugendliche als Konsumsubjekte

Folgt man der Annahme, dass Schulbücher die Schüler_innen ‚dort abholen, wo sie stehen’, also unmittelbar deren Alltagsinteressen und -fragen anzusprechen suchen, ist festzustellen, dass das 2006 erschienene Buch Politik und Wirtschaft 8. Gymnasium Niedersachsen Jugendliche zu allererst als „Konsumsubjekte“[9] ansieht: Das Kapitel „Jugendliche – (selbst)bewusste Konsumenten?“ etwa wird auf einer Doppelseite mit Abbildungen zur „Bravo-Studie Marken und Trends“, einer Grafik der Postbank zum „Einkommen der Kids“ und dem konsumkritischen Plakat der (im Schulbuch ungenannten) Künstlerin Barbara Kruger „I shop therefore I am“ (1987) eingeleitet.

Barbara Kruger, "I shop therefore I am"
Barbara Kruger, "I shop therefore I am"

Jugendliche stehen als Konsument_innen im Mittelpunkt und „bestimmen heute selbstbewusst mit, welche Anschaffungen getätigt werden“ (6). War die bürgerliche Kultur ursprünglich von einer tiefen Skepsis gegenüber dem Konsum bis hin zu dessen Ablehnung gekennzeichnet, so ist er für das heutige Subjekt „zentrales Strukturierungsprinzip seiner Persönlichkeit“.[10] Unser Schulbuch bestätigt diesen Eindruck nicht nur, es reproduziert ihn: Teenager erzielen Einkommen, verfügen über Vermögen und erscheinen als „interessante Zielgruppe für Unternehmen“ (7). Es gilt daher, sie über Bedürfnisse, Werbung, Marken, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit zu informieren sowie zur kritischen Reflexion anzuleiten – noch bevor irgendein anderes Thema aufs Tapet kommt, das im Fach Politik – Gesellschaft – Wirtschaft behandelt werden könnte. Der Jugendliche im beginnenden 21. Jahrhundert ist als homo oeconomicus ein Konsumsubjekt. Der Bildungsauftrag sieht zunächst vor, ihn mit Informationen und Anleitungen zu verantwortungsvollem Kaufen und Verbrauchen zu versorgen.

Das Gymnasiallehrbuch verknüpft die Affirmation dieser Subjektivität zunächst mit zwei zentralen Dimensionen mittelschichtiger Lebensführung. Zum einen verweist die Überschrift „Jugendliche – (selbst)bewusste Konsumenten?“ skeptisch auf Bewusstsein, Reflexivität, Informiertheit und Urteilskraft. Zum anderen appelliert sie an Selbstbewusstsein im Sinne von Autonomie und Eigenverantwortung. Sowohl der Reflexionsimperativ, dessen zentrale Topoi hier Informationspflicht und Kritikfähigkeit sind, als auch das Ideal des autonomen Subjekts, das ein selbstbestimmtes Leben nach eigenen Maßstäben führt[11], kennzeichnen die ideale Lebensführung. Diese Aspekte normativer Subjektivität gelten in Deutschland stillschweigend als Maßstab – werden aber nicht als universelle Werte präsentiert: In einer tabellarischen Übersicht zu unterschiedlichen Grundbedürfnissen werden Jugendliche aus Tansania, Kuba, Thailand und Brasilien vorgestellt, die als Antworten auf die Frage nach ihren dringendsten Wünschen eine Ausbildung, Wasser, Kleidung, Gesundheit und, darüber hinausgehend, „ein Auto, ein Haus und ein gutes Ansehen“ nennen. Die Repräsentantin Deutschlands hingegen spricht von ihren Bedürfnissen, „viel von der Welt [zu] sehe[n]“ und „das Leben [zu] genießen“: „Ich möchte so leben können, wie ich das will, und nicht so, wie es mir vorgeschrieben wird“ (8). Derart individualistisch und an Autonomie interessiert zu sein, so die unterschwellige Mitteilung, kann sich nur leisten, wer physische Bedürfnisse sowie solche nach Sicherheit und Geborgenheit gar nicht mehr problematisieren muss. Die deutsche Lebenswelt stellt sich als eine der befriedigten Grundbedürfnisse dar, ihr stereotypisiertes Außen – Kuba, Brasilien, Tansania, Thailand – dient als Armutsreferenz. Die bundesrepublikanische Mitte positioniert sich also über Abgrenzung nach außen; ein innerdeutscher Vergleich nach oben oder unten findet nicht statt.

Hier eröffnet sich nun die dritte Dimension normaler Lebensführung, die das Eingangskapitel dieses Lehrbuchs aufruft: die Frage nach dem ökonomischen Kapital. Die Voraussetzung für autonome und reflektierte Subjektivitäten scheint eine hinreichende Ausstattung mit finanziellen Ressourcen zu sein. Undifferenziert wird die adressierte Jugend als zunehmend vermögend (7), als konsumfreudig (9) und markenfixiert (12f.) dargestellt. Schüler_innen aus ärmeren Familien werden nicht thematisiert; Ungleichheit gibt es, wie erwähnt, im globalen, nicht aber im nationalstaatlichen Kontext. Besonders frappiert diese Ausblendung sozialer Ungleichheit im Zusammenhang mit einer als „Lerneinheit: Methode“ etikettierten Anregung, innerhalb der eigenen Klasse oder Schule eine Befragung zum Thema Taschengeld durchzuführen: „Dabei könnt ihr zum einen die Höhe des Taschengeldes ermitteln und zum anderen, wofür es ausgegeben wird“ (16f.). Die Möglichkeit, dass eine solche Befragung für manche Schüler_innen eine peinliche Zumutung wäre, wird nicht erwogen.

Unter der Hand geht das Lehrbuch – durchgängig, wie eine vollständige Durchsicht beweist[12] – von einem Publikum aus, für das finanzielle Fragen unproblematisch sind, weil jegliche ökonomische Ausstattung komfortabel verfügbar ist. Die „Mitte“, die schon das Einstiegskapitel in Politik und Wirtschaft 8 gleichermaßen adressiert wie konstruiert und reproduziert, ist ein Ort, an dem wirtschaftliche Ebenmäßigkeit herrscht, während ein „Oben“ oder „Unten“ jenseits der Ränder des Diskurses bleibt. Als konstitutives Außen müssen vielmehr Nicht-Wohlstandsländer herhalten. Nur innerhalb der so konstruierten deutschen Prosperität, die gleiche Chancen für alle suggeriert, können die von den Konsumsubjekten erwünschte Autonomie und verantwortungsvolle Reflexivität ja auch ihre volle Wirkung entfalten.

Jugendliche als Verantwortungssubjekte

Vor der Folie dieser punktuellen Bestandsaufnahme gegenwärtiger Normalitätsformierung soll im nächsten Schritt in einem möglichst äquivalenten Lehrbuch[13], nämlich Sozialkunde für Gymnasien 9/10, die Konstruktion der gesellschaftlichen Mitte zu Beginn der 1980er-Jahre betrachtet werden – die Handlung spielt folglich noch vor der deutschen Wiedervereinigung im Jahrzehnt der erfolgten Bildungsexpansion sowie des noch vergleichsweise generösen Wohlfahrtstaates. Auch hier werde ich mich zunächst mit dem ersten Kapitel als ‚Türöffner‘ zum Fach Sozialkunde befassen.

Überschrieben ist das Einführungskapitel mit „Der Jugendliche wird volljährig“. In diesem Zusammenhang geht es um Aspekte elterlicher Sorge, mithin die rechtliche Einschränkung jugendlicher Autonomie, Rechts- und Geschäftsfähigkeit sowie Deliktsfähigkeit und Strafmündigkeit. Es kommt also das gesamte Ausmaß jugendlicher Verantwortlichkeit in einem bürgerlich-rechtlichen Sinne zur Sprache, Jugendliche werden „als Vertragspartner [...] mit gesetzlichen Vertreter[n]“ (7) dargestellt, und zwar als „minderjährig, [...] nicht minderwertig“. Die in diesem Kapitel vor allen anderen Dimensionen beschriebene Autonomie, die sich aus dem Grundrecht auf freie Persönlichkeitsentfaltung ableitet (9), wird ganz als Zunahme von Rechten im Wege der Volljährigkeit dargestellt, obschon sie mit bestimmten Pflichten korreliert. Freiheit und Selbstbestimmung stellt der Autor als Grundierung einer aufgeklärten staatsbürgerlichen Haltung dar.

Das Zusammenspiel von Rechten und Pflichten gipfelt zum Ende des ersten Kapitels in der Diskussion „Jugendliche und Alkohol“. Der Abschnitt warnt eindringlich vor den Gefahren dieser „Volksdroge“, indem er den Reflexionsimperativ, also die Aufforderung, informiert und kritisch zu sein, mit einem Autonomieappell verknüpft, der unter Umständen auch eine radikale Abgrenzung von den Peers einfordert: „Dazu bedarf es [...] echter Willensstärke. Man muß auch einmal berechtigt ‚Nein’ sagen können. Man muß sich notfalls sogar von der Gruppe lösen“ (ebd., 13f.). Reflexion und Autonomie sind eingewoben in eine Textur aus bürgerlichen Rechten und Pflichten – sich selbst, anderen und dem Staat gegenüber. Die hier entworfene zentrale Subjektivität lässt sich als eine der Verantwortlichkeit bezeichnen. Jugendliche zu Beginn der 1980er-Jahre werden als homines politici adressiert, die Autonomie als Selbstbestimmtheit des mündigen Verantwortungssubjekts begreifen und leben.

Freilich ist ökonomisches Kapital als dritte Dimension idealer Lebensführung in der Mitte, blättert man in Sozialkunde für Gymnasien weiter, auch in den 1980er-Jahren von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Erwähnung findet es zuerst im Abschnitt „Berufswahl“. Bereits der Einleitungstext zu diesem Kapitel stellt die deutliche Aufforderung, sich „Klarheit über die eigenen dauerhaften Interessen und Fähigkeiten“ zu verschaffen, vor den Hintergrund eines schon damals schwierigen Arbeitsmarkts, der – anders als das in der als Vergleichsfolie dienenden DDR der Fall ist – keine Arbeitsplatzgarantie bieten kann. Die grundgesetzlich verbriefte Freiheit der Arbeitsplatzwahl „schließt das Risiko der Arbeitslosigkeit ein“ (ebd., 21), das allenfalls sozialstaatlich abgefedert werden kann. Gerade im Hinblick auf Bildungs- und Berufschancen (und trotz der „sogenannten Bildungsexplosion [...] seit Ende der sechziger Jahre“ existiert, so das Schulbuch, hinsichtlich der Kategorien „soziale Herkunft“, „Geschlecht“ sowie „Region“ eine Ungleichheit, die unmittelbare Auswirkungen auf Studienentscheidung beziehungsweise Studienverzicht und damit auf die Lebenschancen habe (ebd., 24). Die noch vollständig innerhalb nationaler Grenzen gedachte Mitte[14], die hier aufgerufen und konstruiert wird, ist einerseits aufstiegsorientiert, andererseits jederzeit und strukturell mit sozioökonomischen Unsicherheiten konfrontiert. Sie weiß, dass die Verwirklichung der Chancengleichheit noch aussteht.

Ökonomisierung des Sozialen im Schulbuch – Versuch einer Annäherung

Liegt eine strukturell bedingte (und nicht etwa individuell zu verantwortende) Ungleichheit der „Lebenschancen“ vor, sind die „betroffenen Individuen, Gruppen und Gesellschaften“ beunruhigt.[15] Der Vergleich der eigenen aktuellen Lage mit einer eigenen früheren Position oder aber mit derjenigen anderer, die besser oder schlechter als man selbst gestellt sind, dient den Einzelnen zur Selbstverortung: „Wer in solchen zeitlichen oder sozialen Vergleichen den Kürzeren zieht, ist geneigt, die Gerechtigkeitsfrage zu stellen“.[16] Diese Gerechtigkeitsfrage, die Gründe für und Legitimationen von sozialer Ungleichheit sucht, drängt sich offenkundig in jüngerer Zeit vermehrt auf.[17] Im Epizentrum der Debatten stehen freilich nicht die Abgehängten, die Unterschichten, die Überflüssigen, sondern die gesellschaftliche Mitte. Sie ist der soziostrukturelle Ort, von dem aus Wissenschaftler_innen diskutieren und analysieren, Journalist_innen kommentieren oder PEGIDA-Anhänger_innen demonstrieren.

Dass ihre Ausplünderung, Prekarisierung und doch auch Privilegierung – oder, neutral formuliert, ihre „Irritationen“[18] – gerade in den 2000er-Jahren zu einem derart brisanten Thema wurden, erstaunt zunächst vor dem Hintergrund des obigen diachronen Vergleichs. Irritationen und soziale Ungleichheit konzediert ja allein das alte Sozialkundebuch; das zeitgenössische PGW-Buch zeichnet hingegen das Bild einer homogenen und ökonomisch stabilen deutschen (Mittelschichts-)Gesellschaft, in der Reflexionsimperativ und Autonomie zuvörderst entlang verantwortungsvollen Konsums durchdekliniert werden. Die Thematisierung von Ungleichheit und Unsicherheit hätte man vor dem Hintergrund des angedeuteten Diskursverlaufs doch eher in einem aktuellen Lehrbuch vermutet. Obwohl wir es hier mit nicht mehr als einem explorativen Blick in zwei zwar systematisch eng verwandte, aber nicht zuletzt vor dem Hintergrund des bundesdeutschen Föderalismus und der kultuspolitischen Gegebenheiten schwer verallgemeinerbare Schulbücher zu tun haben, möchte ich am Ende meiner Überlegungen einen Erklärungsversuch andeuten.

Das Schulbuch von 1983 entstammt einer Zeit, in der Aufstiegszuversicht und der „Traum immerwährender Prosperität“ gerade, nämlich Mitte der 1970er-Jahre, einen massiven, zutiefst irritierenden Dämpfer erlitten hatten.[19] Dem scheint der Umstand Rechnung zu tragen, dass soziale Ungleichheit als Gefährdung sowohl der ökonomischen Ausstattung der Mitte als auch ihrer Aspirationen ausdrücklich zum Thema wird. Das mündige staatsbürgerliche Subjekt, wie es das alte Sozialkundebuch mit all seinen Rechten und Pflichten als Normalität zeichnet, ist aufgefordert, angesichts solcher Unsicherheiten seine Position zu finden und, zum Beispiel hinsichtlich der eigenen Berufswahl, informiert und überlegt zu handeln.

Diese Beobachtung verweist darauf, dass seit längerer Zeit die „Ökonomisierung des Sozialen“ diskutiert wird.[20] Um es mit einem äußerst treffenden Modell Wolfgang Streecks[21] auf den Punkt zu bringen: Die Subjektivität, die hier adressiert und zugleich reproduziert wird, ist offenkundig die eines Kollektivs von „Bürgern, die als Staatsbürger an einen Staat gebunden sind, dem gegenüber sie unveräußerliche Bürgerrechte geltend machen können. […] Staatsbürgerliche Loyalität kann als Gegenleistung für den Beitrag des Staates zur Daseinsvorsorge […] gesehen werden“. Demgemäß habe ich von Verantwortungssubjekten gesprochen.

Das aktuelle Lehrbuch hingegen lässt sich, pointiert formuliert, als Resultat der „konsequenten Ausweitung ökonomischer Formen auf das Soziale“[22] verstehen. Es adressiert und reproduziert aufgeklärte „Konsumsubjekte[23], die sich – wiederum nach dem Modell Streecks[24] – in einer Schuldenstaatenwelt befinden, in der das Staatsvolk seine Souveränität an das Marktvolk abgetreten hat. Die Ökonomisierung des Sozialen ist, wie das Beispiel belegt, mehr als die Unterwerfung nicht-ökonomischer Systeme und Teilsysteme unter die Logik des Wirtschaftlichen auf struktureller Ebene; auch ist nicht allein das Anwenden wirtschaftlicher Kriterien auf Nicht-Ökonomisches gemeint. Vielmehr wird auf der Ebene der Subjekte die Ökonomie zum grundlegenden Konstitutionsmoment zentraler Subjektivität, mithin zum fundamentalen Muster jeglichen Wahrnehmens, Handelns und Deutens: Zumindest im Schulbuchwissen setzen sich Individuen als autonome und reflektierende Subjekte im 21. Jahrhundert nicht mehr primär über eine politische, an demokratischen Prozessen partizipierende, sondern vor allem über eine autonom und reflektierend konsumierende Identität der Gesellschaft gegenüber ins Verhältnis. Schulbücher sind deskriptiv und präskriptiv zugleich, also ein Programm im Foucault‘schen Sinne. Das den gezeigten Beispielen inhärente Programm der Ökonomisierung mit seinen Funktionen sowie seiner Virulenz sollte bei der Analyse des Schulbuchwissens deutlich geworden sein.

Dieser Beitrag ist Teil eines Soziopolis-Schwerpunkts zu Literatur und Soziologie. Weitere Texte erscheinen in Kürze.

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Schulbuch.
  2. Dass Bildung hier als Dispositiv bezeichnet wird, signalisiert, dass ihr ein komplexes Ensemble von Techniken, Strategien, Instrumenten, Artefakten, „kurz: Gesagte[m] ebensowohl wie Ungesagte[m]“ (Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 120) zugrunde liegt, ein Bündel von Machtbeziehungen, das gesellschaftliches Wissen und kulturelle Praktiken über und innerhalb von „Bildung“ generiert.
  3. Thomas Höhne, Schulbuchwissen. Umrisse einer Wissens- und Medientheorie des Schulbuchs, Frankfurt am Main 2003, S. 156f.; Simone Lässig, Wer definiert relevantes Wissen? Schulbücher und ihr gesellschaftlicher Kontext, in: Eckhardt Fuchs / Joachim Kahlert / Uwe Sandfuchs (Hrsg.), Schulbuch konkret. Kontexte – Produktion – Unterricht, Bad Heilbrunn 2010, S. 199–215, hier S. 200.
  4. Thomas Höhne / Thomas Kunz / Frank-Olaf Radtke, „Wir“ und „sie“. Bilder von Fremden im Schulbuch, in: Forschung Frankfurt. Wissenschaftsmagazin der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main 2 (2000), S. 16–25, hier S. 17f.; Felicitas Macgilchrist, Schulbuchverlage als Organisationen der Diskursproduktion. Eine ethnographische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 31 (2011), 3, S. 248–263.
  5. Zur Schulbuchwirkung siehe z.B. die verschiedenen Beiträge in Jörg Doll / Keno Frank / Detlef Fickermann / Kurt Schwippert (Hrsg.), Schulbücher im Fokus. Nutzungen, Wirkungen und Evaluation, Münster u.a. 2012.
  6. Paul Nolte / Dagmar Hilpert, Wandel und Selbstbehauptung. Die gesellschaftliche Mitte in historischer Perspektive, in: Herbert-Quandt-Stiftung (Hrsg.), Zwischen Erosion und Erneuerung. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland. Ein Lagebericht, Frankfurt am Main 2007, S. 11–101, hier: 25.
  7. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994; Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, 2. Aufl. Weilerswist 2010.
  8. Paul Nolte, Zwischen Erosion und Erneuerung. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland, in: Herbert-Quandt-Stiftung (Hrsg.), Die Mitte als Motor der Gesellschaft – Spielräume und Akteure, Bad Homburg v.d. Höhe 2007, S. 12–23, hier S. 18. Das Fach PGW respektive PW ist in seiner gegenwärtigen Struktur seit 2006 in Niedersachsen, seit 2011 in Hamburg curricular verankert (Niedersächsisches Kultusministerium, Kerncurriculum für das Gymnasium, Schuljahrgänge 8–10, Politik-Wirtschaft, 2006, db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_gym_powi_nib.pdf; FHH Behörde für Schule und Berufsbildung der Freien und Hansestadt Hamburg, Bildungsplan Gymnasium Sekundarstufe 1, Politik-Gesellschaft-Wirtschaft 2011, www.hamburg.de/contentblob/2373332/data/pgw-gym-seki.pdf). Das hier zunächst interessierende Schulbuch (Ellen Rudyk (Hrsg.), Politik und Wirtschaft 8. Gymnasium Niedersachsen, Berlin 2006, Zitate im Folgenden per Seitenzahl im Text) erschien zum Schuljahr 2006/2007 und ist seither in beiden Bundesländern in Gebrauch. Politik und Wirtschaft 8. Gymnasium Niedersachsen ist das Lehrwerk für das erste Unterrichtsjahr dieses Fachs an Gymnasien – der Einrichtung, deren Besuch und Abschluss zunehmend zur Abgrenzung von den unteren Schichten notwendig erscheint (Christoph Burkhardt et al., Mittelschicht unter Druck?, Gütersloh 2013, S. 51). Es stellt also die Einführung in gesellschaftliches und ökonomisches Wissen für 13- bis 14-jährige Schüler_innen aus Mittelschichtsfamilien in einer Metropole wie auch in einem Flächenland dar und ist als einigermaßen typisch für dieses curriculare Konzept zu bezeichnen.
  9. Andreas Reckwitz, Das Subjekt des Konsums in der Kultur der Moderne. Der kulturelle Wandel der Konsumtion, in: Karl-Siegbert Rehberg und Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hrsg,), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München, Teilband 1 und 2, Frankfurt am Main 2006, S. 424–436.
  10. Ebd., S. 433.
  11. Beispiele für den Reflexionsimperativ finden sich bei Rudyk, Politik und Wirtschaft 8, im ersten Kapitel: S. 10–12, 18f., 22f., 26–29, für das Ideal des autonomen Subjekts ebd., S. 6–9. Diese beiden Dimensionen idealer Lebensführung ziehen sich durch das gesamte Schulbuch, dessen vollständige Untersuchung den Rahmen der vorliegenden „Probebohrung“ weit überschreiten würde. Nicht berücksichtigt werden an dieser Stelle deshalb weitere zentrale Dimensionen wie Geschlecht, Körperlichkeit, Leistungsethos und Planungsimperativ.
  12. Die weiteren Abschnitte behandeln die Marktwirtschaft, den Rechtsstaat, politisches Engagement und Kommunalpolitik sowie Wirtschaften in Haushalt und Betrieb – in keinem dieser Kapitel findet soziale Ungleichheit Erwähnung. Eine ausführliche Analyse ist Gegenstand meines im Entstehen befindlichen Papers, das den Arbeitstitel „Das Verschwinden der Ungleichheit: Zur Konstruktion der Mittelschichten im Schulbuch“ trägt.
  13. Albrecht Pohle, Sozialkunde für Gymnasien. Klasse 9/10, Hannover 1983, Zitate im Folgenden per Seitenzahl im Text. In den 1980er-Jahren lehrte man an Hamburger Gymnasien bis zur 9. Klasse sozialkundliche Schwerpunktthemen nur im Fach Geschichte und erst in Klasse 10 das Fach Sozialkunde (Karl Dümmler, Sozialkunde in Hamburger Schulen, in: Klaus Rothe (Hrsg.), Unterricht und Didaktik der politischen Bildung in der Bundesrepublik. Aktueller Stand und Perspektiven, Opladen 1989, S. 135–148, hier S. 135); an niedersächsischen Gymnasien wurde Sozialkunde schon ab Klasse 9 unterrichtet (Günther C. Behrmann, Unterricht und Lehrerbildung im Bereich der Politischen Bildung und Sozialkunde in Niedersachsen, in: Klaus Rothe (Hrsg.), Unterricht und Didaktik, S. 177–198, hier S. 178). Dass und wie ökonomisches Wissen seinen Weg in die sozialkundlichen Lehrpläne und Unterrichtswerke gefunden hat, dass also in den 2000er-Jahren aus „Sozialkunde“ „P(G)W“ geworden ist, ist unbedingt einer eigenen Untersuchung würdig. An dieser Stelle ist zu betonen, dass das Sozialkundelehrbuch deutlich weniger wirtschaftswissenschaftliche Inhalte vermittelt (privater Konsum und private Haushalte werden gar nicht thematisiert; Kap. 12 diskutiert öffentliche Haushalte), weshalb der Vergleich der beiden Gesellschaftskundelehrbücher problematisch ist. Gerechtfertigt aber erscheint er dennoch, da diese beiden Bücher die grundlegenden Instanzen sozialkundlichen „Schulbuchwissens“ in Hamburg und Niedersachsen (gewesen) sind – den jeweiligen Curricula entsprechend das alte mit geringerer, das neue mit starker ökonomischer Stoßrichtung. Zweifellos ist dieser Wandel ein Element der an späterer Stelle angesprochenen „Ökonomisierung des Sozialen“.
  14. Anders als im PGW-Lehrbuch von 2006 findet in diesem Sozialkundebuch kein Bezug auf andere Nationen als die DDR statt. Die Mitte wird klar als westdeutsche Mitte in Abgrenzung zum sozialistischen Nachbarstaat gezeichnet.
  15. Reinhard Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt am Main 1997, S. 17.
  16. Uwe Schimank, Lebensplanung!? Biografische Entscheidungspraktiken irritierter Mittelschichten, in: Berliner Journal für Soziologie 25 (2015), S. 7–31, hier S. 9; siehe auch Nadine M. Schöneck / Steffen Mau / Jürgen Schupp, Gefühlte Unsicherheit. Deprivationsängste und Abstiegssorgen der Bevölkerung in Deutschland, SOEPpaper 428-2011.
  17. Darauf deutet zum Beispiel die immense Resonanz hin, die Thomas Pikettys Studie (Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, übers. von Ilse Utz und Stefan Lorenzer, München 2014) über die globale Entwicklung des Kapitals hervorgerufen hat; dafür spricht Göran Therborns Analyse von der Wiederkehr der soziostrukturellen Kategorie „Class in the 21st Century“ (Göran Therborn, Class in the 21st Century, in: New Left Review (2012) 78, newleftreview.org/II/78/goran-therborn-class-in-the-21st-century); davon zeugt, dass seit geraumer Zeit das Feuilleton wie auch die akademische Welt die Bedrängnis, in der sich die Mittelschichten wähnen, diskutieren, entweder diagnostisch (Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München 2008; Marc Beise, Die Ausplünderung der Mittelschicht. Alternativen zur aktuellen Politik, München2009; Cornelia Koppetsch, Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte, Frankfurt am Main 2013) oder skeptisch-distanziert (Jürgen Kaube, Die inszenierte Mittelschichtspanik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.06.2010, www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/statusangst-die-inszenierte-mittelschichtspanik-1996107.html; Olaf Groh-Samberg / Steffen Mau / Uwe Schimank, Investieren in den Status: Der voraussetzungsvolle Lebensführungsmodus der Mittelschichten, in: Leviathan 42 (2014), 2, S. 219–248), in jedem Fall aber intensiv.
  18. Marlon Barbehön / Michael Haus, Middle Class and Welfare State – Discursive Relations, in: Critical Policy Studies 9 (2015), 4, S. 473–484; Olaf Groh-Samberg / Steffen Mau / Uwe Schimank, Investieren in den Status, S. 231–236.
  19. Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1984; Uwe Schimank, Lebensplanung?!, S. 16.
  20. Ulrich Bröckling / Susanne Krasmann / Thomas Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main 2000.
  21. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012, Berlin 2013, S. 118–121, hier S. 119.
  22. Thomas Lemke / Susanne Krasmann / Ulrich Bröckling, Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung, in: Dies (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main 2000, S. 7–40, hier S. 16.
  23. Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 555–567.
  24. Streeck, Gekaufte Zeit, S. 120.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Christina Müller.

Kategorien: Kunst / Ästhetik

Sabine Ritter

Dr. Sabine Ritter ist Lektorin und Studienkoordinatorin am Institut für Soziologie der Universität Bremen. Sie lehrt und forscht zu Geschlechtersoziologie sowie zu qualitativen Methoden, insbesondere Diskursanalyse, und interessiert sich derzeit speziell für die gesellschaftliche Konstruktion der Mittelschichten.

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