Ute Tellmann | Interview |

„Die ‚Bergung‘ der modernen Existenzweisen“

Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour

Welches Latour-Buch war für Sie besonders wichtig?

Unterschiedliche Bücher waren für unterschiedliche Projekte und in unterschiedlichen Zeiten bestimmend. In seinem Werk Wir sind nie modern gewesen (2008) beschrieb Latour die konzeptuellen Trennungen der Moderne als eine Art Verfassung. Seine Perspektive hat meine eigenen Forschungen zur Genealogie der modernen Differenzierung zwischen Ökonomie und Politik inspiriert.[1] Latours Parlament der Dinge (2009) hat die von Michel Foucault geprägte Auffassung von Wahrheit, Politik und Valuierung erweitert. Während Foucault in Verfahren der Objektivierung und Valuierung eine Machtmatrix und Regierungspraxis zu erkennen erlaubt, spannt Latour einen anderen Horizont auf, um „politische Epistemologien“ zu analysieren. Zuletzt hat mich Latours Hinwendung zum Terrestrischen als Schlüssel zu einem angemessenen soziologischen und politischen Verständnis von „Ökologisierung“ zutiefst beeindruckt. Sein Buch Das terrestrische Manifest (2018) ist ein wichtiger Baustein für meine eigene Auseinandersetzung mit der zentralen Rolle des Raumes im ökologischen Denken. In meinen Augen hat Latour damit wie so oft unter Beweis gestellt, dass sein analytisches, theoretisches und politisches Gespür herausragend war – es hat sich durch alle Werke gezogen und wird sehr fehlen.

Was war Latours wichtigster Beitrag zur Soziologie?

Ich möchte zwei allgemeine Denkbewegungen Latours herausgreifen, die ich für die Soziologie wichtig finde. Zum einen hat er all jene in der Soziologie bereits vorhandenen Perspektiven analytisch gestärkt und erweitert, die eine operativ-materielle Beschreibung zum Kerngeschäft der Disziplin erklären. Damit meine ich, dass man von Latour lernen kann, jedes Ding, jede Zahl, jeden Akt, jedes Format zunächst auf die Fragen des Wann und Wo hin zu beobachten, um anschließend zu erfassen, wie es/er/sie Teil von Handlungs-, Rechen-, Darstellungs- und Verbreitungsaktivitäten wird, in denen Raumzeiten erst produziert werden.

Zum anderen kann die Soziologie von Latour ein ‚bergendes‘ Verhältnis zum Objekt der Analyse lernen. Latour hat konzeptuelle Unterscheidungen vorgeschlagen, die nicht nur Reflexion und Kritik, sondern auch Reformulierung und ‚Rettung‘ ermöglichen. Um dieses Vorgehen zu beschreiben, kann man auf eine Charakterisierung zurückgreifen, die Gilles Deleuze von Bergsons Methode gegeben hat: Es ginge darum, die gegebene Vermischung der Erfahrung durch neue Unterscheidungen zu analysieren, welche die Differenzen der Intensität, der Skalierung oder Proportion besser von Differenzen der Art und Weise trennen können.[2] In diesem Sinne hat Latour beispielsweise in seinem Buch Existenzweisen (2014) aus dem hybriden Kompositum der Erfahrung die modernen Differenzierungsweisen neu bestimmt. Seine Anthropologie der Modernen, so der Untertitel, produziert auf diese Weise ein neues Verständnis, eine neue Kritik und eine ‚Bergung‘ der modernen Existenzweisen.

Welches Konzept / Welche Intervention Latours sollte man weiterdenken?

Latour hat das ökologische Denken auf neue Füße gestellt, indem er Natur als eine (politische) Versammlung begriff, in der verhandelt wird, wie Dinge, Menschen, Tiere und Stoffe ein Kollektiv bilden. Gleichzeitig wurde Latours konzeptuelle Fassung der „Ökologisierung“ damit gänzlich zu einer politischen Theorie des Relationierens, Repräsentierens und Versammelns. Weder ist seine politische Theorie in der Lage, dieses konzeptuelle Gewicht zu tragen, noch scheint es zufriedenstellend, Ökologie auf diese Weise rein formal zu bestimmen. Hier sollte man das Ökologieverständnis weiter ausbuchstabieren, um Latours Aktanten noch besser an „Stoffgeschichten“[3] zu binden, die eigenlogisch, metabolisch, körperlich oder räumlich sind. Auf diese Weise könnten die Dimensionen der Verpflichtung und der Sorge, der Nutzung und Verschmutzung, der Rassismen und der Hierarchisierung eine größere Rolle für die Analyse spielen. All dies ist in Latours Projekt angelegt, aber noch nicht zu Ende gedacht.

  1. Ute Tellmann, Life and Money. The Displacement of Politics in the Genealogy of Liberalism, New York 2017.
  2. Gilles Deleuze, Bergsonism, New York 1991, S. 18.
  3. Jens Soentgen, Die „Mobilmachung der Materie“. Stoffströme und Stoffkreisläufe aus Sicht der stoffgeschichtlichen Forschung, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 12 (2020), 2, S. 32–40.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

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Ute Tellmann

Ute Tellmann ist Professorin für Allgemeine Soziologie / Soziologische Theorie an der TU Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind historische Soziologie, Cultural Economy, politische Theorie und historische Epistemologie. Sie hat zur (kolonialen) Genealogie der modernen Differenzierung zwischen Ökonomie und Politik geforscht sowie zur räumlich-zeitlichen Struktur von globalen Finanztechniken. Ute Tellmanns aktuelle Forschungen befassen sich mit der Geschichte und Biopolitik globaler Schulden.

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