Axel T. Paul | Rezension |

Die Differenz, ihr Wert und ihr Preis

Über späte Gelegenheitsessays des Anthropologen Claude Lévi-Strauss

Claude Lévi-Strauss:
Wir sind alle Kannibalen. Mit dem Essay »Der gemarterte Weihnachtsmann«
übers. von Eva Moldenhauer
Deutschland
Berlin 2014: Suhrkamp
252 S., EUR 26,95
ISBN 9783518586136

Der Band versammelt mit Ausnahme eines mitreißenden älteren, jetzt endlich ins Deutsche übersetzten Aufsatzes aus dem Jahre 1952, der die pagane, ursprüngliche Bedeutung des schenkenden Weihnachtsmanns als Gott der Toten aufdeckt, sechzehn essayistische Beiträge. Letztere hat Lévi-Strauss entgegen seinem Grundsatz, sich von der Presse fern zu halten, in den Jahren 1989 bis 2000 für die italienische Tageszeitung La Repubblica verfasst. Zu diesem Zeitpunkt waren die großen Bücher, denen Lévi-Strauss seine herausragende Rolle unter den französischen Intellektuellen verdankt, längst veröffentlicht. Die grandiosen Elementaren Strukturen der Verwandtschaft stammen aus dem Jahr 1949. Die zum Weinen schönen Traurigen Tropen erschienen 1955, der dem Gesamtwerk einen Namen gebende Sammelband Strukturale Anthropologie 1958. Die Reihe der Arbeiten wiederum, die Lévi-Strauss der Mythologie der amerikanischen Indianer gewidmet hat, setzte Mitte der 60er-Jahre ein und fand zehn Jahre später ihren vorläufigen Abschluss. Zwar hat der 2009 im Alter von beinahe 101 Jahren verstorbene Anthropologe fast bis an sein Lebensende publiziert, die späten Bücher und Aufsätze variieren im Wesentlichen jedoch Themen und Überlegungen der früheren Jahre – ohne deswegen im Allgemeinen weniger lesenswert zu sein.

Überhaupt ist es eine Eigenart nicht nur, aber eben auch (und besonders) des Lévi-Strauss’schen Werkes, dass es sehr früh, nämlich bereits in den 1950er-Jahren, ‚fertig‘ ist und in der Folge ‚nur noch‘ eine Fußnote seiner selbst sein kann. Gerade literarisch war Lévi-Strauss immer schon ein großer Autor. Nur weil es dem Reglement der Preisverleihung widersprach, ein Sachbuch auszuzeichnen, blieb der Prix Goncourt dem Autor der Traurigen Tropen 1955 versagt. Gleichwohl gewinnen die Texte des späten Lévi-Strauss an Leichtigkeit, ohne deswegen an Tiefe oder Gehalt einzubüßen. Und ebendiese Leichtigkeit kennzeichnet auch die hier zu besprechende, nach einem der Beiträge Wir sind alle Kannibalen betitelte Essaysammlung. Bei einigen Texten kommt hinzu, dass Lévi-Strauss tagesaktuelle Ereignisse wie den Unfalltod von Lady Di, Strafprozesse wegen Genitalverstümmelung oder den in Europa grassierenden Rinderwahn zum Anlass seiner anthropologischen Miniaturen gemacht hat.

Auch wenn zu bezweifeln ist, dass dieser Band, wie Jürg Altwegg in seiner Rezension der französischen Ausgabe schrieb, „das Zeug zum Kultbuch“ hat,[1] ist man mit diesem Büchlein gut bedient, um sich einen Überblick über den Autor und seinen Themen zu verschaffen. Behandelt werden unter anderem die Frage nach den Gründen für den Übergang der Jahrzehntausende „lediglich“ jagenden und sammelnden Menschheit zu Sesshaftigkeit und Ackerbau, das Wesen des Schmucks, Montaignes Bedeutung für die abendländische Geistesgeschichte, die Nicht-Riechbarkeit des weiblichen Eisprungs und die Bedeutung terrestrischer Amöben für die Soziologie. Wer indes mit den Arbeiten des Autors vertraut ist oder nur einen der früheren Aufsatzbände gelesen hat, wird in den hier versammelten Essays zahlreiche andernorts ausführlicher entfaltete Gedanken wiederentdecken. – Was nicht heißen soll, dass nicht auch dieses Buch – ebenso wie frühere und mittlerweile klassische Texte des Autors – Anstoß erregen dürfte.

Relativismus und Moral

Es ist insbesondere der Essay über „Weibliche Beschneidung und assistierte Reproduktion“, der unter den aufgeklärten, kulturkritischen Linksliberalen, die Lévi-Strauss aus in der Regel unklaren Gründen für einen der Ihren halten, zugleich den stärksten Widerspruch und die meiste Zustimmung finden dürfte. Dieser Widerspruch kennzeichnet recht gut die zwiespältige Lage, in der sich dieser Autor im Feld der französischen Geiestesheroen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts befand.

Auf der einen Seite lässt Lévi-Strauss in diesem Text eine ganze Reihe von Regeln und Praktiken sogenannter einfacher Gesellschaften zur Anerkennung und Begründung einer nicht-biologischen Elternschaft Revue passieren. Zwar beabsichtigt er keineswegs, die angesichts der technischen Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin wie einer Ei- oder Samenspende Dritter, der In-vitro-Fertilisation oder der Leihmutterschaft auftauchenden rechtlichen und ethischen Probleme beiseite zu wischen, wohl aber ist es ihm in Anbetracht der Verunklarung und Verkomplizierung der biologischen Elternschaft vor allem um mehr Gelassenheit zu tun, Daneben – und deswegen! – will er jedoch auch für eine klare Regelung der sozialen Elternschaft werben. Denn eine Lehre, die moderne, aufgeklärte und vielleicht gerade deshalb Verwandtschaft auf biologische Filiation verkürzende Gesellschaften aus den Verwandtschaftssystemen der einfachen Gesellschaften ziehen können, besteht darin, dass Verwandtschaft ein primär sozialer Tatbestand, das heißt die gesellschaftliche Überformung des bei den Menschen von Natur aus eben nicht geregelten Reproduktionsbereichs ist. Will man die Verantwortung für die Erziehung der Kinder, für deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie und natürlich auch für ihre normalen Entwicklungschancen verteilen, ist nicht entscheidend, wer mit wem ein Kind zeugt, sondern welchen Eltern beziehungsweise welcher Familie die Kinder legitimerweise zugerechnet werden. Wie „die Wilden“ uns zeigen – nicht anders übrigens als Beispiele gelingender Adoptionen oder funktionierende Patchworkfamilien in unseren Breitengraden das tun –, spricht nichts dagegen, „ordentlicher“ Elternteil eines „biologisch fremden“ Kinds zu sein und das Kind dies auch wissen zu lassen. Lediglich die Mutter- und Vaterrollen – und wie Lévi-Strauss in einem weiteren hübschen Text des Bandes ergänzt, die des Onkels mütterlicherseits – sollten festgelegt sein. „Allein die Anwendung kann zeigen, was das kollektive Bewußtsein auf die Dauer akzeptieren oder verwerfen wird“ (88). Soweit Lévi-Strauss‘mehrheitstauglicher Relativismus.

Auf der anderen Seite diskutiert Lévi-Strauss in demselben Essay die Frage, wie in westlichen Gesellschaften mit der mit den Migranten auch nach Europa gelangten Praxis der weiblichen Beschneidung, der Exzision der Klitoris, umzugehen sei. Er macht mehrere Aspekte gegen ihre Verurteilung geltend: Erstens impliziere die Kritik, sie beeinträchtige die körperliche Unversehrtheit der Frauen oder Mädchen, dass dieses Argument im Prinzip auch gegen die Zirkumzision der männlichen Vorhaut etwa bei den Juden spreche. Ein Verbot der männlichen Beschneidung werde aufgrund der kulturellen Vertrautheit Europas mit diesem Ritual jedoch nicht diskutiert.[2] Zweitens werde die Exzision den Mädchen zumeist nicht von den Männern aufgedrängt, sondern von Frauen aus ihrer Gemeinschaft selbst verlangt. Und drittens sei nicht nachgewiesen, dass die Entfernung der Klitoris die weibliche Lust beeinträchtige oder gar verunmögliche.

Als Kronzeugin für diesen Vorbehalt zitiert Lévi-Strauss eine in Frankreich lebende, beschnittene afrikanische Ärztin, die „erst nach Paris [habe] kommen müssen, um zu erfahren, daß beschnittene Frauen frigide seien“ (76). Wir Europäer sollten hingegen zur Kenntnis nehmen, dass Exzision und Zirkumzision überall dort, wo sie traditionellerweise praktiziert würden, stets dazu dienten, das vom Schöpfer nicht ganz vollendete Werk der Vergeschlechtlichung des Menschen zu Ende zu bringen, also den Jungen ihre „weibliche“ Vorhaut und den Mädchen ihre „männliche“ Klitoris zu nehmen, um sie auf diese Weise erst zu „vollwertigen“ Männern und Frauen zu machen. Lévi-Strauss betont: „Diese Metaphysik und diese Art zu argumentieren sind nicht die unseren. Dennoch erkennen wir ihre Kohärenz und können für ihre Größe und Schönheit nicht unempfänglich sein.“ Freilich gebe es „keinen gemeinsamen Maßstab, nach dem sich die Glaubenssysteme beurteilen ließen […]. Nichts berechtigt uns [darum] dazu, im Namen einer besonderen Moral Leute zu bestrafen, die sich darauf beschränken, Bräuchen zu folgen, die von einer anderen Moral diktiert sind“ (78f.). Wohlgemerkt lehnt Lévi-Strauss allein die strafrechtliche Verfolgung, nicht die ethische Verurteilung der Exzision ab. Und dennoch: Einem solchen Relativismus werden sich die wenigsten seiner Leser anschließen wollen.

Allerdings liegt die Stärke dieses Autors auch darin, dass er sich aus Rücksicht auf mögliche Empfindlichkeiten oder auch relativ berechtigte Einwände seiner Kritiker nicht dazu hinreißen lässt, seinen Lesern um jeden Preis gefallen zu wollen oder andersherum für moralisch oder politisch absolute Positionen zu werben. Nur bedarf auch diese Feststellung noch ihrer Relativierung: Zum einen nämlich ist Lévi-Strauss im Unterschied zu den meisten seiner bedeutenden Zeitgenossen wie Jean-Paul Sartre oder, eine Generation später, Michel Foucault weder ein engagierter Intellektueller noch ein politischer Autor. Er versteht sich vielmehr als Wissenschaftler und Spezialist, der weniger aufgrund der Gegenstände, die er behandelt, als vielmehr dank seiner immer wieder betörenden Sprache ein größeres Publikum gefunden hat – einmal abgesehen davon, dass er sterbende Kulturen, insbesondere das mythische Universum der Indianer Amerikas, vor dem spurlosen Untergang bewahrt und sich allein deshalb die Sympathien selbstkritischer oder zumindest zerknirschter Europäer erworben hat. Zum anderen ist Lévi-Strauss, wie sein bereits vorgestellter Essay über „Weibliche Beschneidung und assistierte Reproduktion“ belegt, zwar Kultur- beziehungsweise moralischer Relativist, als Wissenschaftler hingegen, der sich, wenn man so will, als Anthropologen und „nicht bloß“ als Ethnologen begreift, zielt er auf objektive, universelle Befunde. Ja, er ist von der ontologischen Wahrheit seiner Entdeckungen überzeugt, was in diesem Bändchen vor allem die Beiträge „Die Juwelen des Ethnologen“ und „Corsi e recorsi. In den Fußstapfen Vicos“ veranschaulichen.

Sprache und Mythen

Wie gesagt sind Lévi-Strauss‘ im engeren Sinne wissenschaftliche Arbeiten stets auch literarische Kunstwerke, worin für ihn freilich kein Gegensatz besteht: „Schon im 18. Jahrhundert prangerte [Giambattista] Vico ‚die zwei allgemein verbreiteten Irrtümer der Grammatiker‘ an, ‚daß die prosaische Sprache die eigentliche, die der Dichtung die uneigentliche sei; und daß man zuerst in Prosa und dann in Versen gesprochen habe‘. Was ihm zufolge am Anfang der Menschheit wahr gewesen ist, neigt heute vielleicht dazu, es abermals zu werden“ (146f.). Dem Wissenschaftler Lévi-Strauss also geht es vor allem um die Aufdeckung der den menschlichen Handlungen und erst recht dem menschlichen Denken zugrundeliegenden unbewussten Ordnungsschemata. So konnte er in seinen Arbeiten über die Verwandtschaftssysteme einfacher Gesellschaften zeigen, dass diese samt und sonders als auf Basis des für menschliche Kulturen universalen Inzestverbots organisierte Systeme des Frauentauschs zu begreifen sind. In dem oben bereits erwähnten Aufsatz über „Die Rückkehr des Onkels mütterlicherseits“ macht er anlässlich der Grabrede von Charles Spencer auf seine verunglückte Schwester, Prinzessin Diana von Wales, darauf aufmerksam, dass selbst in unseren hochgradig individualisierten und im Kern längst nicht mehr verwandtschaftlich strukturierten Gesellschaften nach wie vor das für einfache Gesellschaften typische Konkurrenz- und Komplementärverhältnis von Gatte und Mutterbruder zu beobachten sei. Analog dazu argumentiert Lévi-Strauss in seinen umfänglichen Arbeiten über die Mythologie der Indianer,[3] die einzelnen Mythen seien keineswegs Ausdruck freier, ungebändigter Phantasie. Vielmehr würden sie als Varianten eines begrenzten Themen- oder besser Formeninventars eine Art ungeschriebener (von Lévi-Strauss indes rekonstruierter) kontinentaler Partitur bilden und könnten dementsprechend ineinander transformiert werden. Auch von diesem Verfahren der „mythologischen Beweisführung“ gibt der vorliegende Band eine kleinere Kostprobe, den Essay „Der Beweis durch einen neuen Mythos“, wobei dieser Text nicht zu den stärkeren Stücken der Sammlung gehört.

Interessanter als die Analyse des mythischen Materials selbst sind die Arbeiten, in denen Lévi-Strauss seine mythologisch-empirischen Funde erkenntnistheoretisch und, Immanuel Kants Rolle gewissermaßen rückwärts schlagend, ontologisch zuspitzt. Lesenswert ist in dieser Hinsicht der Essay über „Mythisches und wissenschaftliches Denken“. Denn was der Anthropologe im Zuge seiner strukturalen De- und Rekomposition der Mythen zutage gefördert zu haben meine, sei nichts anderes als die metaphorische Natur des menschlichen Geistes selbst, ja, mehr noch, die analoge Verfassung von Leben und Sprache. „Der Isomorphismus […] zwischen der Struktur des genetischen Codes und der allen verbalen Codes der menschlichen Sprache zugrundeliegenden Struktur […] fordert dazu auf, diese universelle Architektonik als ein molekulares Erbe des Homo sapiens zu betrachten“ (239f.). Wenn Mythen vor Metaphern und Analogien wimmeln, dann deshalb, so Lévi-Strauss, weil das basale, in den Mythen erwachende Erkennen der Menschheit mit Hilfe von Metaphern und Analogien operiere, noch bevor das kausale Räsonnement sich durchsetze. Erst die Einsicht, dass Phänomene einander ähneln können, bringe die Menschheit dazu, in einem zweiten Schritt nach deren möglicher Bedingtheit zu forschen.

Zudem bilde das – wie ich es nennen möchte – mythisch-surrealistische Denken heute eine Art Sprungbrett, nachdem die modernen Naturwissenschaften die sprachlich-realistische Darstellbarkeit ihrer Entdeckungen gar nicht mehr anstreben – wie zum Beispiel die Doppelnatur der Atome als Teilchen und Welle. Mythisch-surrealistisches Denken vermag zum einen die Natur des Kosmos zu veranschaulichen, zum anderen aber die Naturwissenschaftler selbst in bislang unerkundete Gefilde zu locken. Dabei ist der wissenschaftliche Fortschritt für Lévi-Strauss alles andere als ein konstruktiver, sich selbst tragender Prozess, der, hätte man anders angefangen oder würde man neu ansetzen, ganz oder auch nur größtenteils andere Ergebnisse hätte zeitigen können. Erkenntnis ist für Lévi-Strauss vielmehr die Entdeckung einer objektiven Gegebenheit, ja, der Realität an sich – und damit grundsätzlich endlich. Tatsächlich sieht er sich „in den Fußstapfen Vicos“ wandeln auf dem „Weg, der von der Struktur des Denkens zur Struktur der Wirklichkeit führt“ (245). Es mag Zufall sein, dass die Reihe von Essays, die er für La Republicca schrieb, und damit auch das Buch mit gerade diesen Worten endet. Auf jeden Fall erklärt seine Haltung, die wohlgemerkt keine späte Einsicht darstellt, sondern sich mindestens bis in die 1950er-Jahre zurückverfolgen lässt, dass Lévi-Strauss sich, nachdem die Tragfähigkeit seiner Analysen einmal erwiesen schien, gegen Kritiken weitgehend immunisierte und seinen naturalistischen Strukturalismus im Grunde nicht mehr modifizierte.

Fortschrittskonflikte

Die vorliegenden Essays wurden für eine Tageszeitung von einem Autor geschrieben, der seine Entdeckungen gemacht und Bücher geschrieben hat, für die er 1973 in die Académie française aufgenommen wurde, und dessen Werk seit 2008 mit einem Auswahlband in der für Klassiker reservierten Bibliothèque de la Pléiade vorliegt. Insofern sollte man nicht erwarten, dass er in diesen Aufsätzen über lange Jahre verteidigte Positionen räumt oder auch nur relativiert. Ein Eingehen auf Einwände hätte Jahrzehnte früher erfolgen müssen. Dennoch ist und bleibt zu bedauern, dass die nicht erst in der jüngeren Zeit geführten Debatten etwa über die genetische Epistemologie oder auch das Verhältnis von Mythos und Geschichte Lévi-Strauss nie zum Weiterdenken ermuntert haben. Ein Denker von seiner Statur hätte sich vor Revisionen seiner Theorie nicht fürchten müssen.

Gleichwohl drückt dieser Konservatismus noch etwas anderes als die verzeihliche Sturheit eines alten Gelehrten aus, nämlich Lévi-Straussʼ Haltung zum ethischen Problem des Fortschritts. Auf der einen, ‚moralischen‘ Seite ist dieser für ihn ein standortabhängiges, kulturrelatives Konstrukt, das heißt die kollektive Illusion jeder Kultur, der zufolge die menschliche Entwicklung und Geschichte in ihr kulminieren müssten. Auf der anderen Seite jedoch sei zwar nicht der Fortschritt im Sinne einer objektiven Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen, wohl aber die neuzeitliche Entwicklung einer letztlich qua Wissenschaft vereinheitlichten Weltzivilisation ein objektiver Tatbestand. Das Problem oder vielmehr das Dilemma dieser Weltzivilisation bestehe allerdings darin, dass sie sich nur durch die Ausnutzung, Inkorporation und schließlich Aufhebung kultureller Differenzen zur Weltzivilisation habe aufschwingen können. Heute, nach dem nahezu vollständigen Untergang relativ eigenständiger Kulturen, sei sie freilich um den Preis ihres eigenen Fortbestands auf die Erzeugung interner Differenzen angewiesen. In früheren Texten machte Lévi-Strauss kein Hehl aus seiner Schlussfolgerung daraus: Solle die Menschheit eine Zukunft haben, bedürfe sie einer erneuten Selbstverfremdung und somit auch des Konflikts.

Das sind, aus westlich-‚zivilisierter‘ Warte zumindest, nicht nur düstere Aussichten. Im Grunde drückt dieser Ausblick Lévi-Straussʼ eigener (Onto-)Logik zufolge eine vergebliche Hoffnung aus. Denn kulturelle Differenz als die „eigentliche Ressource“, von der die Menschheit lebe, entsteht oder regeneriert sich nur in relativer Isolation. Doch eben die gibt es nicht mehr. Genau hierin liegt das Motiv für die Melancholie, die Lévi-Straussʼ Schriften durchzieht, sowie die Wurzel seiner Vorliebe für einfache Kulturen. Für ihn sind oder waren letztere nicht einfach vom Fortschrittsdenken unberührt, bevor die Kolonialherrschaft sie beeinflusste, vielmehr ist er der Meinung, sie hätten sich in einer Art Vorahnung um das entropische Telos des sozialen Wandels ebendiesem aktiv verweigert und den Stillstand präferiert. „Wir aber halten uns für befugt, diejenigen, die noch in jüngerer Zeit überlebten, primitiv zu nennen, weil es ihr erklärtes Ziel war, in dem Zustand zu verharren, in dem die Götter oder Ahnen sie erschaffen hatten, mit einer kleinen Mitgliederzahl, die sie im übrigen beizubehalten verstanden, und einem unveränderten Lebensstandard, den zu schützen ihre sozialen Regeln und metaphysischen Glaubensvorstellungen ihnen halfen“ (53). Man darf sich nicht wundern, dass Lévi-Strauss auch für die weibliche Beschneidung Verständnis aufbringt: Nicht weil sie an sich richtig wäre, sondern weil die Kulturen, in denen sie praktiziert wird, nach ihrem eigenen Recht leben.

Nun sind Geschichte und Fortschritt in dem hier vorgestellten Bändchen kein prominentes Thema. Im Grunde werden sie selbst in dem „Gibt es nur eine Art der Entwicklung?“ fragenden Essay nur gestreift, ohne die Geschichtsphilosophie auszubuchstabieren, die die strukturale Anthropologie meiner Lesart zufolge insgesamt grundiert.[4] Doch wer die Essays liest, vernimmt ihren Ton, allerdings eher in Moll als Dur gespielt. Denn hier und da, vielleicht doch altersmilde geworden, relativiert Lévi-Strauss seinen evolutionären Pessimismus. So spekuliert er in „Die kluge Lektion des Rinderwahnsinns“, diese auf den erzwungenen Rinderkannibalismus, nämlich die Verfütterung von zu Mehl verarbeiteten Rinderföten an das Schlachtvieh zurückgehende, durch den Verzehr verseuchten Fleisches auf Menschen übertragbare Krankheit könnte uns eines Tages davon abbringen, auch weiterhin unbedacht und massenhaft Fleisch zu verzehren. Die sich selbst überlassenen Viehherden würden verwildern und menschenleere Regionen bevölkern. „Endgültig von ihren Bewohnern verlassen, würden diese Gebiete zu archaischen Zuständen zurückkehren; hier und dort würden sich die fremdartigsten Lebensformen Raum verschaffen. Statt eintönig zu werden, würde die Evolution der Menschheit die Gegensätze verstärken, sogar neue schaffen und das Reich der Vielfalt wiederherstellen“ (210f.).

Bislang ist von einem derartigen Neustart der Geschichte freilich nichts zu spüren. Und selbst wenn er einträte, käme er wohl zu spät. Tatsächlich geizt der globale Kapitalismus – denn dieser scheint mir der gemeinsame Nenner unserer Weltzivilisation zu sein – durchaus nicht mit einer provokanten Bandbreite kultureller Differenz. Aber er gewährt uns nicht die Zeit, die es bräuchte, aus ihr Funken zu schlagen. „Die kluge Lektion des Rinderwahnsinns“ hat eben doch kein Umdenken bewirkt. Das freilich ist nicht die Schuld ihres Lehrmeisters.

  1. Jürg Altwegg, Wir sind alle Kannibalen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. März 2013.
  2. Der Text stammt aus dem Jahre 1989. Anlässlich medizinischer Komplikationen bei der Beschneidung eines jüdischen Jungen wurde dreizehn Jahre später in Deutschland sehr wohl um eben diese juristisch und vor allem religionspolitisch delikate Frage gerungen. Zwar wurde kein Verbot der religiös motivierten Zirkumzision durchgesetzt, das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Kinder indes noch einmal unterstrichen. Es steht deshalb zu erwarten, dass der Konflikt erneut aufbrechen wird.
  3. Neben den vierbändigen Mythologica (Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt am Main 1971; Mythologica II. Vom Honig zur Asche, Frankfurt am Main 1972; Mythologica III. Vom Ursprung der Tischsitten, Frankfurt am Main 1973; Mythologica IV. Der nackte Mensch, 2 Bde., Frankfurt am Main 1975; alle übers. von Eva Moldenhauer) hat er ihr zwei weitere Bücher gewidmet: Die eifersüchtige Töpferin, Nördlingen 1987; Die Luchsgeschichte. Zwillingsmythologie in der neuen Welt, München 1993; beide übers. von Hans-Horst Henschen.
  4. Vgl. Axel T. Paul, Zeitreisen. Lévi-Strauss und die Geschichte, in: Michael Kauppert / Dorett Funcke (Hrsg.), Wirkungen des wilden Denkens. Zur Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, Frankfurt am Main 2008, S. 304–332.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Christian Dries.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie

Axel T. Paul

Professor Dr. Axel T. Paul lehrt Allgemeine Soziologie an der Universität Basel. Sein derzeitiges Hauptarbeits- und Forschungsgebiet ist Gellschaftsgeschichte.

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