Stine Marg | Rezension |

Frei, gleich, geheim?

Rezension zu „Moderne Wahlen“ von Hedwig Richter

Hedwig Richter:
Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert
Deutschland
Hamburg 2017: Hamburger Edition
656 S., EUR 42
ISBN 978-3-86854-313-1

Während sich Mitte des 19. Jahrhunderts die Wähler des Preußischen Landtages nicht selten im Herrenhaus versammelten und in Vermögensklassen getrennt vortraten, um laut ihren Namen und den präferierten Wahlkreiskandidaten zu rufen, drängelte und raufte sich das Stimmvolk in den USA oft unter Alkoholeinfluss den Weg zur Wahlurne frei, die in Rathäusern, Kirchen oder Kneipen und Geschäften aufgestellt war. Insbesondere in den westlichen Vorstellungen über die Praxis des Wählens im 21. Jahrhundert sind solche eklatanten Verstöße gegen das Wahlgeheimnis oder von gewalttätigen Männern dominierte Wahlakte selten präsent. Die heutigen Konditionen von Wahlen – geheim, rational, durchorganisiert, frei, gleich, unmittelbar und allgemein – haben eine letztlich sehr kurze Geschichte. Vor allem im 19. Jahrhundert war die Praxis des Wählens eine gänzlich andere. Das sei, so die Diagnose Hedwig Richters in ihrer Habilitationsschrift, in der bisherigen historischen und politikwissenschaftlichen Forschung zwar nicht vollständig unbeachtet geblieben, aber eine globalhistorisch angelegte Längsschnittanalyse, die sich als Beitrag zur Geschichte der Demokratie versteht und sich konkret auf die Wahlräume, Stimmungen anlässlich der Wahlen, präzisen Abläufe, Rituale und Selbstverständlichkeiten fokussiert, lag bislang nicht vor.

Hedwig Richter hat mit „Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert“ ein voluminöses Werk über die Praktiken des Wählens vorgelegt. Und ihr ist mit der Arbeit das geglückt, was gegenwärtig nicht mehr vielen auf Peer-review getrimmten und auf den Zitationsindex schielenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gelingt: Richter schreibt äußerst anschaulich und erzeugt damit ein großes Lesevergnügen. Geschickt verwebt sie Quellen und Argumentation, reichert den Text durch zahlreiche Grafiken an und gibt durch eine Vielzahl von Beispielen tiefe Einblicke in die konkrete Durchführung des Wahlvorgangs.

Natürlich ist Richters Buch keine „Geschichte der Demokratie“, wie es der spitzfindige Rezensent Hartwin Spenkuch behauptet[1], sondern ein Beitrag zum Verständnis der Geschichte der modernen Demokratie (S. 19) und mit seiner mythenentkleidenden, detaillierten Beschreibung ausgewählter Wahlakte im 19. Jahrhundert ein historisch fundiertes Argument für den „fiktionalen Charakter von Demokratie“ (S. 571). Das ist im Angesicht der Wahlerfolge der AfD, politischer Unbehaustheit großer Bevölkerungsteile und des Demokratiedefizits der Europäischen Union, kurz: in den Diskussionen über die apostrophierte „Krise der Demokratie“ – die nicht selten zur ‚absoluten‘ Möglichkeit der Organisation von Gesellschaft idealisiert wird – ein wichtiger Hinweis. So zeigt Richter einmal mehr, dass die Verknüpfung von Politik- und Geschichtswissenschaft enorm ertragreich sein kann. Die Autorin leistet dringend notwendige Differenzierung, Relativierung und Entmystifizierung und ist damit die historisch versierte Stimme, die gesellschaftspolitischen Debatten immer öfter zu fehlen scheint.

Richter bürstet in ihrer Darstellung durchaus einige gängige Thesen gegen den Strich. Dabei will sie mitnichten die Idee widerlegen, dass eine Ausweitung des Wahlrechts nach ‚unten‘, also eine Einbeziehung derjenigen, die zunächst davon ausgeschlossen waren, erkämpft wurde. Die Autorin möchte stattdessen ergänzend untersuchen, inwiefern Wahlen im 19. Jahrhundert, genauer von 1800 bis zum Ersten Weltkrieg, auch ein „Disziplinierungsinstrument“ der Eliten waren und Massenpartizipation „häufig durch sozialstrukturelle Bedingungen“ gefördert wurde (S. 10). Dass diese Entwicklungen letztlich ein Signum der Moderne sind, stellt Richter mit der These heraus, dass die Prozesse in Preußen und den USA relativ parallel verlaufen seien, was letztlich auch ein weiterer empirischer Beleg gegen die Erzählung vom ‚deutschen Sonderweg‘ sei. Und schließlich möchte Richter mit ihrem Buch zeigen, dass „Wahlen die Fiktion von Demokratie“ ermöglichen, da sie „eine Performanz der demokratischen Utopie“ darstellen. „Das bedeutet zugleich, dass Wahlen ein Scharnier zwischen den Bürgern und dem Staat bildeten und damit wichtiger Bestandteil der Nationskonstruktion wurden.“ (S. 21)

Ihre Untersuchung führt Richter anhand von vier Fallbeispielen beziehungsweise „Tiefenbohrungen“ durch, mittels derer der Stadt-Land-Gegensatz in Preußen und den USA verdeutlicht werden soll. Pommern und South Carolina sowie Berlin und New York City sind daher die Untersuchungsräume der Autorin. Gleichwohl relativiert Richter die Methode des Vergleichs, weil sie einen „weitschweifenden Blick“ präferiert, der ihr eine „Vielfalt an Erkenntnissen“ verspricht. Ihre Affinität zur Globalgeschichte, den Postcolonial Studies und der Geschlechtergeschichte macht die Autorin auf den ersten Seiten des Buches mehr als deutlich: Die eurozentrische Perspektive müsse bei einer Untersuchung des Wahlaktes in der Moderne genauso reflektiert werden wie die einseitige Fokussierung auf das männliche Geschlecht (S. 16). Wie dieser Anspruch jedoch methodisch konkret umgesetzt werden soll, bleibt unklar. In der Darstellung changiert Richter derart zwischen Preußen und den USA, Pommern und South Carolina, New York und Berlin, dass die Rezensentin ob der zahlreichen Atlantiküberquerungen im Minutentakt beinahe seekrank wurde. Die vereinzelt eingestreuten Verweise auf andere Länder wie etwa Österreich (beispielsweise S. 151), Frankreich (S. 153) oder England (S. 277) dienen dann auch weniger der Beweisführung, denn der Illustration. So wird die auf Europa und die Männlichkeit zentrierte Perspektive zwar sporadisch durchbrochen, aber nicht systematisch erarbeitet.

Richter gliedert ihren chronologischen Marsch durch die Wahlpraktiken des 19. Jahrhunderts in vier Untersuchungszeiträume. Sie beginnt mit der „Zeit der Revolution und Reform um 1800“. Dass Wahlen ein „Elitenprojekt“ (S. 32) waren und Wähler als „nützliche Subjekte“ für die Staatsbildung und Konstruktion der Nation (S. 33) angesehen wurden, arbeitet sie anhand von Aspekten wie Eigentum und Steuern, Statistik, Sesshaftigkeit sowie Alter heraus. Dabei modifiziert Richter die These, dass der „anwachsende Wohlstand“ die Menschen gleicher mache und somit demokratiefördernd wirke (S. 561). Als Vorbedingungen für die „Integration einer Person in demokratische Prozesse“ sei gerade einmal ein gegenseitiger „Basal-Respekt“ und ein gewisser „Wohlstandssockel“ (S. 95) notwendig. Das relativ neue Recht auf Eigentum bedeutete zu jener Zeit jedoch zuvörderst ein „Recht auf Verfügung über den eigenen Leib“ (S. 96), womit konkret die Abschaffung der Leibeigenschaft (Preußen) beziehungsweise der Sklaverei (USA) gemeint ist. Eigentumsrechte und eine ökonomische Grundausstattung können laut Richter nicht zuletzt deshalb als „Triebfeder zur Demokratisierung“ (S. 98) bezeichnet werden, da das vermögende Bürgertum Mitbestimmungsrechte einforderte, um sein Eigentum und die Steuereinnahmen gegen die Interessen der Obrigkeit zu verteidigen. Das könnte man als Hinweis Richters interpretieren, die gegenwärtige Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen und das aktuelle „Demokratiedefizit“ zusammenzudenken.

Im zweiten Untersuchungsabschnitt konzentriert sich Richter auf den „Ausbruch des Wahlrechts aus elitären Strukturen“ (S. 33) in den 1840er-Jahren in den USA beziehungsweise während der 1848er-Revolution in Preußen. Gewaltexzesse, Stimmenkauf und Alkohol dominierten in dieser Periode insbesondere die Wahlpraktik der „Jacksonian Democracy“, deren Widersprüchlichkeiten leider durch Richters Darstellung verstärkt, statt geklärt werden. So stellt die Autorin auf der einen Seite fest, dass während der Präsidentschaft Andrew Jacksons (1829–1837) eine Politisierung breiter Schichten erreicht worden wäre (S. 171), dass jedoch die unter anderem durch Jackson gegründete Demokratische Partei eher einer Honoratiorenbewegung geglichen habe und zahlreiche Bevölkerungsgruppen weiterhin exkludiert gewesen seien (S. 92). An anderer Stelle führt Richter an, dass die „Geschichtsschreibung“ nicht ganz richtig läge mit der Behauptung, dass die Präsidentschaftswahl von 1828 aufgrund der vergleichsweise hohen Wahlbeteiligung den Auftakt zur „grundlegenden Demokratisierung“ gebildet habe, da Wahlen auch in den USA „bis weit ins 19. Jahrhundert ein Elitenprojekt“ geblieben seien. Interessant ist hier ihre Bemerkung zum möglichen Ursprung der US-amerikanischen Parteienantipathie: Da in den USA die politischen Organisationen – und nicht wie in Preußen der Obrigkeitsstaat – zur Teilnahme an den Wahlen aufriefen, waren es die Parteien, die mit den auf das gehobene Bürgertum abstoßend wirkenden Praktiken assoziiert wurden. Zu Recht weist die Autorin auf den wichtigen Umstand hin, dass mit der Einführung gedruckter Wahlzettel nicht nur der Manipulation der Wähler ohne Lesefähigkeit Tür und Tor geöffnet, sondern auch die Idee der geheimen Wahl ad absurdum geführt wurde.

Im Anschluss an diesen zweiten Untersuchungsabschnitt wird der Leserschaft unter der Überschrift „Wahlen in traditionsbedürftigen Zeiten“ eine Art Zwischenkapitel präsentiert, das nicht auf einen bestimmten Untersuchungszeitraum rekurriert, sondern offenbar die Widersprüche zwischen den bereits eingeführten modernen Massenwahlen und der „traditionellen Haltung der Bevölkerung“ beleuchten soll. Richter fragt danach, wie es den „Konservativen gelang, sich mit den demokratischen Elementen im Staat zu arrangieren und sie in ihr Weltbild zu integrieren“ (S. 33). Die Autorin erzählt hier die Entwicklung der Demokratie als eine Geschichte ihrer Eindämmung. Ärgerlich ist neben zahlreichen Wiederholungen der Beschreibung konkreter Wahlpraktiken die unklare Rolle des Kapitels in der Gesamtdarstellung. Aussagekräftigere Überschriften hätten die Einordnung innerhalb der mehr als 560 Seiten sicher erleichtert.

Im dritten Untersuchungszeitraum (und vierten Großkapitel) widmet sich Richter dem „große[n] egalitäre[n] Aufbruch im Namen der Nation“ in den 1860er- und 1870er-Jahren, der – Wahlmanipulationen und Korruptionen zum Trotz – einen „partizipative[n] Schub“ (S. 34) bedeutet habe. So fällt nicht nur die Einführung des liberalen Reichstagswahlrechts, das in der konkreten Praxis im eklatanten Widerspruch zur Wahl des Preußischen Abgeordnetenhauses stand, sondern auch die Wahlberechtigung für Afroamerikaner in South Carolina seit 1867 in diese Epoche. Der Innovationsschub fand jedoch zunächst lediglich auf dem Papier statt, da sich die männliche Gewalt zunächst unbarmherzig gegen jene Afroamerikaner richtete, die so mutig waren, ihr Wahlrecht tatsächlich in Anspruch zu nehmen. „Auch hier zeigt sich, dass Demokratie im Sinne von Partizipationsrechten nie nur eine Sache von unten ist. Ohne eine starke Staatsmacht konnte sich wie in den USA das Gesetz nicht durchsetzen, um Partizipationsrechte zur Geltung zu bringen.“ (S. 409) Ein weiteres Argument Richters in diesem Abschnitt lautet, dass die Wahlbeeinflussung auch deshalb nachließ, weil die Zunahme von Kommunikationsmöglichkeiten im öffentlichen Raum, zum Beispiel durch die Expansion der gedruckten Presse, Korruption und Wahlbetrug deutlich erschwerten.

Das Buch endet schließlich mit dem vierten Untersuchungsabschnitt, der die „globalisierte Zeit um die Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg“ (S. 33) beleuchtet. Das wesentliche Signum dieser Epoche sei das Wirken von Reformern gewesen, die auf eine Ausweitung des Wahlrechts, mithin auf Bürokratisierung, Effizienzsteigerung und Disziplinierung gepocht hätten, weil sie den Einfluss von Religion, Geburtsprivilegien, Geld und Wirtschaft zurückdrängen wollten (S. 454). Massenpartizipation hätte nun an breiter Akzeptanz gewonnen und die allgemeinen wie geheimen Wahlen galten als Standard der modernen Nation (S. 447). Leider erfährt der Leser auch hier wenig Konkretes über die „Gruppe der Wahlreformer, die bisher kaum untersucht wurde“ (S. 456). Wer waren diese Vordenker, welche Ziele verfolgten und welche politischen Allianzen befürworteten sie? All das lässt Richter offen. Auch die Wahlrechtskämpfe der Sozialdemokraten oder die Kämpfe der Frauen um Wahlberechtigung, zum Beispiel ihr massenhaftes Erscheinen in Wahlkreisbüros in South Carolina, finden nur am Rande Erwähnung. Zu einer Darstellung von Wahlpraktiken, die einen Beitrag zur Geschichte der Demokratie leisten soll, hätte indes beides gehört: die Einordnung der Entwicklung und Ausweitung von Wahlen als Elitenprojekt im Zusammenhang mit der Nationsbildung auf der einen und die Kämpfe um Anerkennung der bis dato von den Wahlen exkludierten Schichten auf der anderen Seite. Dennoch: „Moderne Wahlen“ von Hedwig Richter ist nicht nur aus historischer, sondern auch aus aktueller politikwissenschaftlicher Perspektive ein lesenswertes Buch, das über die Entwicklung der Wahlpraxis und die Historizität vermeintlich tragender Säulen der gegenwärtigen demokratischen Prinzipien umfassend und farbig informiert.

  1. Hartwin Spenkuch: Rezension von: Hedwig Richter: Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert, Hamburg: Hamburger Edition 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 5 [15.05.2018], URL: www.sehepunkte.de/2018/05/31290.html (zuletzt eingesehen am 15.01.2019).

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Geschichte Demokratie

Stine Marg

Dr. Stine Marg, Politikwissenschaftlerin und geschäftsführende Leiterin des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, vertritt derzeit den Lehrstuhl für Parteien- und Politische Kulturforschung an der Georg-August-Universität. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der politischen Kulturforschung, der Protestforschung, der Analyse politischer Deutungsmuster und Demokratievorstellungen.

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