Bernadette Kneidinger-Müller | Rezension |

Liken und Retweeten

Johannes Paßmann ergründet die soziale Logik von Teilungspraktiken auf Twitter

Johannes Paßmann:
Die soziale Logik des Likes. Eine Twitter-Ethnografie
Deutschland
Frankfurt / New York 2018: Campus
388 S., EUR 29,95
ISBN 978-3593509105

Mittlerweile existieren beinahe unzählige wissenschaftliche Arbeiten zum Microblogging-Dienst Twitter. Doch nur wenige ihrer Autor*innen wählen einen methodischen Zugang, wie es Johannes Paßmann in seiner Dissertationsschrift wagt. Er, selbst ein passionierter Twitterer, nähert sich den sozialen Praktiken und Dynamiken der Social Media-Plattform aus einer ethnografischen Perspektive. Er taucht tief in die Twitter-Welt ein und nimmt dabei auch jene Leser*innen mit, die bisher wenig mit Twitter zu tun hatten. Die Untersuchungsobjekte seiner ethnografischen Arbeit sind neben einzelnen Personen innerhalb der Twitter-Gemeinschaft auch situative Kontexte – etwa unterschiedliche Formen von Offline-Zusammenkünften der Twitter-Nutzer*innen sowie Interaktionen innerhalb des Microblogging-Dienstes – die ihm im Rahmen seiner alltäglichen Nutzung begegnen und die er schließlich für seine wissenschaftliche Arbeit dokumentiert und beobachtet.

Im Zentrum des Buches stehen die – auch in vielen anderen Social Media – so wichtigen sozialen Praktiken des „Teilens“ und „Likens“ von Beiträgen. Darüber hinaus versucht der Autor seiner Leserschaft eine Antwort auf die Frage zu geben, was denn nun die zentrale Faszination des Twitterns für viele Nutzer*innen ausmacht. In diesem Zusammenhang spricht Paßmann der hohen interpretativen Flexibilität der Austauschsituationen auf Twitter eine zentrale Bedeutung zu. Mittels der sozialen Praktiken des Retweetens und vor allem der „Favs“ (= „Likes“) könnten sehr unterschiedliche Formen sozialer Interaktionen gelebt, gepflegt und verändert werden, was der Autor insbesondere mit ihrer flexiblen und vielfältigen Interpretierbarkeit begründet. Die Bedeutung jedes Retweets oder jedes „Favs“ erschließe sich immer erst durch ihre Einbettung in die jeweilige konkrete soziale Interaktionssituation. Und genau das erklärt schließlich auch, warum ein Retweet oder ein „Fav“ in unterschiedlichen Interaktionskontexten bei Nutzer*innen nicht nur zu unterschiedlichen Interpretationen führen, sondern auch mannigfaltige Gefühle, Emotionen und Gratifikationen auslösen kann. 

Beide Aspekte – also die Komplexität der Interaktionssituationen auf Twitter kombiniert mit der hohen interpretativen Flexibilität innerhalb der Logik des Likes – sind für Paßmann schlussendlich ausschlaggebend für seinen methodischen Feldzugang mittels ethnografischer Erhebung. Während die Mehrheit bisheriger Studien zum Thema Motive und Gratifikationen der Twitter-Nutzer*innen auf Basis von Befragungsdaten analysiert, wendet sich der Siegener Medienwissenschaftler bewusst gegen diese Methode. Seiner Auffassung nach führe eine Befragung eher zu einer Rechtfertigung der Nutzung durch die Befragten, als dass tatsächlich darunterliegende Nutzungsgründe formuliert würden. Paßmanns Ziel ist schlussendlich eine ethnografische Beschreibung von Handlungs- und Interaktionspraktiken im deutschsprachigen Twitter aus der Perspektive der Teilnehmer*innen (S. 25 f.). Im Mittelpunkt seiner Beschreibung stehen – wie er sie nennt – sich online auf der Social Media-Plattform zutragende „krisenhafte Ereignisse“ (S. 26). Sie eigneten sich seiner Auffassung nach besonders für eine Analyse, da den User*innen oftmals erst in derlei situativen Kontexten Routinen der eigenen Plattformnutzung bewusst würden. Als Beispiel für solch „krisenhafte Ereignisse“ werden im Verlauf des Buches vor allem Situationen des Medienwechsels im Rahmen von Interaktionen zwischen Twitter-Nutzer*innen beschrieben, also ein Wechsel von der reinen Online-Interaktion auf Twitter hin zur Offline-Interaktion in der realen Welt. Anekdotisch beschreibt der Autor eigene bei Treffen mit anderen Twitter-Nutzer*innen gemachte Erfahrungen und dabei aufgekommene Irritationen in Bezug auf Fremdwahrnehmung, Interaktionsstrukturen und die Definition von Beziehungen zwischen den Interaktionspartner*innen.

Bereits in der sehr ausführlichen Einleitung liefert Paßmann eine detaillierte Darstellung der zentralen Ansätze und Erkenntnisse des Buches. Sie werden an späterer Stelle je durch eine Fülle anekdotischer Episoden, vereinzelt auch durch systematisch gesammelte Beobachtungen oder Netzwerkanalysen ausführlicher beschrieben und unter Einbeziehung überwiegend soziologischer Theorien und ethnografischer Erkenntnisse diskutiert. Ebenfalls gleich in der Einleitung wird auch die Frage thematisiert, was denn nun das Erfolgsgeheimnis von Twitter sei und inwiefern hierbei die Koppelung von „industriell-moderner situationsabhängiger sozialer Logik des Allgemeinen mit der spätmodernen, auf Anerkennung persönlicher Individualität beruhender sozialen Logik des Besonderen“ (S. 19) eine ausschlaggebende Rolle spiele. Einer der zentralen Gründe für die von Twitter ausgehende Faszination liegt Paßmann zufolge in der situationsabhängigen Interpretationsflexibilität der Beiträge. Neben derlei Fragestellungen werden auch schon an dieser Stelle konkrete Annahmen formuliert, etwa indem ein Vergleich von Retweets und „Favs“ mit Geld und Gaben vorgenommen wird. Ganz der ethnografischen Tradition folgend zeigt Paßmann die Parallelen von Retweets und „Favs“ mit sozialen Währungen von Stämmen auf, die eine Anbahnung, Gestaltung und Ordnung von Beziehungen erlauben (S. 21). Dieser Vergleich zieht sich durch die gesamte Arbeit und wird an unterschiedlichen Stellen mit unterschiedlichen theoretischen Hintergründen diskutiert.

Paßmann knüpft in seiner Argumentation vielfach an zentrale Diskussionen aus dem techniksoziologischen Bereich an und übt deutliche Kritik an Technozentrismus und Technikdeterminismus. Er plädiert für Forschungszugänge, die explizit auf der Annahme eines wechselseitigen Beeinflussungsprozesses zwischen technischen Innovationen und sozialen Nutzungspraktiken basieren. Ein weiterer den Autor stark beschäftigender Aspekt ist die Frage nach der Existenz von Hierarchien innerhalb der Twitter-Nutzer*innengemeinde. Paßmann fasst Hierarchien als „sozio-technische Tatsache“ (S. 93) und zeigt kulturelle in diesem Zusammenhang auftretende Praktiken auf. Obwohl hierarchische Verhältnisse im Social Web von den Nutzer*innen meist negiert würden, existieren auch auf Twitter durchaus interne „Rankings“, die besonders erfolgreiche Tweets aufzeigen beziehungsweise eine Hierarchie der Twitterer sichtbar machen. Auf Basis von Netzwerkmodellen arbeitet Paßmann schließlich unterschiedliche Funktionen von „Favs“ und Retweets heraus und zeigt, wie diese einerseits als soziale Medien der Kooperation und Anerkennung, andererseits aber auch als Medium der Distribution und Zuschreibung von Neuigkeitswert eingesetzt werden. Nur im Kontext der jeweiligen Nutzung könne entschieden werden, welche Funktion ein „Fav“ oder ein Retweet jeweils erfülle.

In je eigenständigen Kapiteln geht der Autor ausführlicher auf die sozialen Austauschpraktiken von „Favs“ und Retweets auf Twitter ein, die er anhand eigener Twitter-Erfahrungen illustriert. So beschreibt er etwa eigene Irritationen und Unsicherheiten, die er vor allem zu Beginn seiner Twitter-Nutzung erlebt hat, etwa wenn Twitterer, denen er folgte, ihm nicht im Gegenzug ebenfalls folgten oder wenn „Favs“ und Retweets mit anderen Twitter-Nutzer*innen bewusst ausgetauscht wurden, um soziale Beziehungen sowohl online als auch offline aufzubauen, zu stärken oder auch nur nicht zu gefährden. Wie oben bereits angerissen geht Paßmann an dieser Stelle ausführlich darauf ein, welch grundlegende Bedeutung „Favs“ und Retweets als Formen von Gaben beziehungsweise als eine Art Geschenkeaustausch für den Aufbau und die Pflege von sozialen Beziehungen zu anderen Twitter-Nutzer*innen haben. Der Autor stellt in diesem Kontext eine Reihe von Bezügen zu anderen ethnografischen Studien über ausgewählte (Offline-)Kulturen her. In Bezug auf „Favs“ bietet er als grobe Kategorisierung eine Unterscheidung zwischen „Favs“ als Gabe im Rahmen einer Transaktionspraktik und „Favs“ als Bookmark im Rahmen einer Speicherpraktik an. Letzteres habe jedoch durch die technische Umgestaltung des „Fav“-Symbols auf Twitter an Bedeutung verloren, da ein „Fav“ nun nicht mehr mit einem neutral wahrgenommenen Stern, sondern mit einem Herzsymbol markiert wird und damit vor allem die Funktion des „Likes“ symbolisiert. Retweets grenzt Paßmann davon klar ab. Sie seien direkter und klarer als „Favs“, weil sie Öffentlichkeit erzeugen und damit auch konkrete Folgen für die Nutzer*innen haben. Retweets hätten einen stärkeren „Materialwert“ (S. 103) und nähmen gleichzeitig weniger unterschiedliche Bedeutungen ein als „Favs“, wodurch sich beide Formen gut ergänzen würden: Im Vergleich zu lediglich Gefallen signalisierenden Favs seien Retweets eine Art „harte Währung“, ähnlich wie Münzen, deren Wert allgemein festgelegt ist. Retweets erfüllen dabei eine Anerkennungs- und Distributionsfunktion.

In Kapitel 7 nimmt Paßmann auch eine historische Perspektive ein und zeigt rückblickend, wie sich Twitter im Verlauf der Zeit sowohl auf technischer als auch auf sozialer Ebene verändert hat. Dabei werden neben dem Wandel technischer Funktionalitäten auch die Auswirkungen einer zunehmend größeren Twitter-Gemeinde auf die Handlungsweisen und Bedeutungszuschreibungen zu den zentralen Praktiken des Favens und Retweetens diskutiert. So wird etwa nachgezeichnet, wie Retweets von einer ursprünglich reinen Wiederholung eines Beitrags zu einer wichtigen Maßeinheit für die Bedeutsamkeit eines Tweets geworden sind (S. 315 ff.).

Im Schlusskapitel resümiert Paßmann schließlich, dass sich auf der Social Media-Plattform Twitter eine Kultur des Gebens und Empfangens entwickelt habe, die durch technische Rahmenvorgaben und Innovationen ebenso geformt sei wie durch soziale Anwendungspraktiken. Diese Kultur sei zwar mit älteren Kulturen des Gebens und Nehmens vergleichbar, habe aber gleichzeitig auch etwas sehr Spezifisches: Insbesondere die Vagheit von Favs und Retweets sowie die ihnen inhärente interpretative Flexibilität seien ein zentrales Charakteristikum, das Twitter und die damit verbundene Kultur des Teilens zu etwas Besonderem macht.

Insgesamt legt Johannes Paßmann mit seiner Dissertationsschrift ein lesenswertes und gut verständliches Werk vor, das auch einer Twitter-unerfahrenen Leserschaft interessante Einblicke in die Nutzungspraktiken sowie die damit verbundenen sozialen Logiken und Dynamiken innerhalb des Microblogging-Dienstes bietet. Sowohl der ethnografische Zugang als auch die an vielen Stellen eingebauten durchaus persönlichen Anekdoten des Autors ermöglichen ein durchaus spannendes Eintauchen in die Twitter-Welt. Für theoretisch fokussierte Leser*innen bieten die zahlreichen Querbezüge zu klassischen (soziologischen) Theoriekonzepten und Paßmanns Versuche, Letztere auf den durchaus speziellen Twitter-Kontext anzuwenden, interessante Anregungen für weiterführende Überlegungen etwa im Hinblick auf soziale Interaktionsprozesse, Austauschbeziehungen und Machtstrukturen innerhalb des Microblogging-Dienstes. Wer jedoch auf der Suche nach objektiven, verallgemeiner- oder quantifizierbaren Forschungsergebnissen zu Nutzungsmotiven, Nutzungsgratifikationen oder Interaktionsstrukturen ist, wird in diesem Buch kaum fündig. Polarisieren dürfte auch die Strukturierung der Arbeit, die mit dem sehr umfangreichen und ausführlichen Einleitungskapitel schon vieles in Kurzform vorwegnimmt, was schließlich später im Buch wiederholt aufgegriffen und ausdifferenziert wird. An so mancher Stelle des Buches entsteht somit der Eindruck einer gewissen Redundanz.

Nichtsdestotrotz stellt Paßmanns Buch ein interessantes und wichtiges Werk dar – und das nicht nur aufgrund des vergleichsweise ungewöhnlichen methodischen Zugangs zum Forschungsfeld. Der Band sei all jenen empfohlen, die nicht primär den aktuellen Stand zur Twitternutzung vermittelt bekommen, sondern dahinterstehende Strukturen und soziale Logiken sowie deren Entwicklung näher verstehen wollen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Kommunikation Anthropologie / Ethnologie

Bernadette Kneidinger-Müller

Bernadette Kneidinger-Müller ist Juniorprofessorin für Soziologie mit Schwerpunkt Internet an der Universität Bamberg.

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