Klaus Schlichte | Veranstaltungsbericht |

Neues aus dem Sahel

Bericht vom 10. Jahrestreffen des „Réseau européen d’analyse des sociétés politiques“ in Paris, 8.-9. Februar 2018

Politik in Westafrika wird in Deutschland meist nur unter Schlagworten wie „Staatszerfall“, „Terror“, „Flucht“ oder „Migration“ thematisiert. In der medialen Berichterstattung erfährt man wenig bis nichts von den politischen, ökonomischen und sozialen Dynamiken der Region. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die westlichen Akteure, ihre Armeekontingente und Ministerbesuche. Auch sozialwissenschaftliche Beiträge zur politischen und sozialen Entwicklung in Mali, Niger, Burkina Faso, Tschad oder Mauretanien sind in Deutschland selten. Die deutsche Soziologie ignoriert den afrikanischen Kontinent nahezu systematisch, und so ist, wer sich informieren will, vor allem auf die Arbeit französischsprachiger Soziologen, Politologen und Ethnologen angewiesen.

Ein Überblick über aktuelle Forschungsarbeiten und -projekte wurde jetzt in Paris geboten: In Zusammenarbeit mit der französischen Entwicklungsagentur „Agence Française de Devéloppement“ hat das europäische Forschernetzwerk „Réseau européen d’analyse des sociétés politiques“ (REASOPO) sein zehntes Jahrestreffen den Regionen der Sahara und des Sahel gewidmet.

JEAN FRANCOIS BAYART  (CNRS, Paris), der Initiator des Netzwerks, verband in seinem einführenden Vortrag philosophisch inspirierte Sozialtheorie mit einer umfassenden Perspektive auf die Region. Unter dem Titel „La compénetration des durées: pour une lecture bergsonienne de l’Afrique occidentale“ stellte Bayart zunächst die Überlagerung von historischen Zeiten – im Sinne des „durée“-Begriffs Bergsons heraus: Auch im Sahel überlagerten und verbänden sich historische Erfahrungen in Beziehungsmustern, in kollektiven Identitäten und Imaginationen. Die vergangenen Zeiten seien aber gleichwohl präsent: Denn in den jüngst diskutierten Entwicklungen der Region könne man zahlreiche Muster erkennen, die auf eine lange Geschichte verweisen. Das gelte zunächst für die Einbettung der ganzen Region zwischen dem Maghreb und dem Golf von Guinea. Diese jahrhundertealten osmotischen Beziehungen hätten sich in der Kolonialzeit noch intensiviert.

Gängige historische Periodisierungen, die die Kolonialzeit zentral setzten, so Bayart, würden den Dynamiken und der Historizität der Region kaum gerecht. Er schlug stattdessen vor, die Region als einen Raum zu verstehen, in dem sich unterschiedliche „historische Lagen“ (terroirs historiques) überlagern und durchdringen. Unter Rückgriff auf die Philosophie Henri Bergsons könne man diese als „gegenseitige Durchdringung ununterbrochener Phasen“ („compénetration des durées“) bezeichnen.[1] Die vergangenen Reichsbildungen, nicht nur des französischen Kolonialismus, schimmerten als konfliktive Linien in den gegenwärtigen Prozessen durch. Kontinuitäten und Neuschöpfungen seien ebenso zu beobachten wie langanhaltende, häufig traumatische Erinnerungen – sowohl an die Zeit des Sklavenhandels und der feudalen Abhängigkeiten als auch an die bis in die 1940er-Jahre praktizierte Zwangsarbeit unter französischer Kolonialherrschaft.

Im Vorgriff auf die folgenden Beiträge der Tagung sprach Bayart von einem Prozess der Territorialisierung sehr unterschiedlicher „historischer Lagen“ (terroirs historiques). Die Anspielung auf den Weinbau sei durchaus illustrativ, denn auch darin würden sich unterschiedliche historische Prozesse niederschlagen und durchdringen, die Geschichten von Familien oder Regionen ebenso wie die Rolle von Weltmarktanbindungen oder Vermarktungsstrategien. Solche Analogien könnten indes nur zur Veranschaulichung dienen.

Die Staaten der Sahelzone seien in historischen Lagen verankert und folglich lasse sich auch die Politik in der Region nur über deren Kenntnis verstehen. Die auch in den Sozialwissenschaften so häufig zu beobachtende Reduktion vieler Ereignisse auf den Faktor „Ethnizität“ resultiere lediglich aus „Faulheit des Geistes“.

Die von den Veranstaltern im Tagungsprogramm thesenhaft behauptete „Territorialisierung des Staates“ in der Region des Sahel wurde dann im ersten Panel näher betrachtet. JULIEN BRACHET (Paris, IRD)[2] griff zunächst den gängigen Diskurs über die zwei „Krisen“ des Sahel auf, nämlich die Gefahr des Terrorismus und das Problem der irregulären Migration. Schon ein oberflächlicher Blick auf die Region zeige, so Brachet, dass Wanderungen von Menschen dort eher der Normalfall als eine krisenhafte Erscheinung seien. Der Sahel sei eine der klassischen Regionen des viehhaltenden Nomadismus und, seit der Kolonialzeit, der saisonalen Arbeitsmigration. Sowohl die politische Gewalt als auch die Wanderungen von Menschen basierten dort auf lange zurückreichenden Traditionen. Neu sei hingegen die jetzt in der Region vorherrschende Regierungsweise (gouvernement). Ein gutes Beispiel für diese Wandlung sei Niger: Neben drei französischen Militärbasen – Frankreich bezieht 80 Prozent des Urans für seine Atomindustrie aus Niger – sei dort inzwischen auch ein US-amerikanischer Stützpunkt entstanden, eine weitere militärische Niederlassung habe zudem die deutsche Bundesregierung bereits angekündigt. Diese beiden neuen Militärbasen seien ohne parlamentarische Kontrolle in Sonderverträgen direkt mit der nigrischen Regierung vereinbart worden.

Allein die US-amerikanische Einrichtung in Agadez habe schätzungsweise 100 Millionen US-Dollar gekostet. Von dieser Basis aus würden nun mittels Drohnen die regionalen Wanderungsbewegungen überwacht. Diese neuen Observationen ergäben jedoch weder Aufschluss über die Entwicklung politischer Gewalt in der Region, noch hätten sie einen Einfluss auf die Ströme irregulärer Migration. Letztere hingen vor allem von der Bevölkerungsentwicklung und der Beschäftigungslage im subsaharischen Afrika ab. Die Militarisierung der Anti-Migrationspolitik gehe aber noch weiter. Auch die EU sei mit einem Außenposten in Agadez vertreten, hätte für ihren Jahresetat von 25 Millionen Euro jedoch Mittelabflussprobleme. Die Internationale Organisation für Migration engagiere sich ebenfalls in Niger bei der Ausbildung von Polizisten, und schließlich kriminalisiere die nigrische Regierung durch ein 2015 verabschiedetes Gesetz Migranten aus ganz Westafrika, obwohl diese nach internationalen Abkommen eigentlich legal einreisen dürften. Militarisierung und Entdemokratisierung seien kennzeichnend für das neue Grenzregime in Niger.

STEN HAGBERG (Uppsala) schilderte in seinem Vortrag Vigilantismus in Burkina Faso und Mali. Das häufig gezeichnete Bild dieses Phänomens als Ausdruck krisenhafter Staatlichkeit sei jedoch trügerisch. In Mali betrachte die Bruderschaft der „dozos“ sich als Verteidiger der Republik – sie habe spontane Lynchjustiz weitgehend eingehegt und führe Verdächtige der Gendarmerie zu, während die Kogleweogo-Gruppen in Burkina Faso ein problematischeres Verhältnis zur nationalen Polizei hätten. Aber auch in diesen Gruppen gebe es ein Rechtsstaatsbewusstsein. Das würde am diskursiven Bezug zum Recht deutlich.  Mit diesem Befunden bestätigte auch Hagberg, dass die pauschale These des „Staatszerfalls“ in Afrika in Widerspruch zur faktisch ausgreifenden sozialen Kontrolle durch Akteure steht, die zum Staat zwar in einem durchaus ambivalenten Verhältnis stehen, aber staatliche Herrschaft nicht notwendig unterminieren.

BORIS SAMUEL (Paris, CERI)[3] stellte in seinem Vortrag das Umsichgreifen nationaler und internationaler statistischer Programme und Erhebungen als Vorgang einer Territorialisierung der Politik vor. In einer Region, in der selbst zur Zeit des französischen Kolonialismus eine föderale Struktur vorgeherrscht habe, sei nun der Prozess der Formation des Staates über bürokratische Repräsentationen in vollem Gange: Immer enger werde das Netz der statistischen Beschreibung, als deren semantisches Hauptprodukt der Nationalstaat immer stärker hervortrete. Zugleich habe sich dieser Prozess der statistischen Produktion internationalisiert: Für das ganze Gebiet des ehemaligen „Französisch-Westafrika“ (1895–1958) seien Dakar und Abidjan die Ausbildungszentren, in denen globale Standards unterrichtet würden. Eine ganze Reihe von heute führenden Politikern der Region habe Karrierestufen in internationalen Organisationen durchlaufen und würde das Sprachspiel der internationalen Statistik perfekt beherrschen. Eine besonders markante Episode in der Geschichte von der Geburt des Staates aus dem Geist der Statistik sei die Geschichte des 1957 unabhängig gewordenen Ghana: Dort habe der erste Präsident Kwame Nkrumah eine eigene, nur für sein Land geltende statistische Registratur entwickelt.

In dem ersten Panel wurde damit deutlich, dass mit den Effekten der Territorialisierung – verstanden im klassischen Sinn der Gebietskontrolle – auch starke Tendenzen der Internationalisierung und Deterritorialisierung des Regierens einhergehen. Von ähnlich paradoxen Entwicklungen handelte auch der zweite Teil der Tagung, der auf die „terroirs historiques“ an mehreren Fällen noch einmal konkreter einging.

Einen direkten Anschluss zu den unter Rekurs auf Bergson entwickelten Thesen Bayarts stellte ARMANDO CUTOLO (Siena) mit seinem Beitrag zur „zone de confiance“ in der Côte d’Ivoire her. Diese, die Landesmitte seit dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2007 durchziehende Pufferzone, könne als Musterfall für eine „historische Lage“ gelten, sei doch die gleiche Zone bereits während der Kolonialzeit als Grenzgebiet zwischen ethnischen Gruppen kodifiziert, aber auch von den damaligen Kolonialverwaltern schon als Zone des „Chaos der Rassen“ bezeichnet worden. Und auch noch weiter zurück im 19. Jahrhundert sei das Gebiet eine Grenzzone gewesen, nämlich am Rand des Kong-Reiches, das seinen Aufschwung im 18. Jahrhundert erlebt habe. Ähnlich wie in Südosteuropa oder an den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion markierten somit auch in Westafrika alte historische Grenzzonen bis heute Bruchlinien politischer Herrschaft.

In ähnlicher Weise charakterisierte auch IBRAHIMA POUDIOUGOU (Rabat/Turin) die Ergebnisse seiner Forschungen zu sozialen Konflikten in einer malischen Region südlich der Stadt Djenné. Gleichermaßen überzeugend wie ausführlich schilderte er, wie sich überlagernde Rechtssysteme dazu beitragen, die traditionell sowohl zwischen Bauern und Nomaden als auch zwischen Familien, Lineages und Dörfern geführten Konflikte um Landrechte zu verschärfen. Jüngst habe sich die Lage noch durch ein geplantes Bewässerungsgroßprojekt der Regierung verkompliziert, das zahlreiche Enteignungen mit sich bringe. Und schließlich seien die Effekte der UN-Mission in Mali mit ihrem Anti-Terror-Paket nicht kalkulierbar. An diesem Fall wurde erkennbar, dass sich auch in Mali kein „Zerfall“ politischer Herrschaft ereignet, sondern dass sich soziale Probleme vielmehr aus der fortschreitenden Überlagerung von Herrschaftsschichten ergeben.

Wer meinte, dass die von Poudiougou skizzierte Situation komplex sei, dem erklärte CHRISTIAN SEIGNOBO (Arles), warum die Lage rund um den Tschadsee herum noch verfahrener ist. Das Gebiet sei traditionell ein Eldorado für viehhaltende Nomaden, aber auch hier hätten sich die Konflikte zwischen diesen und den in der Region ansässigen Bauern in den letzten Jahren verschärft. Zugangs- und Weiderechte seien stärker als früher umstritten, neue Überschwemmungsgebiete seien hinzugekommen, und schließlich sorge eine Krise der Familienordnungen für die Instabilität einmal getroffener Regelungen. Außerdem befinde sich Boko Haram auch in dieser, von einer schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise betroffenen Region weiter auf dem Vormarsch.[4] Die Regierungen der vier betroffenen Länder rund um den Tschadsee (Tschad, Kamerun, Nigeria und Niger) reagierten ganz unterschiedlich auf die ebenfalls häufig mit Gewalt verbundenen Auseinandersetzungen: Während Nigeria erwäge, Nomadismus vollständig zu untersagen, und die tschadische Regierung Nomaden von Soldaten begleiten lasse, strebe die Regierung Nigers eine umfangreiche gesetzliche Regelung des Grenzverkehrs an. Einzig Kamerun habe bisher noch gar keine Initiative gezeigt.

Im zweiten Panel der Tagung wurde damit deutlich, dass sich in der Region soziale Krisen auf unerwartete Weise mit einem Ausgreifen staatlicher und anderer Formen politischer Herrschaft verbinden, ein Befund, der den gängigen Auffassungen von „schwachen Staaten“ widerspricht, auf die neben anderen auch die Europäische Union mit einem Ausbau der Sicherheitsapparate reagiert.

Das dritte Panel widmete sich unter der Überschrift „Regieren in der Gewalt“ den politischen Dynamiken innerstaatlicher Kriege, denen zumeist anomische Tendenzen zugeschrieben werden. Die Ethnologin LOUISA LOMBARD (Yale) begann mit der Vorstellung ihrer Forschungen zur politischen Gewalt in der Zentralafrikanischen Republik, eine Thematik, die bis heute einen weißen Fleck auf der Landkarte der politischen Soziologie darstellt.[5] Sie grenzte sich dabei von den weiten Gewaltbegriffen mancher Ethnologen ab und folgte der Forderung von Randall Collins, physische Gewalt als gesonderten Gegenstandsbereich zu behandeln, weil ihre Erforschung andere methodische Voraussetzungen und theoretische Anforderungen stelle, als die Untersuchung struktureller Zwänge oder sozialer Ungleichheiten. Wie Lombard ausführte, habe sie in ihren Arbeiten eine ältere These Bayarts bestätigt gefunden, der zufolge die „Delinquenz des Staates“ nicht unbedingt eine Schwächung staatlicher Herrschaft bedeuten müsse. Trotz seiner jahrzehntelang anhaltenden Dauerkrise sei der Staat Zentralafrikanische Republik eben bislang nicht zerfallen, sondern bilde – wie andere Staaten auch – einen Flickenteppich von Agenturen: So gebe es beispielsweise neben einem dysfunktionalen Schulsystem eine hochmilitarisierte Agentur zur Bekämpfung der Wilderei. Auch die sich islamistisch gerierende Rebellenbewegung Séléka, deren Anhänger 2013 vorübergehend die Hauptstadt Bangui eingenommen hatten, lasse sich nicht als antistaatlicher Akteur begreifen. Basierend auf Interviews mit diesen Rebellen interpretierte Lombard deren Gewalt als „Artikulationsgewalt“, mit der sich die marginalisierte Jugend des Landes national wie international Beachtung verschaffen wolle.

Dass vieles von dem, was in europäischen Medien als religiös motivierte Gewalt rubriziert wird, in Wahrheit Ausdruck komplexer sozialer Krisen ist, machte auch der Beitrag von CLAUDE MBOWOU (Paris Panthéon-Sorbonne) deutlich. Seine Untersuchungen zur Logik der Rebellion, die als Boko Haram-Bewegung den Norden Kameruns erreicht hat, zeigten vor allem, welche Eigendynamiken die politische Gewalt auslöst: Vieles habe sich durch die Rebellion verändert, die Erhebung und Redistribution der islamischen Sozialabgabe „zakat“ ebenso wie die Muster der Landnutzung. Der Zulauf zu und die Unterstützung für Boko Haram lasse sich zu Teilen durchaus als Revolte der Subalternen interpretieren, die sich gegen eine mit der Zentralregierung kooperierende lokale Elite richte. Die Rebellion sei zudem in Teilen ein Aufstand der Bauernschaft, die sich in starker Abhängigkeit von lokalen Händlern befände. Aber auch unter den „Islamisten“ gebe es eine Regierung: Boko Haram stehe dort, wo sie faktisch die Gebietskontrolle übernommen habe, vor den gleichen Fragen und Problemen wie andere Rebellengruppen auch: So müssten sie zum Beispiel mit den Viehhaltern um die Höhe des „zakat“ verhandeln. Eine eigendynamische Eskalationswirkung habe die mit Boko Haram einsickernde Gewalt insofern gehabt, als sie Schmuggelnetzwerke expandieren ließ, was wiederum die repressiv agierenden staatlichen Sicherheitsapparate auf den Plan gerufen habe. Kamerun habe zudem – im Gegensatz zu Mali, Kenia oder Nigeria – bislang keine Amnestie- oder Rückkehrerprogramme aufgelegt, was eine friedliche Regelung des Konflikts erschwere.

Stärker auf laufende Debatten in der Politikwissenschaft bezogen war der Beitrag von DIDIER PÉCLARD (Genf). Unter Rekurs auf die Arbeiten der von ihm geleiteten Forschungsgruppe zur Formation des Staates im Krieg argumentierte er anhand der Fälle Angolas, der Côte d’Ivoire und des Südsudan für die These, dass Krieg nicht notwendig die Auflösung staatlicher Herrschaft bewirke, sondern ebenso herrschaftsverstärkende Effekte zeitigen könne. Péclard kritisierte vor diesem Hintergrund die in der Politikwissenschaft dominante Bezeichnung der „rebel governance“. Die in diesem Kontext geleisteten Forschungen hätten durchaus ihre Verdienste, nicht zuletzt, weil sie die Verkürzung der Bürgerkriegsforschung auf materielle Interessenlagen als Kausalerklärung hinter sich gelassen hätten und nun auch Fragen nach den Modi des Regierens im Krieg zugelassen seien. Letztlich aber seien die Leitbegriffe der „Governance“ und des „state-building“ zu stark normativ und teleologisch ausgerichtet und deshalb unbrauchbar. Interessanter seien die Dynamiken der Legitimierung und Delegitimierung von Gewalt, wie sie in der Mikropolitik bewaffneter Gruppen erkennbar würden.[6]

Ebenfalls im letzten Panel stellte OUSMANE ZINA (Bouaké, Côte d’Ivoire) schließlich das Paradox vor, dass in der Côte d’Ivoire trotz des Kriegsendes seit 2014 ständig Meutereien, kleinere Aufstände und Fraktionskämpfe in der Armee sowie Gewaltdrohungen der Demobilisierten an der Tagesordnung seien, während sich zeitgleich ein ökonomischer Boom in dem Land ereignet habe. Zinas Erklärungsversuch stellte auf die Gleichzeitigkeit formeller und informeller Politik im und um das Militär ab. Meutereien seien inzwischen Routine. Die Schaffung persönlich loyaler Spezialeinheiten habe mindestens vorübergehend stabilisierend gewirkt, während in der Bevölkerung die Angst vor einem Rückfall in den Bürgerkrieg mäßigend wirke. Auch in diesem Fall seien die ehemaligen, jetzt an der Regierung beteiligten Rebellen der Forces Nouvelles keineswegs als staatsauflösende Bewegung zu verstehen. Ihr Anführer, Guillaume Soro, habe schon vor dem Krieg als Studentenführer mit seinen späteren Kriegsgegner debattiert. Man könne ihn als einen wahren „Staatsmann“ bezeichnen. Nicht vollkommene Regellosigkeit der Gewalt, sondern inzwischen etablierte Muster der kontrollierten Provokation prägten die Beziehungen zwischen diesen Akteuren, die seit Jahrzehnten im gleichen politischen Feld interagieren.

Nicht nur für die „Agence Française de Devéloppement“ hielten die Vorträge hochgradig relevante Informationen bereit. Wie Vertreter_innen der Organisation, in deren Räumen am Gare de Lyon die Veranstaltung stattfand, während der Tagung mehrfach hervorhoben, habe sich in ihrer Politik der Dreiklang der „3D“ – défense, diplomatie, devéloppement – längst durchgesetzt. Auch in Frankreich seien Entwicklungs- und Sicherheitspolitik inzwischen zu einem Diskursfeld verschmolzen. Doch dass die Militarisierung der Entwicklungspolitik keine zureichende Antwort auf die sozialen und ökonomischen Krisen des Sahel ist, die sich politisch äußern, konnten alle Teilnehmer_innen erkennen.

Eine andere Pointe der Veranstaltung ergab sich aus dem Kontrast zu einem Aspekt, auf den Rebekka Habermas in ihrem zur Eröffnung der Tagung im Deutschen Historischen Institut gehaltenen Abendvortrag aufmerksam gemacht hatte. Unter dem Titel „L’histoire coloniale allemande – silences et scandales au Togo“ hatte sie darauf hingewiesen, dass es damals nicht die Vorgänge in Afrika waren, die darüber entschieden, wann und wie im Reichstag über Afrika diskutiert wurde, sondern die Befindlichkeiten und Interessen der dort involvierten deutschen Akteure. Wie es scheint, gibt es da eine koloniale Kontinuität.

  1. Für einen Abriss der Argumentation vgl. den Beitrag Une critique politique de la mémoire: leçons d’Afrique (et d’ailleurs) auf dem Blog des Autors.
  2. Auch nach knapp zehn Jahren immer noch lesenswert: Julien Brachet, Migrations transsahariennes. Vers un désert cosmopolite et morcelé (Niger), Bellecombe-en-Bauges 2009.
  3. Vgl. u.a. Boris Samuel, Etudier l’Afrique des grands nombres, in: Annales histoire sciences sociales 71 (2016), 4, S. 897–922.
  4. Siehe dazu Christian Seignobo, Chronique d’un siège. Boko Haram dans le lac Tchad 2015–16, in: Afrique contemporain, 259 (2016), S. 139–167.
  5. Die Ausnahme, die die Regel bestätigt, stammt von ihr selbst. Vgl. Louisa Lombard, State of Rebellion. Violence and Intervention in the Central African Republic, London 2016.
  6. Vgl. Klaus Schlichte, In the Shadow of Violence. The Politics of Armed Groups, Frankfurt am Main/Chicago, IL. 2009.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Internationale Politik Staat / Nation

Klaus Schlichte

Klaus Schlichte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen und leitete dort von 2012 bis 2015 die exzellenzgeförderte Graduate School für Sozialwissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie internationaler Politik und politische Gewalt in historischer Perspektive.

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