Martin Bauer | Veranstaltungsbericht |

Zugehörigkeit kreolisieren

Einige Randnotizen zu den Adorno-Vorlesungen „Race, Culture, History“ von Linda Martín Alcoff vom 29. Juni bis 1. Juli 2022

Was ist unter einer sozialen Konstruktion zu verstehen? Minimalistisch lassen sich soziale Konstruktionen als die intentionalen Gegenstände definieren, auf die sich gewisse Sätze beziehen: „Der Vertrag ist ungültig.“ „Man geht bei Grün über die Ampel.“ „Die Moderne beginnt 1750.“ Solche Sätze gehören in der einen Gesellschaft zum Sprachgebrauch, in einer anderen sind oder waren sie ungebräuchlich. Also führt schon der Vergleich von Sprech- und Schreibgewohnheiten vor Augen, dass soziale Konstruktionen offenbar keine überzeitlichen Wesenheiten bezeichnen. Sie sind kontingent. Wird vorstellbar, dass sich Verträge, Regeln und Epochen auch anders konstruieren lassen, etwa durch Veränderungen des Sprachgebrauchs, verlieren soziale Konstruktionen ihre vermeintliche Naturwüchsigkeit. Sie werden kritisierbar. Und dann kann auch gefragt werden, welche Mächte und Akteure auf den Sprachgebrauch einwirken, um festzulegen, was in einer Gesellschaft sag- beziehungsweise unsagbar ist. Ganze Sprachspiele lassen sich in dieser Weise kritisch als Produkte von Machteffekten dechiffrieren, womit zugleich die ontologischen, epistemologischen und normativen Festlegungen problematisch werden, die in gegebene Sprachspiele eingelagert sind. Und da solche Sprachspiele – sie werden auch als ‚Diskurse‘ oder ‚Narrative‘ angesprochen – unsere Welt- und Selbstverhältnisse mitkonstituieren, verfügt eine sozialkonstruktivistisch angelegte Beobachtung von Gesellschaft über ein weites Feld möglicher Gegenstände. Sie kann die Konstruktionen kritisieren, die in subjektiven Selbstbeziehungen von Bedeutung sind, selbstverständlich aber auch analysieren, mithilfe welcher Konstruktionen sich Individuen und Kollektive ihre objektiven Weltverhältnisse einrichten. Bei der Etablierung derartiger Relationen kommt Klassifikationen eine grundlegende Funktion zu. Ob wir etwas als eine Maschine oder intelligentes Lebewesen einordnen, das mit Zeichen kommuniziert, ist ausschlaggebend für unser weiteres Verhalten. Radikal sozialkonstruktivistische Positionen gehen in ihrer Kritik an sozialen eingespielten Klassifikationspraktiken sogar so weit, zu bestreiten, dass die intentionalen Gegenstände, auf die gewisse Sätze Bezug nehmen, überhaupt existieren. Sie ziehen in Zweifel, dass den sozialen Konstruktionen dort draußen in der Wirklichkeit etwas entspricht. Behauptet eine Biologin, die Natur kenne nur zwei Geschlechter, halten sie dagegen, diese Unterscheidung sei lediglich ein Konstrukt wie all die anderen Binarismen, die in wissenschaftlichen Diskursen und der Alltagsverständigung zum Einsatz kommen. Damit lösen sie in der Regel eine Reihe von Rückfragen aus: Wie hat man sich eine Welt vorzustellen, in der die Einteilungen, mit denen wir unsere Beobachtungen klassifikatorisch sortieren und an denen sich unsere Kooperationsbereitschaften ausrichten, als bloße, machtdurchtränkte Fiktionen gelten? Was wird im Lichte dieser machtkritisch animierten Diskurskritik beispielsweise aus Arten im Tierreich, Organisationen wie Behörden oder Firmen, sozialen Entitäten wie Gruppen, Schichten oder Klassen, kurz: aus den Identitäten, mit denen wir unser Dasein in Natur wie Kultur beschreiben? Verwenden solche Beschreibungen tatsächlich nur Etiketten, deren Sinn fragwürdig ist, weil ihr angeblicher Gegenstandsbezug ins Leere läuft?

In ihren mit der Begriffstrias „Race, Culture, History“ überschriebenen Adorno-Vorlesungen hat Linda Martín Alcoff diesem Sozialkonstruktivismus vorgehalten, ein unzureichendes Instrument für eine Kritik des Rassismus zu sein. Wird mehr oder weniger kategorisch bestritten, dass ‚race‘ einen objektivierbaren Gegenstandsbezug besitze, weshalb der Begriff ersatzlos aus dem sprachlichen Verkehr gezogen werden könne, schieße die Rassismuskritik über ihr Ziel hinaus. Eine zureichende Kritik müsse vielmehr die Realität von ‚race‘ and ‚racial identities‘ zur Kenntnis nehmen, sie genealogisch hinterfragen, das heißt rassistische Klassifikationspraktiken und ‚social identities‘ ganz generell als historisch gewachsene, kulturelle Gebilde verstehen. Erst diese Historisierung liefere die Ansatzpunkte für kritische Einsprüche, welche die Chance haben, nicht bloß Sprachspiele zu modifizieren, sondern rassistisch überformte Wirklichkeiten effektiv zu verändern. So lautete das auf einen sozialhistorischen Realismus verpflichtete Theorieprogramm, mit dem die aus Panama gebürtige Philosophin, die als Kind mit ihren Eltern in die USA emigrierte, in Frankfurt am Main auftrat. Angereist war Alcoff aus New York City, wo sie als Professorin am Hunter College sowie am Graduate Center der City University of New York lehrt. Hervorgetreten ist sie mit einer Serie von Publikationen zu epistemologischen Problemstellungen, zum Feminismus, zur postkolonialen Theorie und zuletzt mit einem Buch über sexuelle Gewalt.

Die Kritische Theorie provinzialisieren

Traditionsgemäß hatte das Frankfurter Institut für Sozialforschung in Kooperation mit dem Suhrkamp Verlag zu den drei Vortragsabenden vom 29. Juni bis 1. Juli eingeladen. In diesem Jahr sollte auf dem alten Campus der Frankfurter Universität in Bockenheim ein Dialog zwischen Kritischer Theorie und Postkolonialismus angestoßen werden, der zu einer „Provinzialisierung der Kritischen Theorie“ führen müsse – wie es Stephan Lessenich, seit Jahresbeginn der neue Direktor des Instituts, in seinen einleitenden Worten formulierte. Seine Anspielung auf Dipesh Chakrabartys vor mehr als zwei Jahrzehnten publiziertes Buch Provincializing Europe, mittlerweile ein Klassiker postkolonialer Theoriebildung, war unüberhörbar. Da „die koloniale Erfahrung“ nicht in die Theorieform eingegangen sei, welche die Gründerväter der Kritischen Theorie konzipiert hatten, stehe deren Revision an. Also begrüßte der Soziologe Lessenich Alcoffs „De-Individualisierung und De-Psychologisierung des Rassismus“ als willkommenes Angebot, Bornierungen der Kritischen Theorie auf die Spur zu kommen, um sie im Lichte eines dekolonialen Denkens zu korrigieren.

Auch wenn Alcoff gleich zu Beginn versicherte, die Kritische Theorie sei prägend für ihre Arbeit als Philosophin gewesen, ging sie im Verlauf ihrer Vorlesungen mit keinem weiteren Wort auf den Namensgeber der Vorlesungsreihe ein. So war die kritische Theorie, die Alcoff präsentierte, eine ‚Critical Race Theory‘, deren Verhältnis zur Tradition der Frankfurter Schule unthematisiert blieb. Dabei wäre es naheliegend gewesen, hätte Alcoff ihre Auseinandersetzung mit dem Rassismus als diskriminierender Klassifikationspraxis etwa mit Adornos Kritik einer Rationalität konfrontiert, die das Nicht-Identische systematisch ausblendet. Auch Adornos dialektische Pointe, Identität sei mit Hegel als emanzipatorischer Prozess zu fassen, gegen Hegel jedoch als identifizierende, gleichsam erkennungsdienstliche Praxis infrage zu stellen, hätte Alcoff produktiv irritieren können, trug ihre realistische Version der ‚Critical Race Theory‘ doch unübersehbar kommunitaristische Züge. Im Laufe ihrer Kritik des Sozialkonstruktivismus wurde immer deutlicher, dass sie ‚racial identities‘ – wie ‚social identities‘ generell – letztlich als gemeinschaftlich erfahrene Zugehörigkeiten verstanden wissen will, deren individuelle wie kollektive Bedeutung gewürdigt, ja unter bestimmten Umständen – siehe „black lives matter“ – wertgeschätzt werden müsse. Also warf sie einem Sozialkonstruktivismus, der sich solchen Erfahrungswelten nicht stellt, einen eklatanten Mangel an historischem Sinn vor. Da er Identitäten zu kontingenten Zuschreibungen, gewissermaßen zu rein linguistischen Gepflogenheiten degradiere, übersehe er, was die genealogische Rekonstruktion derartiger Identitäten enthülle, dass es sich in Wahrheit um geschichtlich gewachsene Zugehörigkeiten handle. Die Philosophin mit Migrationshintergrund stellte heraus, dass Identitäten stets auf „Lebensformen“ verweisen, also auf innerhalb einer Gemeinschaft geteilte Werte, auf Bindungen an Orte, an Traditionen und historische Ereignisse, auf kulturelle Ausdrucksformen, schließlich auch auf familiale Strukturen. Aus diesem Grund sei die Fremd- oder Selbstzuschreibung soziokultureller Identitäten mehr als eine beliebige, womöglich politisch instrumentalisierte oder instrumentalisierbare Klassifikationspraxis.

Identität als Zugehörigkeit

Weit davon entfernt lediglich austauschbare Etikettierungen in Umlauf zu setzen, forme Identität als Zugehörigkeit motivationale und epistemische Einstellungen, Verhaltensdispositionen und Sichtweisen. Eine solche Gestaltung individueller wie kollektiver Subjektivitäten könne nicht nachvollzogen werden, ohne der Mitwirkung derer Rechnung zu tragen, denen Identitäten oktroyiert werden und die sich ihrerseits Zugehörigkeit attestieren, womöglich im Widerspruch zu sozial eingespielten Klassifikationen. Da der Sozialkonstruktivismus dazu tendiere, sich von historischer Analyse zu entbinden, entgehe ihm der soziale Sinn von Zugehörigkeit, was sich nicht zuletzt in einem Verständnis von Macht niederschlage, das die Widerständigkeit ihrer Opfer unterschätze.

Unmissverständlich wies Alcoff damit biologistische Rassismen zurück, meldete im gleichen Atemzug aber Zweifel an sozialkonstruktivistischen Versuchen an, Identitätskategorien und deren Funktion für die Sortierung von Bevölkerungen auf machtdurchtränkte Sprachspiele zu reduzieren. Derartigen Initiativen, den Rassismus zu kritisieren, lastete sie das Unvermögen an, den historischen Dynamismus anzuerkennen, aus dem Zugehörigkeiten hervorgehen und dem sie als Markierungen von Identität ausgesetzt bleiben. Von daher bezeichnet Identität als Zugehörigkeit für Alcoff keine feste Größe, vielmehr bleibt sie dem Fluss des historischen Geschehens ausgesetzt, verändert sich mit ihm und ist einbezogen in die soziokulturellen Aushandlungen, die sich in Zugehörigkeiten sedimentieren. Sind ethnische und andere soziale Identitäten der Ausfluss von Lebensformen, so verlangt deren Analyse laut Alcoff den Nachvollzug derjenigen historischen Ereignisse, aus denen solche Lebensformen und ihre materiellen Grundlagen hervorgegangen sind. Insofern verpflichtete sie die Critical Race Theory darauf, soziokulturellen Identitäten in hermeneutischer Einstellung zu begegnen. Werde die konstitutive historische Situiertheit von Zugehörigkeiten ignoriert, könne nicht verstanden werden, dass ‚racial identities‘ ein Produkt soziohistorischer Konfliktkonstellationen darstellen, an denen selbst diejenigen, denen Identitäten aufgezwungen werden, mitwirken – und sei es mit nur begrenzter eigener Handlungsmacht.

Aus Alcoffs kommunitaristischem Verständnis von Identität als Zugehörigkeit folgt, dass Identitäten stets partikular sind – ganz so wie es schlechthin für Lebensformen typisch ist. Eine universale Lebensform ist ebenso undenkbar wie das Phantom universaler Zugehörigkeit. Folglich hielt die Philosophin mit Stuart Hall fest, dass „the substance of racial identities“ immer lokal sei. Dementsprechend tritt auch der Rassismus stets in partikularer Gestalt auf, weshalb von einem universalen Rassismus in Alcoffs historisierender Optik eigentlich nicht die Rede sein kann. Weil Rassismen ihrerseits lokal, partikular, situiert sind, greift eine Kritik zu kurz, die in schlechter Abstraktion davon absieht, derartige Rassismen ihrerseits soziohistorisch zu kontextualisieren.

‚Whiteness‘

In diesen Zusammenhang gehörten Alcoffs Ausführungen zu „whiteness“, die exemplarisch illustrieren sollten, wie eine kritische Genealogie von Identitäten zu verfahren habe. Was es bedeutet, weiß zu sein, erschließt sich Alcoffs Rekonstruktion zufolge allein aus dem historischen Faktum kolonialer Landnahme: ‚Weiße‘ waren und sind diejenigen, die im Gegensatz zu den Versklavten auf dem nordamerikanischen Kontinent zwar zu Zwangsarbeit genötigt, also auch ihrer Freiheit beraubt wurden, sich jedoch das Recht auf fortgesetzte, gewalttätige Landnahme nahmen und es schließlich auch juristisch kodifizierten. Aufgrund der (Selbst-)Zuschreibung dieser „social power“ unterschieden sich noch die pauperisierten Einwanderer aus Europa sowohl von der entrechteten indigenen Bevölkerung als auch von den aus Afrika verschleppten Sklav:innen, die ganz Eigentum der Plantagenbesitzer waren, ihnen zwecks beliebiger Nutzung zur Verfügung standen. „Weiß-sein“ erweist sich dieser Genealogie zufolge als eine Zugehörigkeitsmarkierung, die im sozialhistorischen Umfeld einer ihrer Natur nach gewaltaffinen Siedlergesellschaft der Selbstermächtigung zur Kolonisierung diente. Wie aktualisierbar dieser soziale Sinn von Weiß-Sein bis auf den heutigen Tag sei, fand Alcoff durch Fälle weißer Gewalt gegen Nicht-Weiße belegt, in denen Schwarze erschossen werden, ohne dass es auf der Seite der Täter auch nur die Spur eines Zweifels daran gibt, zur Verteidigung ihrer Lebensräume gegen joggende Eindringlinge autorisiert zu sein.

Alcoff betonte, dass Rassismen in der ihnen eigenen, je spezifischen Ausprägung ebenso wie ,racial identities‘ eingebunden seien „in the always contested patterns of social and material life at all levels“. Dass soziale Identitäten nie unumstritten sind, erklärt im Übrigen, warum ,der deskriptive Gehalt‘ einer Identitätskategorie die damit bezeichnete Zugehörigkeit nicht einfach namhaft macht. Vielmehr koproduzieren Behauptungen wie Zugehörigkeit beruhe auf diesen oder jenen Ursachen deren konfliktuelle Realität. Weil zur Formierung jeder sozialen Identität nach Alcoffs Verständnis diese produktive Dimension gehört, erfasst Zugehörigkeit keine Gruppen geschichtsloser Individuen, also blutleere Abstrakta, sondern vergemeinschaftete Personen, deren Subjektivität zutiefst durch die ihnen attestierte Identität affiziert wird. Von daher, so Alcoff, wählen wir mit der Bestimmung von Identitäten nicht nur gewisse soziale Entitäten aus, sondern ermutigen durch unsere Sortierungen zugleich dazu, diese und nicht andere Differenzen zwischen Gruppen für signifikant zu halten. Die Eigenschaften, die in der Absicht selektiert werden, eine soziale Identität auszuweisen, wirken auf das Verhalten der Mitglieder der in dieser Gestalt dann ermittelten Gruppe zurück. So unbestreitbar nützlich für jede Variante von Interaktion die Kategorisierung sozialer Identitäten ist – Alcoff wies im Geiste ihres Realismus darauf hin, dass derartige Zuschreibungen etwa Verhalten, Wohnsitz, Berufschancen, medizinische Versorgung etc. prognostizierbar machen –, so naiv wäre es, diese Sortierfunktion für harmlos zu halten. Nach Alcoff sind nicht zuletzt die normativen Implikationen im Auge zu behalten, die in die Kategorisierung von Gruppen und ihren Zugehörigkeiten eingehen, wirken sie doch im positiven wie negativen Sinne an der Verteilung von Lebenschancen mit. Unter Umständen entscheidet schon ein Familienname über die Aussichten auf dem Wohnungsmarkt.

Die Unverzichtbarkeit von ‚identity politics‘

Versteht man Identitäten mit Alcoff als Zugehörigkeiten, das heißt als die Bezugnahme auf gemeinschaftliche Lebensformen, stellen sie sich in der Binnenoptik derer, die solche Lebensformen teilen, als ein Ensemble unterschiedlicher Bindungen dar. In ihnen werden Relationen zu geschichtlichen Ereignissen, zu Sitten und Gebräuchen, zu Sprechweisen, kulturellen Expressionsmustern, aber auch zu Familienangehörigen, Nachbarn und Lokalitäten manifest. Derartige Relationsgefüge können, wie Alcoff unterstrich, nicht gewählt werden. Es sind Gegebenheiten, die im Modus ihrer individuellen wie kollektiven Aneignung vorgefunden werden. Gerade weil Zugehörigkeiten, was kommunitaristische Positionen mit ihrer Kritik an liberalen Sozialontologien in der Regel nachdrücklich unterstreichen, weder kontraktueller noch volitiver Natur sind, müsse – so Alcoff, die sich einer Formulierung des marxistischen Kulturtheoretikers Raymond Williams bediente – eingesehen werden, „why the politics of identity should be so essential to our life now“.

Mit diesem Bekenntnis zur Unabdingbarkeit einer ‚politics of identity‘ bekräftigte Alcoff ein weiteres Mal ihre Skepsis gegenüber der sozialkonstruktivistischen These, kategoriale Identitätszuschreibungen und gesellschaftlich eingespielte Klassifikationspraktiken seien ‚nichts anderes‘ als kontingente Sprachspiele. Zu meinen, in ihnen kämen ausschließlich die top-down Machtstrategien politischer Eliten zum Ausdruck, die sich durch Korrekturen des Sprachgebrauchs aushebeln ließen, verkennt in Alcoffs Augen den Sitz von Zugehörigkeit im sozialen Leben. Demgegenüber vertrat die Philosophin die Überzeugung, gerade die Untersuchung der komplizierten Verbindungen, die in einer gleichermaßen vorgefundenen wie positiv angeeigneten Lebensform den Kontakt mit uns und anderen stiften, stelle uns erst vor die für unser Leben entscheidenden moralischen Fragen: ‚Was sind meine Obligationen und wem gegenüber habe ich sie wahrzunehmen? Was sind meine Möglichkeiten?‘

Welchen außerordentlichen Stellenwert Alcoffs Sozialtheorie der Zugehörigkeit beimisst, verdeutlicht der Umstand, dass sie die ihrer Meinung nach moralische Grundfrage – Was schulden wir einander und uns selbst? – als eine Problemstellung fasste, die erst auf der Basis erfahrener Zugehörigkeit aufkomme, also im Binnenraum einer definitionsgemäß partikularen Lebensform. Bemerkenswert ist zudem, dass Alcoff folgerichtig die Ansicht vertritt, diese moralische Grundfrage sei auch nur im Horizont derjenigen Bindungen und Beziehungen sinnvoll beantwortbar, die eine Lebensform aufspannen. Ausgeschlossen werden damit Theorien, die – man denke an Habermas als einen Vertreter der Kritischen Theorie – dafür argumentieren, dass Maximen unseres Handelns ihre genuin moralische Qualität erst dadurch gewinnen, dass sie diejenigen Limitierungen transzendieren, die mit der Zugehörigkeit zu einer Lebensform einhergehen. Was sonst postuliert Kants kategorischer Imperativ? Alcoff hingegen blockiert universalistische Moralkonzepte im Ansatz. Unter ihrer Perspektive müssen auch moralische Überzeugungen als geschichtlich entstandene, soziokulturelle Artefakte begriffen werden. Es gibt nicht die Moral, sondern je partikulare, den unterschiedlichen Zugehörigkeiten innewohnende Sittlichkeiten.

Den Liberalismus dekonstruieren

Dass eine solche kommunitaristische Affirmation partikularer Zugehörigkeiten der liberalen Vorstellung widerspricht, Individuen seien mehr und anderes als die Summe ihrer Rollen und Zugehörigkeiten, versteht sich von selbst. Für Alcoffs Kommunitarismus, der auf ein historisch materialistisches Verständnis von Zugehörigkeit abhebt, sind Menschen keine geschichts-, geschlechts- und körperlosen Träger von Rechten, sondern immer schon vergemeinschaftete Personen mit einer Vielzahl sie auszeichnender Eigenschaften. Demgegenüber sieht der Liberalismus sie als freie Subjekte an, die in ihrem Streben nach Selbstverwirklichung soziale Kooperationsbeziehungen eingehen, welche ihre Freiheit deshalb nicht einschränken, weil sie vertraglich fundiert sind. Wenn Alcoff dem Sozialkonstruktivismus ankreidet, die sozialhistorische Wirklichkeit von Zugehörigkeit zu ignorieren, enthüllt sie im gleichen Atemzug die verdeckt liberalen Prämissen eines sozialkonstruktivistischen Verständnisses von Vergesellschaftung. Dieser Punkt ist bedeutsam, weil damit greifbar wird, dass eine sozialkonstruktivistische Ontologie des Sozialen die leiblich erfahrbaren und gesellschaftlich wirksamen Differenzen tendenziell abblendet, die innergesellschaftlich die Verteilung von Zugehörigkeit regeln. Wer diese Faktizitäten übersieht, indem er sie zu Epiphänomenen kontingenter Sprachspiele erklärt, macht, der Anthropologie des Liberalismus nicht unverwandt, aber eben den Rassismus unsichtbar, der doch Gegenstand einer sozialkonstruktivistisch begründeten Kritik sein soll. Alcoff hat es in ihren Frankfurter Vorträgen nicht ausgesprochen, doch gipfelt ihre Auseinandersetzung mit sozialhistorisch unterinformierten Versuchen, den Rassismus zu kritisieren, schlussendlich in dem Einwand, sie hätten gar keinen Begriff vom Objekt ihrer Kritik. Dieser Einwand trifft liberale Rassismuskritiker:innen a fortiori. Sollen Rassismen ernsthaft kritisiert werden, müssen sie, wie Alcoff von vornherein klarstellte, zunächst sichtbar gemacht werden. Sichtbar werden sie jedoch erst dann, wenn die Fiktion des Liberalismus beseitigt ist, es seien Individuen, die sich in freier Willensentscheidung und symmetrischer Interaktion via Vertrag vergesellschaften. Tatsächlich, so Alcoffs Bild von Gesellschaft, begegnen sich im sozialen Zusammenleben jedoch Personen, die über ihre nur bedingt wählbaren Zugehörigkeiten Gemeinschaftsidentitäten ausbilden. Mit diesem ‚Wir‘ sind sie identifiziert und müssen sich als ‚Ihr‘ identifizieren lassen – was keineswegs ausschließt, dass sie gegen solche Identitätszuschreibungen opponieren. Ergo wäre die von Lessenich mit Blick auf Alcoffs Unternehmung angekündigte „De-Individualisierung und De-Subjektivierung“ des Rassismus politisch erst verwirklicht, wenn die liberalen Selbstthematisierungen multi-ethnischer, multi-kultureller und multi-religiöser Gesellschaften noch den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt hätten. Auch das positive Recht liberal verfasster Gesellschaftsordnungen wäre neu zu begründen, basiert es nach herkömmlichem Verständnis doch auf subjektiven Rechten, die als unantastbar gelten.

Auf der Linie solcher Schlussfolgerungen bescheinigte Alcoff der politischen Philosophie, die in Mittel- und Lateinamerika entstanden ist, dass sie der europäischen, im Kern vertragstheoretischen Tradition überlegen sei, weil sie „arbeitsfähige Institutionen“ konzipiert habe, die dazu in der Lage seien, die verheerenden Folgen von Kolonialismus, Landnahme, kulturellem Imperialismus, der Unterdrückung indigener Sprachen und der Sklaverei zu überwinden. Im Gegensatz zur europäischen Überlieferung, die ideale Institutionen für beliebige Ansammlungen zufälliger Individuen habe ersinnen wollen, seien lateinamerikanische Denker bereit gewesen, die Unterschiede zwischen Gruppenidentitäten und deren je eigener Geschichtlichkeit anzuerkennen. So belehre eine politische Ideengeschichte, die den Eurozentrismus überwinde, darüber, dass um ‚race‘ kreisende Konzepte völlig konträre Zielsetzungen verfolgen können: Auf der einen Seite hätten sie gewalttätige Exklusionspraktiken globalen Ausmaßes legitimiert, auf der anderen die Notwendigkeit zu Bewusstsein gebracht, Differenzen nicht im Medium theoretischer Idealisierung zu invisibilisieren, sondern in ihr Recht auf Anerkennung zu setzen. Dank solcher Entwürfe werde der blinde Fleck der durch weiße Männer dominierten, europäischen Tradition offenbar: Anders als für die Aufklärung des Westens bilde in Lateinamerika nicht die Reinheit der Rasse den normativen Ausgangspunkt, sondern ihre Mischung. Ist Mischung, „mestizahe“ lautet der einschlägige Terminus, die Norm, kann die Pluralität ethnischer Identitäten nicht mehr das vorrangige Problem sein, noch lassen sich historische Transformationen von Gruppenidentitäten und Zugehörigkeiten als Verlust- oder Niedergangsszenarien beklagen. Im Resümee ihrer Rekapitulation der beiden Stränge politischer Philosophie machte sich Alcoff erwartungsgemäß für eine durchgreifende „Ent-westlichung“ der politischen Kultur stark, ohne zu verhehlen, dass ein solcher Aufruf Ängste vor Anarchie und Chaos heraufbeschwöre. Zugleich gab sie ihre Überzeugung zu Protokoll, die „colonial matrix of power“ lasse sich nicht ohne eine „decolonial critique“ an dem „cognitive rassism“ attackieren, der den Ideologien eingeschrieben sei, mit denen die Kolonisatoren ihre Zivilisationsmissionen gerechtfertigt und gegen den praktischen wie theoretischen Widerstand der Kolonisierten immunisiert hätten.

Kultureller Rassismus

Zweifelsohne folgt schon aus Alcoffs historistischer These, wonach sich der Rassismus stets lokal und zu gewissen Zeitpunkten in der Geschichte aktualisiert, dass er sich variierender kognitiver Instrumente bedient. Er kann biologistisch argumentieren, kann geografische Faktoren bemühen, auf klimatische Bedingungen verweisen. Allemal, so Alcoff, stünde im zeitgenössischen, das heißt im post-biologistischen Rassismus jedoch eine komparative Abwertung unterschiedlicher Kulturen im Zentrum. Dem trug ihre systematisierende Definition Rechnung, die den kulturellen Rassismus als eine „normative Hierarchisierung (‚ranking‘) von Kulturen“ bestimmte, die den Zweck verfolge, Ausschluss, Vertreibung, erzwungene Assimilation, Einschränkungen von Migrationsmöglichkeiten und andere Gewaltpraktiken zu rechtfertigen. Was in eine Rangfolge gebracht werde, seien – wie Alcoff mit Fanon präzisierte – „Daseinsweisen“, also bestimmte Arten, sich zu kleiden, zu essen, religiösen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen, sich künstlerisch zu artikulieren. Solche Daseinsweisen und die mit ihnen verbundenen Wertvorstellungen würden als Zeichen für die Rückständigkeit der betreffenden Kultur gelesen, als Belege für die Unüberbrückbarkeit der Differenzen, die eine solch rückständige Lebensform von derjenigen abgrenze, die dank ihres fortgeschrittenen Zivilisationsstandes zur Hierarchisierung berechtigt sei. Dabei berufe sich der kulturelle Rassismus in seiner apodiktischen Abwertung anderer Kulturen auf vermeintlich universelle Kriterien, welche die Überlegenheit des Standpunkts verbürgen, vom dem aus bewertet, das heißt andere Kulturen abgeurteilt würden. Insofern erweise sich „Kultur“ als stellvertretender Deckname für Rasse, Haut- oder Haarfarbe.

Alcoff erinnerte daran, dass ein Rassismus, der die Rückständigkeit kultureller Praktiken akzentuiert, beileibe keine Erscheinung sei, die historisch erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er-Jahre auftrete. Vielmehr verweise auch diese Version von Rassismus auf die frühen Tage der Kolonisierungen Nord-, Mittel- und Südamerikas. Also sei der kulturelle Rassismus, der eine Rangordnung unter den Menschen unterstellt, „endemisch“ für die gesamte Epoche der Moderne. Rassistische Einstellungen auf individuelle und psychologische Defizite zurückzuführen, sei mithin irreführend. Tatsächlich bilde der Rassismus geradezu das Konstituens eines Kolonialismus, dessen Gegenwart noch in aktuellen Begründungen erkennbar sei, mit denen staatliche Maßnahmen zur Restriktion von Einwanderung plausibilisiert würden.

Selbstverständlich handelte sich Alcoff mit dieser Analyse des kulturellen Rassismus das Problem ein, wie sich die rassistische Praxis der Asymmetrisierung von Daseinsweisen überwinden lasse. Ein Anti-Rassismus, der mit Alcoff die Notwendigkeit von Identitätspolitik deklariert, weil Zugehörigkeit ein unhintergehbares Faktum des sozialen Zusammenlebens sei, legt sich bei Lichte besehen normativ auf den urliberalen Gedanken gleicher Gerechtigkeit fest, mithin auf die These, dass es unstatthaft sei, Lebensformen in ihrem sozialen Sinne gegeneinander auszuspielen und nach fragwürdigen Kriterien zu evaluieren. Es dürfte klar sein, dass Alcoffs Kritik einer Hierarchisierung von Daseinsweisen ihren Biss verlöre, würde sie sich nicht – zumindest implizit – auf einen Egalitarismus gleicher Gerechtigkeit stützen. Andererseits ist der kulturelle Rassismus für Alcoffs Begriffe seinerseits eine Praxis, die einer bestimmten Daseinsweise, namentlich der des Kolonialismus, entstammt, also Bestandteil einer partikularen Lebensform ist. Wie also sähe, ist die normative Evaluierung kultureller Praktiken untersagt, eine nicht rassistische Kritik rassistischer Lebensformen aus?

Der drohenden normativen Paradoxie suchte sich Alcoff mithilfe eines historischen Arguments zu entwinden, was im Klartext bedeutete, dass sie diese Paradoxie nicht beseitigen, sondern nur entfalten konnte. Ihr Vorschlag hieß, Kulturen nicht als homogene, in sich konsistente, kristalline Einheiten misszuverstehen, sondern sie mit Edward Said als bedeutungserzeugende Prozesse wahrzunehmen, die auf Irritationen mit innovativer Signifikation reagieren. Indem Alcoff ein derart verflüssigtes Verständnis von Kulturen ins Spiel brachte – selbst ein historisierender Kulturtheoretiker wie Oswald Spengler wurde als Kronzeuge aufgerufen –, liquidierte sie ihr Konzept soziokultureller Lebensformen. Offenbar sind die Identitäten, die aus der Wirklichkeit von Zugehörigkeit hervorgehen, erosionsfähig. Freilich legte Alcoff größten Wert darauf, derartige Erosionen nicht als Assimilationsprozesse zu begreifen, sondern als „Transkulturation“. Der Witz ist, wie die Begriffsprägung anzeigt, dass in Transkulturationsprozessen die ebenso reziproke wie symmetrische Durchdringung unterschiedlicher Lebensformen stattfindet. Was sich in derartigen Interaktionen ereignet, hat der aus Martinique stammende, bedeutende Lyriker, Essayist, Romanautor und Philosoph Édouard Glissant als „Kreolisierung“ bezeichnet. In der Quintessenz ihrer Betrachtungen zum Rassismus ist die für den Kolonialismus fundamentale Hierarchisierung von Kulturen also nicht wirkmächtig mit Argumenten zu widerlegen, sondern nur durch Realerfahrungen der Kreolisierung aller Lebensformen. Sie ist, kurz gesagt, eine Frage geschichtlich veränderter Praxis.

Eine Nachbemerkung

Nach Martinique aus Frankreich zurückgekehrt, wo Glissant Philosophie und Ethnologie studiert hatte, verschrieb er sich der Aufgabe, die Lebenswelt der Karibik, wie sie durch die Nachfahren von Sklav:innen aus Afrika charakterisiert ist, literarisch und begrifflich zu erfassen. Dafür lieferte ihm Hegels Dialektik von Herr und Knecht (in französischen Ausgaben der Phänomenologie des Geistes findet sich „Knecht“ mit „l’esclave“ übersetzt) die weichenstellende Inspiration. Was Glissants Hegelianismus ausmacht, der sich im Stichwort der Kreolisierung verdichtet, ist ein Verständnis von Dialektik, das sich der Idee einer Stilllegung dialektischer Prozesse in finalen Synthesen verweigert. Deshalb könnte man meinen, dass ein Adorno, der 1966 sein Hauptwerk Negative Dialektik betitelte, den entscheidenden Schritt auf dem Weg zur jetzt angemahnten „Provinzialisierung“ der Kritischen Theorie längst getan hatte.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Geschichte Gewalt Kolonialismus / Postkolonialismus Kritische Theorie Kultur Lebensformen Macht Rassismus / Diskriminierung

Martin Bauer

Martin Bauer, M.A., ist Philosoph, Literatur- und Religionswissenschaftler. Er war bis 2022 geschäftsführender Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Portals Soziopolis am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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