Mario Krämer | Rezension |

Die Mühlen der Zivilisation 3

Die „Grauzonen“ staatlicher Herrschaft

James C. Scott:
Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten
Deutschland
Berlin 2019: Suhrkamp
329 S., EUR 32,00
ISBN 978-3-518-58729-4

James C. Scott, der sich selbst ironisch als Ethnologe „ehrenhalber“[1] bezeichnet, untersucht in seinem nun auf Deutsch erschienenen Buch „Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten“ die Gründung der ersten Staaten vor circa 5 000 Jahren in Mesopotamien. Sein Buch ist explizit als Provokation gemeint. Scott verfolgt das Ziel, das etablierte Narrativ über die Geburt des Staates und die Entwicklung staatlicher Herrschaft infrage zu stellen. Stark verkürzt besagt diese dominante Fortschrittserzählung, dass die Domestikation von Pflanzen und Tieren direkt zu Sesshaftigkeit und Landwirtschaft geführt habe, was unmittelbar die Staatenbildung nach sich zog. Nach dieser Rekonstruktion ist der Staat, der zunächst gleichbedeutend mit der Stadt war, als ein Magnet zu verstehen, der die Menschen aufgrund seiner ökonomischen Möglichkeiten und seines kulturellen Reichtums anzieht.

Laut Scott muss diese Geschichte aufgrund neuer archäologischer Erkenntnisse umgeschrieben werden: Sesshaftigkeit sei der Domestikation von Pflanzen und Tieren lange vorausgegangen; vielmehr seien sowohl Sesshaftigkeit als auch die Gründung der ersten Städte „das Produkt überreichlich vorhandener Feuchtgebiete“ (sogenannter alluvialer Schwemmländer; S. 11), also keineswegs das Resultat staatlich organisierter Bewässerung. Faktisch seien die ersten Staaten erst Jahrtausende nach dem Auftreten der feldgebundenen Landwirtschaft aufgetaucht. Und weit davon entfernt, wie starke Magneten zu wirken, mussten diese frühen Staaten Scott zufolge „einen Großteil ihrer Bevölkerung erbeuten und in Knechtschaft halten“ (S. 11). Sie waren fragil und permanent von Zusammenbruch bedroht, während die im „Hinterland“ der ersten Staaten lebenden Menschen ein freieres, leichteres und gesünderes Leben führen konnten.

Die Bewohner nichtstaatlicher Gebiete, die laut Scott bis etwa 1600 nach Christi global betrachtet in der Mehrzahl blieben, bezeichnet er durchaus ironisch, wiewohl keineswegs abwertend als „Barbaren“, worunter Jäger und Sammler, Brandrodungsbauern, Viehhirten und zahlreiche Kleinbauern zu fassen sind. Die frühen Staaten bestanden aus einer Kernregion, einer umgebenden „Grauzone“, die mehr oder minder in den Staat integriert werden konnte und einem vielfach größeren „Hinterland“, auf das der Staat keinen direkten Zugriff hatte. Der Ausdruck „Barbar“ wurde in staatlichen Zentren erfunden, um all jene zu identifizieren und zu stigmatisieren, die keine staatlichen Untertanen waren. Es ist mithin die städtische und staatliche Elite gewesen, die von „Hinterwäldlern“, „Bergvölkern“ oder „Waldmenschen“ sprach. Also begreift Scott die Bezeichnung „Barbaren“ sowohl positionell als auch politisch: Gemeint sind „nichtstaatliche Gemeinschaften“, die in solchen Regionen leben, die – man denke an Gebirge, Steppen, Wüsten oder Wälder – an staatliche Gebilde angrenzen, sich jedoch nicht unter die Kontrolle oder Herrschaft eines Staates bringen lassen.

Im siebten Kapitel seiner Studie geht Scott von einem „goldenen Zeitalter der Barbaren“ aus: Für die nichtstaatlichen Gemeinschaften des „Hinterlands“ stellten die ersten Staaten eine wichtige ökonomische Ressource dar. Diese frühen Stadtstaaten waren entweder das Ziel von Beutezügen oder ein Partner in Handelsbeziehungen. Unter Umständen ließen sich die „Barbaren“ aber auch gegen die Zahlung von Schutzgeldern dazu anheuern, die Grenzsicherung des Staates zu übernehmen. Insofern profitierten ironischerweise nicht nur innerstaatliche Eliten von der Staatsbildung, sondern auch die „Barbaren“ – und beide auf Kosten der geplagten und unterdrückten Bauern. „Staatliche und nichtstaatliche Völker, Ackerbauern und Wildbeuter, ‚Barbaren‘ und ‚Zivilisierte‘“, waren nach Scotts Urteil (S. 253),  „heimliche Zwillinge“, die in vielerlei Hinsicht aufeinander angewiesen und aneinander gekettet waren. Dabei trifft dieser Befund laut Scott nicht nur auf die Frühzeit von Staatsbildungsprozessen zu: Global betrachtet kann bis in die frühe Neuzeit um 1600 keinesfalls von einer stabilen Hegemonie des Staates über das „Hinterland“ gesprochen werden. Ein Großteil der Weltbevölkerung war bis zu diesem Zeitpunkt „noch nie der Verkörperung des Staates schlechthin begegnet: dem Steuereintreiber“ (S. 29).

Es ließen sich verschiedene Kritikpunkte an Scotts Argumenten vorbringen, wobei ich die Frage nach der empirischen Überprüfbarkeit, also danach, ob Scott die neueren archäologischen Erkenntnisse hinreichend differenziert zur Kenntnis genommen hat, außen vor- und anderen überlassen möchte. Was Scotts Buch so relevant und aufschlussreich macht, ist das Projekt, die Selbstverständlichkeit staatlicher Herrschaft radikal zu hinterfragen, nicht zuletzt die teleologisch-normative Sichtweise, wonach jede politische Vergemeinschaftung letztendlich in der Aufrichtung von Staatlichkeit münde und auch münden solle.

Was mir jedoch nicht behagt, ist Scotts allzu dichotomische Gegenüberstellung von „knechtendem Staat“ und „freiem Barbarentum“. Diese Schwarz-Weiß-Zeichnung halte ich für eine unnötige Verkürzung, die einer vermutlich deutlich komplexeren politischen Dynamik nicht gerecht wird. Zwar klingt in Scotts Ausführungen gelegentlich durch, die „Barbaren“ seien nicht immer egalitär und herrschaftslos, sondern „durchaus hierarchisch“ organisiert gewesen, auch wenn derartige Hierarchien „flacher“ ausfielen als diejenigen der Staaten und sich im Übrigen auch nicht auf erblichen Besitz stützten (S. 235). Doch bleibt er uns Belege für seine Behauptung schuldig. An anderer Stelle ist sogar wörtlich von „barbarischen Herrschern“ die Rede, denen sich flüchtende Han-Bauern anschlossen, oder von Totila, dem „König der Ostgoten“, der flüchtende Römer bereitwillig aufnahm (S. 238). Schließlich konstatiert Scott auch noch, dass viele „Barbaren“ der Autonomie anderer Gesellschaften mit Gleichgültigkeit begegneten, ja dass sie durch Sklavenjagd und -handel ihrerseits zur Stabilisierung staatlicher Herrschaft beigetragen haben. Von daher hätten sie sich, wie Scott in seinem pessimistisch-melancholischen Fazit resümiert, ihr eigenes Grab geschaufelt (S. 260).

Insgesamt bleibt in Scotts Darstellung unklar, wie es um die Macht- und Herrschaftsgrundlagen in der „Grauzone“ und im „Hinterland“ bestellt war. Diese Verhältnisse auszuleuchten, gehört zweifelsohne nicht in das Pensum, das sich Scott vorgenommen hat. Da er jedoch derart trennscharf zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Gesellschaften meint unterscheiden zu müssen und erstere denkbar schlecht wegkommen, würde man sich eine detaillierte Analyse der letzteren wünschen. Daher möchte ich mit meinen abschließenden Bemerkungen versuchen, etwas mehr „Grau-Schattierungen“ in Scotts Staatsentstehungserzählung einzuzeichnen, um verschiedenen Herrschaftsformen sichtbar werden zu lassen, die über die schlichte Dichotomie von staatlich versus nichtstaatlich hinausweisen.

Wie gestaltete sich staatliche Herrschaft laut Scott in der „Grauzone“ und im „Hinterland“? Scott argumentiert, die frühen Staaten hätten nicht die Absicht verfolgt, das „Hinterland“ direkt zu beherrschen. Vielmehr seien sie an Stellvertretern und militärischen Verbündeten interessiert gewesen, um in diesen Regionen Einfluss ausüben und Handel treiben zu können. Barbarische Gebiete begannen mithin dort, wo der Staat keine Steuern eintreiben konnte und seine Souveränität endete. Demgegenüber zog die Verwaltung im Kerngebiet staatlicher Herrschaft direkt Steuern von den Untertanen ein, in aller Regel sind dies Bauern gewesen. In der umgebenden „Grauzone“ musste sich die staatliche Elite darauf verlassen, dass ihre Stellvertreter für die Eintreibung von Tributzahlungen sorgte. Und im „Hinterland“ gingen die „Barbaren“ gelegentlich im Dienste des Staates auf Beutejagd. In dieser Phänomenologie werden nach Spittler[2] die grundlegenden Formen von Verwaltung in „Bauernstaaten“ erfasst: es gibt die bürokratische Herrschaft, die auf Steuereintreibungen beruht; dann die intermediäre Herrschaft, die auf Tributzahlungen setzt; und schließlich die despotische Herrschaft, die Beute macht.

Ohne eine solche Binnendifferenzierung führt Scotts einfache Gegenüberstellung von staatlicher Herrschaft und staatslosen Gesellschaften in die Irre. Sie blendet nämlich all die Formen von Herrschaft aus, die unterhalb des Horizonts staatlicher Souveränität liegen. Gerade sie hat Heinrich Popitz jedoch in seinem Modell der Institutionalisierung von Macht mit Begriffen wie dem der „Positionalisierung von Macht“ identifiziert, womit er den eigentlichen Beginn von Herrschaft bezeichnet, oder dem der „Herrschaftsapparate“.[3] Obwohl Scott diese Terminologie nicht verwendet, ließe sich vieles von dem, was er als typisch für die Beziehungen zwischen Staaten und „Barbaren“ kennzeichnet, viel besser als „intermediäre Herrschaft“ beschreiben.[4]

Insbesondere in den „Grauzonen“ zwischen Staat und „Hinterland“ war nach meiner Lesart intermediäre Herrschaft maßgeblich. So stellt auch Scott, um nur ein Beispiel herauszugreifen, fest, dass sich Römer wie Chinesen der Häuptlinge bedienten, die sie entweder selbst in ihr Amt einsetzten oder unter den „Barbaren“ ausfindig machten. Diese Männer verwalteten die „Grauzone“ im Auftrag des Staates und waren der staatlichen Verwaltung auch rechenschaftspflichtig. Obwohl das Amt eines Häuptlings oft auf eine Erfindung zurückging, die den „Barbaren“ aufgenötigt wurde, trug es in aller Regel zu einer allmählichen Institutionalisierung von Herrschaft bei. Unter Scotts Blickwinkel sind es die Staaten gewesen, die Häuptlingsämter etablierten, um sie fortan als Herrschaftsinstrument zu nutzen. Es ging, anders ausgedrückt, darum, „Barbaren zu benutzen, um Barbaren zu beherrschen“ (S. 241).

Diese Repräsentanten früher Staatlichkeit waren im Wortsinne Intermediäre, das heißt Mittelsmänner, die gewöhnlich zwischen staatlicher Verwaltung und Lokalbevölkerung vermittelten. Doch anders als es Scott darstellt, sind ihrer Manipulierbarkeit durch die staatliche Verwaltung gewöhnlich doch Grenzen gesetzt. Im Allgemeinen verfolgen sie eigene Interessen. Als gatekeeper zwischen Staat und Bevölkerung versuchen sie geschickt, ihre Machtchancen auszubauen. Sie werden von der staatlichen Verwaltung lokal rekrutiert, was sowohl ihre Vertrautheit mit den Prozessen vor Ort sicherstellen soll, als auch den unreglementierten Zugang zu wichtigen Informationen. Folglich ist die Verwaltung in durchaus erheblichem Ausmaß von ihren Mittelsmännern abhängig, was ihnen beträchtliche Handlungsspielräume eröffnet. Zwar müssen sie regelmäßig Tribut abliefern, doch bleibt ihnen weitgehend selbst überlassen, wie sie diese Abgaben eintreiben. Agieren sie strategisch überlegt, können Intermediäre ihre Macht- und Herrschaftsgrundlagen erheblich erweitern – gegebenenfalls bis zu dem Punkt, an dem sie zu einer Bedrohung staatlicher Herrschaft werden. Scott wirft ein Schlaglicht auf solche Eventualitäten, wenn er historische Fälle vermerkt, bei denen die „Barbaren“ zur neuen Elite eines Staates aufstiegen, also die vormals herrschende Klasse erfolgreich verdrängten (S. 254 f.).

Kurz gefasst würde Scotts originelle und anregende Analyse der ersten Staatsbildungsprozesse nach meinem Eindruck davon profitieren, anstatt mit einer starren Gegenüberstellung von staatlicher Herrschaft und staatsfernem „Hinterland“ zu operieren die „Grauzonen“ am Rande der Kernstaaten stärker in den Blick zu nehmen und sorgfältig auszuleuchten. Denn staatliche Herrschaft wird in ihren Peripherien nicht nur gestützt und ausgebaut, sondern immer wieder von Neuem in Frage gestellt. Offenbar beruht staatliche Herrschaft auf einer Akkumulierung von Machtchancen und -verfestigungen. Die Unselbstverständlichkeit von solchen Prozessen der Macht- und Staatsbildung aufzuzeigen[5] und nachdrücklich einzuschärfen, ist zweifelsohne das größte und bleibende Verdienst von Scotts Forschungen.

  1. Die folgenden Angaben in Klammern beziehen sich auf James C. Scott, Die Mühlen der Zivilisation, Berlin 2019, hier S. 10.
  2. Gerd Spittler, Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preußen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32 (1980), S. 574-604.
  3. Heinrich Popitz, Phänomene der Macht. Tübingen 1992.
  4. vgl. Gerd Spittler, Verwaltung in einem afrikanischen Bauernstaat. Das koloniale Französisch-Westafrika 1919-1939, Wiesbaden 1981; Trutz von Trotha, Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des „Schutzgebietes Togo“, Tübingen 1994; Mario Krämer, The Struggle over Neotraditional Authority. Power, Legitimacy and Democracy in South Africa and Namibia 2018, im Erscheinen
  5. von Trotha, Koloniale Herrschaft, S. 15

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie

Mario Krämer

PD Dr. Mario Krämer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Siegen. Seine Habilitationsschrift ("The struggle over neotraditional authority: power, legitimacy and democracy in South Africa and Namibia"; Universität zu Köln) handelt von der Macht und Legitimität intermediärer Herrscher im Verhältnis zum demokratischen Staat. Seine weiteren Forschungsschwerpunkte sind das Spannungsverhältnis von Gewalt und sozialer Ordnung sowie die Anthropologie des Sports.

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