Frantz Fanon, Lilia Ben Salem | Essay |

Begegnung von Gesellschaft und Psychiatrie

Vorlesung von Frantz Fanon über soziale Psychopathologie am Institut des Hautes Études in Tunis, 1959–1960

Einführung von Lilia Ben Salem[1]

Es folgt eine Vorlesung, die Dr. Frantz Fanon für die Studierenden des Zertifikats in sozialer Psychologie der Licence-Studiengänge Soziologie und Psychologie im Universitätsjahr 1959–1960 gehalten hat. Damals studierte ich Soziologie im ersten Jahr. Fanons Werk interessierte mich sehr, und ich bewahrte meine Mitschriften auf, ohne sie noch einmal gegenzulesen. Jahre später wurde eine Veranstaltung zu Fanons Ehren organisiert, an der ich nicht teilnehmen konnte. Ich schickte Abdelkader Djeghloul, einem Kollegen und Freund von der Universität Oran, meine abgetippten und überarbeiteten Notizen.[2] Erst hatte ich gezögert, denn ich wusste nicht, ob sie vollständig waren und Fanons Worten gerecht wurden, ob ich wirklich alle Veranstaltungen besucht hatte … Ich konnte mich aber daran erinnern, wie aufmerksam ich gewesen war. Fanon hatte sehr deutlich gesprochen und klar zwischen der von mir mitgeschriebenen eigentlichen Vorlesung und seinen zusätzlichen Kommentaren und Anmerkungen unterschieden.

Ich wusste nicht, dass meine Notizen veröffentlicht werden würden, und erfuhr von der Publikation durch die Universität Oran nichts. 1959 wurde der Licence-Studiengang Soziologie in Tunis eingeführt. So kurz nach der tunesischen Unabhängigkeit wollte sich das Institut des Sciences Sociales bevorzugt mit den Problemen des aufzubauenden Landes und des Maghreb insgesamt befassen. Ich versuche, kurz zu beschreiben, in welchem Kontext dies geschah.

Im März 1956 hat Tunesien seine Unabhängigkeit wiedererlangt. In den Jahren 1956 und 1957. In den Jahren 1956 und 1957 erlangte das Land durch eine Reihe von Maßnahmen in den meisten Bereichen Souveränität: Einberufung der verfassunggebenden Versammlung; Bildung einer Regierung unter Habib Bourguiba; Tunesifizierung der inneren und äußeren Sicherheitsdienste (18. April 1956); Wiedereinrichtung eines Außenministeriums (3. Mai 1956); Bildung eines neuen Verwaltungsapparats mit der Nominierung von vierzehn Gouverneuren; Tunesifizierung der Verwaltung; Begründung der tunesischen Armee (1. Juli 1956); Reform des Rechtssystems nach den Prinzipien der Säkularisierung, Vereinigung und Tunesifizierung (3. August, 17. August und 25. September 1956); Übertragung des Rundfunks an die tunesische Regierung; Personenstandsgesetz (18. Juli 1957). 1958 nahm man eine große Bildungsreform in Angriff (Gesetz vom 4. November 1958), die sich der Primar- und Sekundarstufe widmete.

Die Universität Tunis wurde erst durch ein Dekret vom 31. März 1960 gegründet. Um Fachkräfte für die Sekundarstufenbildung auszubilden, wurde bereits im Oktober 1956 eine École Normale Supérieure ins Leben gerufen. Die Hochschulbildung, oder vielmehr ihr Frühstadium, hing jedoch weiterhin vom Institut des Hautes Études und damit von den französischen Universitäten ab. Man studierte zunächst an diesem Institut und schloss sein Studium dann an einer französischen Universität ab. Unter diesen Begleitumständen entstand 1959 der Licence-Studiengang Soziologie. Die Studierenden der Geisteswissenschaften hatten sich bislang in Tunis auf das (propädeutische) Certificat d’Études Littéraires Générales vorbereitet; einige erste Licence-Abschlüsse wurden nach 1956 insbesondere für Arabisch, Geschichte und Geografie eingeführt. 1958 wurde ein erstes Zertifikat für die Licence in Philosophie vergeben, das Zertifikat für Moral und Soziologie. Die Studierenden sollten damit nicht in erster Linie eine Licence in Philosophie absolvieren können, sondern man wollte dem Angebot an lehrberechtigten Professoren in Tunis Rechnung tragen, die in dieser Disziplin seit mehreren Jahren in der Sekundarstufe und am Institut des Hautes Études lehrten. Zwei von ihnen schrieben an einer Doktorarbeit, Jean Cuisenier[3] und Carmel Camilleri.[4] Georges Granai, Schüler von Georges Gurvitch, erhielt einen Ruf an den Lehrstuhl für Soziologie.

An dieser Stelle sei daran erinnert, dass man damals die Soziologie für wichtig hielt, um die tunesische Entwicklungspolitik voranzutreiben. Das Institut des Hautes Études hatte im Frühjahr 1951 einen Studienkreis für Soziologie, Ethnologie und Geografie gegründet, das sich zum Ziel setzte, eine gewisse Anzahl an Studien durchzuführen. Im Oktober 1955 hatte das Institut ein Kolloquium zu den unterschiedlichen Lebensstandards in Tunesien veranstaltet, an dem Paul Sebag teilnahm, der damals an der französischen Auslandsschule Lycée Carnot unterrichtete. Sebag, der später zum Forschungsbeauftragten am Institut des Hautes Études ernannt wurde, verfasste mit seinen Kollegen Monografien zu den Arbeitnehmern in der Region Tunis und zu den Randgebieten der Hauptstadt.[5]

In diesem Zusammenhang wurde 1959, im gleichen Jahr wie an der Sorbonne, mit der Unterstützung durch Jacques Berque der Licence-Studiengang Soziologie eingeführt und das Centre d’Études Sociales (CES) unter der Leitung von Georges Granai gegründet. Im ersten Jahrgang gab es nur wenige Studierende, einige hatten Kurse des Zertifikats Moral und Soziologie besucht und wollten nicht weiter Philosophie studieren, andere hatten erst vor kurzem in Tunesien, Algerien, Frankreich oder anderen Ländern ihr Baccalauréat absolviert und gingen meist schon einem Beruf nach. Damals tobte der Algerienkrieg, und in Tunis lebten viele Geflüchtete und Aktivisten, die für die algerische Sache kämpften. Die meisten dieser Studierenden glaubten, dass die Kenntnis unserer Gesellschaften, insbesondere der tunesischen und algerischen, für unser gemeinsames Projekt unerlässlich sei, um mit soliden wissenschaftlichen Analysen zu Unabhängigkeit und Entwicklung beizutragen. Sagte Jacques Berque nicht immer wieder, dass es keine unterentwickelten, sondern nur unteranalysierte Länder gebe?

Der Licence-Studiengang Soziologie setzte sich aus vier Zertifikaten zusammen: allgemeiner Soziologie, sozialer Psychologie, politischer und sozialer Ökonomie sowie einem Wahlzertifikat. Wer in Tunis blieb, musste das Zertifikat in Humangeografie aus dem Studiengang Geografie absolvieren, andere gingen nach Frankreich und schrieben sich hauptsächlich für Zertifikate im Fach Ethnologie ein.

In Rahmen des Zertifikats für soziale Psychologie, das auch Studierende der Philosophie belegten, hielt Frantz Fanon eine einsemestrige Vorlesung zur sozialen Psychopathologie. Seit 1957 arbeitete er infolge seiner Ausweisung aus Algerien[6] als Psychiater in Tunis, sicherlich auf Anregung von Claudine Chaulet, die mit ihrem Mann, dem Dr. Chaulet, ebenfalls nach Tunis geflüchtet war und am Institut des Hautes Études forschte. Diese Vorlesung, die am späten Nachmittag stattfand, besuchten nicht nur die wenigen Studierenden der beiden Licence-Studiengänge, sondern auch ein bunt gemischtes Publikum aus Ärzten, Akademikern, algerischen Aktivisten, Politikern … Die Veranstaltung hatte etwas Mondänes, was ungewöhnlich war für den tunesischen Universitätsbetrieb.

In der eigentlichen Vorlesung sagte Fanon das Entscheidende, aber seine Exkurse waren ebenso wichtig und faszinierend für uns. Er sprach von seinen Erfahrungen als Psychiater in einem Krankenhaus im algerischen Blida, von den Konflikten mit seinen Kollegen hinsichtlich der anzuwendenden psychiatrischen Methoden; er riet zu den neuen Methoden der Sozialtherapie und institutionellen Psychotherapie, was damals in diesem Bereich revolutionär war. Er sprach auch das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen an – 1952 hatte er Schwarze Haut, weiße Masken veröffentlicht. Er sprach von der kolonialen Unterdrückung und der Gewalt, dem Rassismus, den er von Jugend an erlebt hatte, vor allem in der französischen Armee, in der er gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gedient hatte,[7] vom Rassismus an der Universität Lyon, wo er „angestarrt, bemerkt, isoliert“[8] wurde, vom Rassismus gegenüber Schwarzen, gegenüber Kolonisierten und insbesondere Algeriern, mit deren Anliegen er sich identifizierte,[9] vom Rassismus, der sich in einer Gesellschaft, die ihn hervorbrachte, der Kultur aufprägte.[10] Er erwähnte die Psychiatrieschule von Algier, deren medizinisches Personal sich rassistisch gegenüber nordafrikanischen Patienten verhielt und die in ihnen „primitive[…] Menschen sieht, bei [denen] die Entwicklung des Gehirns anatomisch unvollkommen sei“.[11] Er nahm sich vor, gegen jegliche Entfremdung zu kämpfen. Seine Analysen und die Leidenschaft, die ihn beseelte, beeindruckte uns. Er schrieb gerade Aspekte der algerischen Revolution. Wir bewunderten an ihm den Aktivisten der Dekolonisation und der algerischen Unabhängigkeit, seine Ablehnung aller Formen von Unterwerfung und Ungleichheit. Er hat uns viel beigebracht. Das traf sich mit den Fragen, die wir uns damals stellten.

Er hatte einige von uns CES-Studierenden für soziale Psychologie eingeladen, bei seiner Sprechstunde am Donnerstagvormittag in der psychiatrischen Ambulanz des Krankenhauses Charles-Nicolle in Tunis zu hospitieren. Bei seiner Ankunft in Tunis wurde er zunächst in die psychiatrische Klinik La Manouba berufen, aber angesichts der Vorbehalte in der Kollegenschaft bezüglich seiner „soziologischen“ Deutung der Geisteskrankheiten, erreichte er beim Staatssekretär für Gesundheit und soziale Angelegenheiten die Versetzung auf die neuropsychiatrische Station des Krankenhauses Charles-Nicolle, wo er größere Freiheiten genoss und seinen Prinzipien treu bleiben konnte. Er hatte das Glück, dort mit einer Gruppe junger Leute eine neuropsychiatrische Ambulanz zu gründen, das CNPJ (Centre neuropsychiatrique de jour), laut Alice Cherki die wichtigste Wirkungsstätte Fanons in Tunis.[12]

Im Medizinstudium hatte Fanon an der geisteswissenschaftlichen Fakultät von Lyon auch Veranstaltungen in Philosophie (er war unter anderem Schüler von Merleau-Ponty), Soziologie, Ethnologie und Psychologie besucht. Bei seiner praktischen Ausbildung im Krankenhaus von Saint-Alban in Lozère konnte er mit Dr. François Tosquelles zusammenarbeiten, einem antifranquistischen Psychiater spanischer Herkunft, Pionier der institutionellen Psychiatrie.[13] Die Begegnung mit Tosquelles, so Alice Cherki in ihrer Einführung zu Die Verdammten dieser Erde, war für seine psychiatrischen Kenntnisse und für sein späteres Engagement entscheidend.

Nachdem er im November 1953 zum Chefarzt des Krankenhauses Blida ernannt wurde, praktizierte er dort mit seinen Kollegen Sozialtherapie. Er war irritiert von den Positionen zahlreicher Psychiater, die oft nur die äußeren Anzeichen der Krankheit in Betracht zogen, und legte stattdessen besonderes Augenmerk auf das soziale Umfeld der Patienten. Er lehnte die gefängnisartigen Verhältnisse der Psychiatrie tendenziell ab.

Die neuropsychiatrische Ambulanz gehörte zu einem allgemeinen Krankenhaus; der Geisteskranke ist dort ein Patient wie alle anderen und nicht so sehr stigmatisiert wie in der psychiatrischen Klinik; der Psychiater kann die materielle Infrastruktur des Krankenhauses nutzen und steht mit seinen Kollegen aus der Inneren Medizin und der Chirurgie im täglichen Austausch. Noch wichtiger ist jedoch, dass der Kranke völlig frei ist: Er verbringt den Tag im Krankenhaus, kann aber wie ein Arbeiter um 18 Uhr nach Hause in sein bürgerliches Leben zurückkehren, er kann öffentliche Verkehrsmittel benutzen, ins Café gehen, die Moschee besuchen und ein Familienleben haben … In der Sozialtherapie ist der Kranke kein passives Wesen, sondern muss „in Worte fassen, erklären, sich erklären, Position beziehen“: „Die Sozialtherapie reißt den Kranken aus seinen Wahnvorstellungen und zwingt ihn, sich mit der Realität auseinanderzusetzen.“[14] Fanon nutzte hauptsächlich die therapeutischen Ansätze der individuellen Psychotherapie und Psychoanalyse, vor allem aber der Gruppentherapie: In Gruppen von sechs bis acht Personen stellen die Patienten ihre Probleme dar, woraufhin ein Austausch über jeweilige Erfahrungen beginnt – selbstverständlich kann diese Therapie nicht bei schweren Krankheiten angewandt werden.

In den Konsultationen, bei denen ich hospitiert habe, empfing Dr. Fanon viele Patienten. Er tat sich mit dem vom Krankenhaus vorgegebenen Pensum schwer: Immer wieder kam es zu Reibungen mit dem Pflegepersonal, das auch dolmetschen musste; er bemerkte oft, dass die Aussagen der Patienten zusammengefasst wurden, meinte aber, dass jedes Wort von Bedeutung sei; er verbrachte auch viel Zeit damit, die Familienangehörigen zu befragen und ließ durch eine junge Sozialarbeiterin, mit der er zusammenarbeitete, Nachforschungen am Wohnort anstellen. Seine Sprechzeiten begannen zwischen 8:30 Uhr und 9:00 Uhr und endeten nie vor 13:30 Uhr, 14:00 Uhr oder manchmal 15:00 Uhr. Er besprach die Fälle lange in seiner Arbeitsgruppe und stellte sich weniger Fragen zu den Symptomen als zum familiären und sozialen Umfeld des Patienten.

Viele seiner Klienten waren Algerier – einige kamen aus dem Hinterland, dem Maquis. Auch ehemalige tunesische Fellaghas[15] wurden von ihm behandelt. Er sprach gern über Fälle von Aktivisten, die Gewalterfahrungen gemacht hatten und nun nicht mehr in der Lage waren, sich an ein bürgerliches Leben in einer normalen Familie anzupassen. Gewalt verteidigte er ganz und gar nicht, aber er hielt sie für unumgänglich als Reaktion gegen die Gewalt der Kolonisation, der Beherrschung, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Einige seiner Äußerungen kamen uns allzu zynisch vor … Ich muss gestehen, dass uns seine Persönlichkeit faszinierte. Er war autoritär und gleichzeitig konnte er zuhören, er war distanziert, begeistert und begeisternd; man konnte ihm Fragen stellen, aber er neigte eher zum Monologisieren, zum lauten Nachdenken. Nicht nur der Arzt sprach in dieser Vorlesung aus ihm, sondern vor allem der Philosoph, der Psychologe, der Soziologe.

Szene aus einem biografischen Comic über Fanon
Der Wahnsinn der Gesellschaft. Szene aus: Frédéric Ciriez / Romain Lamy, Frantz Fanon, Hamburg: Hamburger Edition 2021, S. 86, © Editions La Découverte 2020.

Wahnsinnig ist, wer der Gesellschaft „fremd“ ist. Und die Gesellschaft beschließt, sich dieses anarchischen Elements zu entledigen. Die Zwangseinweisung ist die Ausweisung, die Ausgrenzung des Kranken. Die Gesellschaft verlangt vom Psychiater, den Kranken zu befähigen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Der Psychiater ist der Gehilfe der Polizei, der Beschützer der Gesellschaft gegen … Die gesellschaftliche Gruppe beschließt, sich zu beschützen, und sperrt den Kranken weg. Wenn der Kranke die psychiatrische Anstalt ohne Einwilligung des Arztes verlässt, zieht dies eine ganze Reihe von Folgen nach sich. Die Psychiater haben heftig gegen diese Rolle aufbegehrt; sie haben die Behörden gebeten, der Familie und dem Kranken einen gewissen Ermessensspielraum zu lassen. Diese neuen Ansichten haben Früchte getragen. Später werden wir sehen, dass sich der Geisteskranke seiner Krankheit durchaus bewusst sein kann, indem er sich selbst einweist.

Das Problem der Bewusstwerdung der Krankheit führt in Zwickmühlen. Es gibt keine Methode, um festzustellen, ob eine Geisteskrankheit verschwunden ist; wann können wir sagen, dass der Kranke geheilt ist? Für die Erkenntnisse der Soziologie interessiert man sich in der Psychiatrie seit 1930. Da der Kranke den Sinn für das Soziale effektiv verloren hat, muss man ihn resozialisieren; nach Ansicht einiger ist sozialisiert, wer lebt, ohne von sich reden zu machen. Doch welcher Gruppe soll man sich anpassen? Wir haben festgestellt, dass Individuen, die sich in die Gruppe der Familie einfügen konnten, es in der Gruppe der Arbeit schwer hatten und umgekehrt. Wir sehen Menschen mit sexuellen Perversionen, die gesellschaftliche Erfolge verbuchen können. Beim katatonen Schizophrenen kommt es zu einem Rückzug. Es gibt moralische Masochisten: Sind sie anormal? Besteht der Zweck des Menschen darin, der Gruppe nie Probleme zu bereiten?

Es heißt, dass die Sozialtherapie eine falsche Gesellschaft schafft. Kann man das soziale Umfeld zähmen, wie man die natürliche Umwelt zähmt?

Es heißt auch, normal sei der Mensch, der keine Anstalten macht. Sind Gewerkschafter, die Forderungen stellen und protestieren, dann normal? Welche Kriterien gelten für Normalität? Geht es nach gewissen Ansichten, ist das Kriterium die Arbeit. Doch auch eine Prostituierte arbeitet! Sie kann Neurotikerin sein. Ist ein Arbeitsloser demnach krank? Viele Arbeitslose werden krank, aber liegt das daran, dass sie arbeitslos sind? Der Arzt wird zwischen die Gesellschaft und den Kranken gestellt. Der Arzt hat Einblick in die Korrespondenz zwischen der Gesellschaft und dem Kranken. Und die Gesellschaft will die Arbeit des Psychiaters kontrollieren. Der Kranke wirkt oft geheilt und erlebt nach seiner Entlassung dann einen Rückfall, manchmal einen schweren (etwa begleitet von Suizidversuchen). Daher der Versuch, im Krankenhaus selbst eine Gesellschaft zu schaffen: Darin besteht der Sinn der Sozialtherapie.

Bisher kannte das Leben im Krankenhaus keine Struktur: Es gab Aufteilungen in Bereiche, Zimmer, Zellen; das Kernelement war der Schlüssel. Der Sozialtherapie liegen folgende Prinzipen zugrunde.

  1. Wahnsinn ist im Krankenhaus verboten. Wenn in früheren Zeiten ein Kranker zu schreien begann, hieß es, er erfülle seine Aufgabe als Wahnsinniger. Stattdessen muss jeder pathologischen Äußerung begegnet werden; die Vernunft muss der Unvernunft des Kranken entgegentreten. Diese Erfahrung ist äußerst wertvoll für den, der sie macht. Mit einem gesunden Gehirn, mit guten Nervenverbindungen kann man nicht krank sein; über diese Verbindungen öffnet sich dem Arzt eine Spur, um selbst mit innovativen Prinzipien einzudringen, der Wahnsinn ist hier also erlaubt.
  2. Änderung des Tagesrhythmus. Früher hingen die Bewegungen des Kranken von bestimmten Kategorien ab. Jetzt wird ein Rhythmus erzwungen. Es gibt Essensräume, die Kranken erhalten Gabeln und Servietten und von ihnen wird verlangt, sich normal zu verhalten. Der Kranke muss arbeiten und erhält eine Vergütung. Es werden Wettbewerbe veranstaltet, Versammlungen, an denen der Kranke im Beisein des Arztes teilnehmen muss. Das Problem der Gruppentoleranz gegenüber dem Kranken ist sehr wichtig.

Schwierigkeiten der Sozialtherapie: Die Toleranz gegenüber dem Kranken kann zu großen materiellen Schäden führen; im angelsächsischen Raum gibt es eine Polizeipräsenz im Krankenhaus.

Es heißt, dass die Sozialtherapie eine falsche Gesellschaft schafft. Kann man das soziale Umfeld zähmen, wie man die natürliche Umwelt zähmt?

Sozialisierung in Abhängigkeit von der Gehirnsubstanz.

Wir lassen die klassische soziologische Perspektive hinter uns und widmen uns der Neurophysiologie. Im zweibeinigen Stadium wurden der Körper und der Kopf aufgerichtet, das Gesicht geformt, die Kapazität der Schädelhöhle erhöht. Diese Menschwerdung bedeutet für uns:

  • eine größere Komplexität des Nervensystems, des Gehirns, das in seine letzte Phase gelangt, die des menschlichen Gehirns mit der übermäßigen Entwicklung der Hemisphären;
  • zwei Arten von Integration: subkortikale Integration (bei vielen Tieren ist der Kortex wenig entwickelt): beim Menschen Entwicklung der Hirnrinde. Die subkortikalen Integrationen weichen dem Hirnmantel. Das menschliche Gehirn ist nicht nur größer, sondern auch komplizierter. Die Höchstzahl der Neuronen geht mit einem Höchstmaß an Fähigkeiten einher. Es gibt viele Bündel von Assoziationen; jeder Punkt des Gehirns ist mit allen anderen verknüpft.

Wie funktioniert das Gehirn? Es verhält sich wie jedes Protoplasma eines noch so einfachen Tieres (Phänomen der Depolarisation und Repolarisation). Ist das menschliche Gehirn ein für alle Mal gegeben? Wird das Kind mit einem Gehirn geboren, das sich nach endogenen Faktoren entwickelt (Cuviers These); ist das Gehirn ein soziales Produkt, wie Lamarck behauptet, und am Anfang ist nichts?

Es gibt eine hemisphärische Dominanz: Das Sprachzentrum befindet sich in der linken Hemisphäre; Kinder mit einer Hemiplegie der rechten Hirnhälfte können sprechen. Wenn die linke Hemisphäre betroffen ist, kommt es zu einer Inversion und die rechte Hirnhälfte tritt an die Stelle der linken. Gehörlose Menschen werden nicht stumm geboren: Da sie sich nicht hören können, gehen nach und nach die ursprünglichen Sprechbewegungen verloren. Man wird stumm, weil man gehörlos ist.

Das menschliche Gehirn hat enorme Potenziale, aber diese Potenziale müssen die Möglichkeit haben, sich in einem kohärenten Umfeld zu entfalten. Die Botschaften an das Gehirn müssen auch empfangen werden können.

Um sozialisierbar zu sein, muss zunächst ein normal beschaffenes Gehirn vorhanden sein. Dies ist zwar eine notwendige Bedingung, aber andere Voraussetzungen spielen auch hinein. Piaget hält die Sprache für besonders wichtig, allerdings gibt es auch ein vorsprachliches Stadium.

Auf Ebene des Gehirns besteht eine Wesensgleichheit von Wir und Ich: Man kann nicht sagen, dass das Kind egozentrisch ist und die Außenwelt nicht sieht. Otto Rank beschrieb sein „berühmtes“ Trauma der Geburt. In der Praxis der schmerzlosen Entbindung stellt man fest, dass die Geburt ein physiologischer und kein pathologischer Akt ist.

Stützen wir uns auf ein paar Fakten: 1) Ein sechs Monate alter Säugling kann nicht ohne Licht schlafen: Er hat immer mit Licht geschlafen, es liegt eine Art Vergiftung der Gehirnzellen vor. 2) Ein drei Monate alter Säugling hat eine Dermatose, die jeder Behandlung trotzt: Die Mutter hatte das Kind wie einen abstoßenden Gegenstand gestillt. 3) Ein dreieinhalb Monate alter Säugling schläft nicht, isst nicht, isst dann schließlich doch, aber verliert Gewicht: Die Eltern schlafen auch nicht; das Kind wird der Großmutter anvertraut und schläft sofort wieder. 4) Ein 14 Monate alter Säugling schläft nicht, ist aggressiv: Der Vater ist arbeitslos und hat seine Frau geschlagen. 5) Ein 14 Monate alter Säugling erbricht unaufhörlich; es stellt sich heraus, dass es an der Haltung der Eltern gegenüber dem Kind liegt: Der Vater bezweifelt die Vaterschaft. 6) Ein Kind lächelt nicht: Die Mutter hat eine doppelseitige Gesichtslähmung.

Ab den ersten Wochen treten Stereotype auf. Das soziale Umfeld ist dauerhaft präsent; ab den ersten Minuten des Lebens wird das Kind vom sozialen Umfeld gepackt. Wenn manche Kinder später zu sprechen beginnen, liegt das meist daran, dass Hemmungen zu überwinden sind, die in frühester Kindheit aufgebaut wurden. Fälle von Dyslexie können behandelt werden.

Man hat gesagt, dass die Moderne durch die bürokratische Erfassung des Menschen geprägt wurde. Der Psychiater tritt auf den Plan, als der Mensch Teil eines Arbeitsschemas wird, einer Technik; der in der Schicht und am Fließband arbeitende Mensch muss kontrolliert werden.

Die Bildung des Ich.

Die neurologische Betrachtung stimmt mit der psychoanalytischen Ansicht überein, dass in der Latenzphase alles geordnet wird. Lacan sagt, dass das Kind bei der Geburt „zerstückelt“ ist (Assoziationen sind noch nicht hergestellt). Mit sechs Monaten kommt es zu einem Wandel: Das Kind erkennt das Bild der Mutter und erlangt die Gewissheit, dass der Andere „Ich“ ist; Lacan nennt dieses Stadium das Spiegelstadium: Wenn man ein Kind vor einen Spiegel stellt, geschieht mit vier Monaten noch nichts, mit sieben Monaten großer Jubel: ein Wiedererkennen, das mit dem Bild der Mutter in Zusammenhang gebracht wird. Dass ich ich bin, geht mit der Existenz des Anderen einher. Das Spiegelstadium ist beim Menschen Standard; das Kind reagiert sehr früh auf das menschliche Gesicht; ein antrainierter Reflex.

Das Kind reagiert empfindlich auf Stimmungsänderungen. Das Gehirn ist von seiner Konstitution her nicht schwach. Um sozialisierbar zu sein, muss man eine kontinuierliche Spannung zwischen Ich und Gesellschaft halten. Mit der Sprache wird es schwieriger: Das Wort wird Signal vom Signal. Wenn mir das Umfeld keine Antwort erlaubt, dann verkümmere ich natürlich, bleibe stehen, halte an, kann keinen normalen Rhythmus haben; wenn das Umfeld mich einschnürt, gibt es einen Konflikt; es gibt dann keine freie Sicht auf die zersplitterte Komplexität des Gehirns. Um sozialisiert zu sein, muss man auf das soziale Umfeld reagieren und akzeptieren, dass das soziale Umfeld einen Einfluss auf das Ich ausübt.

Kontrolle und Überwachung.

Man hat gesagt, dass die Moderne durch die bürokratische Erfassung des Menschen geprägt wurde. Der Psychiater tritt auf den Plan, als der Mensch Teil eines Arbeitsschemas wird, einer Technik; der in der Schicht und am Fließband arbeitende Mensch muss kontrolliert werden.

Früher kontrollierte man Gegenstände, man kontrollierte die in einem materiellen Objekt verwahrte Arbeit; es handelte sich um eine Qualitätskontrolle. Mit der Fortentwicklung des Marktes wurde eine gewisse Quantifizierung eingeführt. Es ging um Arbeitsstunden, die Präsenzzeiten innerhalb einer Produktionskette. Damit waren die Voraussetzungen für die Stechuhr gegeben.

Die Stechuhr hat Spitznamen wie „Preisdrücker“ oder „Großvater“. Der Chef nennt sie „Diebstahlschutz“. Ein guter Arbeiter legt sich nicht mit der Stechuhr an. Das Verhältnis des Arbeiters zur Stechuhr ist streng, minutengenau. Der Mensch spürt die Gegenwart der Stechuhr wie eine Last. Pünktlichkeit bedeutet für den Arbeiter Frieden mit der Stechuhr. Hier kommt der moralische Begriff der Schuld ins Spiel. Die Stechuhr beugt der endemischen Schuld des Arbeiters vor und hegt sie ein. Für den Chef ist die Stechuhr unabdingbar. Da sie allgegenwärtig ist, führt die Stechuhr beim Arbeiter zu gewissen Verhaltensweisen. Sie steht für den gesamten Apparat, der den Arbeiter beschäftigt. Vor der Stechuhr hatte der Arbeiter die Möglichkeit, sich zu entschuldigen; seither steht er immer alleine da und kann den Arbeitgeber nicht mehr von seiner Redlichkeit überzeugen.

Daher stammen die bei diesen Arbeitern beobachteten Pathologien: Nervenanspannung; Wutausbrüche; Alpträume: Ein Zug fährt ab und lässt mich zurück, ein Gitter schließt sich, eine Tür lässt sich nicht öffnen, bei einem Spiel darf ich nicht mitspielen, der Chef ist in Ohnmacht gefallen und an seine Stelle tritt die Stechuhr …

Doch nicht nur das Verhältnis hat sich verdinglicht, sondern auch der Angestellte selbst. Konsequenzen:

  • Krankenstand: Man ist zu spät dran, aber aus Furcht vor einer Abmahnung betritt man nicht den Betrieb. Der Arbeiter geht stattdessen zum Arzt und lässt sich krankschreiben. Es wird aber kontrolliert. Der Fabrikarbeiter weiß also nicht, was es heißt, zu faulenzen. Er spürt Verdruss; er hat das Gefühl, aus der Gruppe ausgeschlossen, verdrängt zu werden.
  • Zunahme der zwanghaften Verhaltensweisen: Die Zeit ist nicht mehr ein Ding, in dem ich geordnet voranschreite, sondern etwas, dem ich ununterbrochen Rechenschaft schuldig bin.
  • Unfälle: vor der Arbeit geschehen 50 % mehr Unfälle als danach, obwohl der Arbeiter dann erschöpfter ist.
  • Verlust der Kontrolle über die Reflexe.

Kann man solchen Störungen vorbeugen? Darum müssten sich die Chefs und die Allgemeinheit kollektiv kümmern.

Die Neurosen der Telefonistinnen.

Das untersuchte Milieu sind die Pariser Telefonzentralen. Le Guillant stellt bei zahlreichen Telefonistinnen die folgenden Phänomene fest:[16] Gefühl von Leere im Kopf, Unfähigkeit zu intellektueller Arbeit; Unmöglichkeit, schmerzlos zu gebären: Verlust der Kontrolle über die Reflexe; Phänomene der Zwanghaftigkeit; Stimmungsstörungen, unter denen der Ehemann und das familiäre Umfeld leiden; die Angestellten können Geräusche oft nicht ertragen; Schlaflosigkeit; somatische Störungen: Die Betroffenen essen nicht, sind dauernd krank. Das alles wirkt sich auf das Eheleben aus.

Welche Ursachen haben diese Störungen? Zu viele Anrufe; man muss einen Kopfhörer tragen. Le Guillant spricht auch von der Abhöranlage, die von der Aufseherin bedient wird: Die Angestellte fühlt sich ununterbrochen ausspioniert, sie muss sich immer unter Kontrolle halten; der Körper wird in seiner Erscheinungsweise von der auditiven Wahrnehmung unterdrückt. Die Rolle der Angestellten besteht darin, Anrufende zu verbinden, Stöpsel einzustecken, sich zurückzunehmen.

Im öffentlichen Dienst wird die Telefonistin nicht überwacht und die Störungen lassen sich insoweit nur auf das Mechanische ihres Berufs zurückführen, nicht auf die Abhöranlage oder die Abhörenden. Hier sehen wir ein Beispiel dessen, was wir in der Psychologie das „Syndrom der Fremdeinflüsse“ nennen. Es deformiert und ist oft Ausgangspunkt von Suiziden.

Die Warenhausangestellten.

Insbesondere in den Vereinigten Staaten sind in Warenhäusern Kameras in Betrieb, ohne dass der Angestellte darauf aufmerksam gemacht wird; es wird dauerhaft überwacht. Natürlich richtet sich dies nicht allein gegen die Angestellten, sondern vor allem gegen Diebe; doch der Angestellte weiß, dass er permanent beobachtet wird. Die Folge sind ähnliche Krankheitsbilder wie bei den überwachten Telefonistinnen. Im technischen Bereich geht der Trend zu einer Reduktion der Kommunikation und zur Verwandlung des Menschen in einen Automaten.

Zu viele Anrufe; man muss einen Kopfhörer tragen.

Problem des Rassismus (USA).

In segregierten Gesellschaften lässt sich eine Verhaltensweise beobachten, die von einer vorherrschenden nervösen Anspannung und einer anschließenden raschen Erschöpfung geprägt ist. Bei den amerikanischen Schwarzen herrscht auf allen Ebenen, im Emotionalen, im Affektiven, eine permanente Selbstkontrolle … Diese Segregation namens color bar ist sehr streng, ihre Allgegenwart hat etwas Stechendes. In den Kriminalromanen von Chester Himes (Die Geldmacher von Harlem, Fenstersturz in Harlem etc.)[17] wird spürbar, dass in Harlem Aggressivität herrscht. Durch eine Art Verinnerlichung wendet sich die Aggressivität des Schwarzen gegen den Schwarzen; es findet eine Wiederholung der Verdammung statt; der Schwarze „akzeptiert“ seine eigene Verdammung. Achten Sie auf die Bedeutung der Schuldgefühle beim Schwarzen und beim Juden.

Daraus wird deutlich, dass der Negro Harlem verlassen will; das bedeutet jedoch, dass er weiß sein will. Die Religion wird oft als ein Mittel begriffen, „sich weiß zu machen“. Bisweilen lassen sich auch andere Ansätze beobachten: etwa der Versuch, das Paradies und Jesus Christus schwarz sein zu lassen (vgl. den Film The Green Pastures),[18] die Flucht in die negro spirituals,[19] der Aufbruch, der Weggang, der Wunsch, groß zu werden, ein Champion auf irgendeinem Gebiet – die historische Revanche des amerikanischen Schwarzen bei Sportveranstaltungen wie den Olympischen Spielen.

Besessenheit vom Suizid: etwa im Blues und in schwarzer amerikanischer Musik. Manchmal im Blues eine sehr deutliche Aggressivität: „Ich bitte Gott, dass dieser Zug nach Osten entgleist und der Lokführer stirbt …“ Die Schwarzen wissen sich oft nur noch mit einem zu helfen: töten. Wenn ein Schwarzer einen Schwarzen tötet, geschieht nichts; wenn ein Schwarzer einen Weißen tötet, wird die ganze Polizeimacht aufgeboten.

Problem der Begegnung.

Inwieweit kann ein Schwarzer in einer segregierten Gesellschaft wie der amerikanischen einem Weißen begegnen? Wenn ein amerikanischer Schwarzer einem Weißen gegenübersteht, kommt es gleich zu Stereotypen; er darf gegenüber dem Weißen nicht „authentisch“ sein, weil die Wertesysteme nicht die gleichen sind; von Anfang an entsteht eine Lüge, die Lüge der Situation. Ein Geständnis ist immer auch das Eingeständnis, seiner eigenen sozialen Gruppe anzugehören;[20] wenn der Schwarze beherrscht wird, kann man von ihm kein menschliches Verhalten erwarten. Wenn ein Schwarzer einen Weißen anspricht, hat er zunächst eine besondere Stimme, eine besondere Ausdrucksweise und einen besonderen Stil. Wenn ein weißes Element in Harlem interveniert, tritt sofort die Rassensolidarität auf den Plan.

Probleme der Psychopathologie.

Von Kindheit an greift die Gesellschaft in die Persönlichkeitsentwicklung ein. Schon in den „Ammenliedern“ taucht das Thema des Schwarzseins auf: „Schlaf, mein kleiner Negro, nimm dir deine Zeit, denn später wird’s nicht lustig.“ Eine Art Konditionierung im Absurden. Es existiert ein eigens reservierter Raum für die damit zusammenhängenden Verbote. Es herrscht eine intensive Anspannung von Psyche und Muskeln, die zu Kopfschmerzen, zu Geschwüren führt. Die Unruhe ist groß. Die Ablehnung führt zu Minderwertigkeitskomplexen. Die Schwierigkeit, sein Selbstwertgefühl zu verteidigen, wertet dieses Selbstwertgefühl ab. Und zugleich gibt es eine Verletzlichkeit, eine äußerst reizbare Empfindlichkeit der Haut.

Die „kolonisierte“ Gesellschaft.

In den Territorien, die unter fremder Herrschaft stehen, trifft man dieselben Haltungen an. Algerier sind in die deutsche Armee eingetreten, in der Hoffnung, dass Deutschland ihr Land befreien würde. Das Manifest vom 31. Mai 1943 forderte das Recht der Algerier auf Selbstbestimmung.[21] Die Algerier hatten große Vorbehalte, sich am Krieg zu beteiligen. Es heißt: „Die Feinde unserer Feinde sind unsere Freunde.“ 1939 ist das algerische Volk davon überzeugt, dass die Deutschen siegen werden; man nennt Hitler „Hadj Belgacem“. 1942 entstehen territoriale Milizen. Doch die Politiker, die wussten, was die Naziideologie bedeutete, erklärten, dass man sich keine Illusionen machen dürfe. Die nazifreundlichen Bewegungen im Iran und Irak waren in erster Linie england- und frankreichfeindlich.

Die Werte werden wieder zurechtgerückt; nach der Unabhängigkeit gilt den ehemaligen Kämpfern kein Ruhm. Aimé Césaire sagt, dass die Europäer deshalb gegen Hitler waren, weil Hitler sie so behandeln wollte, wie sie ihre Kolonien behandeln.[22]

Studiert man das Verhältnis der Zusammenarbeit zwischen Kolonisator, einheimischem Siedler und Kolonisiertem, zeigt sich, dass es zwischen ihnen kein Verhältnis gibt.

Ethnopsychiatrische Aspekte.

Es gibt Untersuchungen, die die Unselbstständigkeit des Madagassen, die Trägheit des Hindu beschreiben. 1918 veröffentlicht Porot, Professor für Neuropsychiatrie an der Fakultät Algier,[23] eine Abhandlung zur „muslimischen Psychiatrie“, in der er den Muslim folgendermaßen charakterisiert: Abwesenheit oder nahezu Abwesenheit von Emotionalität; Leichtgläubigkeit; hartnäckiger Starrsinn; Neigung zu Unfällen und hysterischen Anfällen. 1932 schreibt er jedoch (Annales médico-psychologiques), dass der Kabyle intelligent sei und nicht an der Geistesschwäche leide, die bei den anderen Algeriern festzustellen sei. 1935 sagte Baruk[24] bei der Diskussion über einen Bericht, dass der Algerier ein großer Geistesschwacher sei, ein primitives Wesen, dessen Leben im Wesentlichen vegetativ und instinktiv verlaufe; beim kleinsten psychischen Schock habe er Reaktionen im Zwischenhirn statt in der Psychomotorik.

Professor Sutter[25] kommt auf das Thema zurück: „Primitivismus ist kein Mangel an Reife, sondern ein sozialer Zustand, der das Ende seiner Entwicklung erreicht hat“; der Primitivismus lässt sich also nicht durch Beherrschung erklären; er wird logisch auf ein anderes Leben als das unsere angewandt, er sitzt viel tiefer.

Die Arbeiten der Schule von Algier sind nicht auf diesen Ort beschränkt geblieben. Ähnlich äußerte sich Dr. Gallais in Marseille zu den Senegalschützen. Dr. Carothers untersuchte die Mau-Mau-Aufstände in Kenia und führte den Begriff des Neids ein (die Engländer haben gewisse Stämme bevorzugt): Rolle der enttäuschten Liebe für den Vater, symbolisiert durch den englischen Kolonisator. Carothers behauptet, dass der Afrikaner durch sein völliges Unvermögen, in Zusammenhängen zu denken, einem Europäer gleiche, an dem eine Lobotomie verübt worden sei. Der Afrikaner sei von Natur aus lobotomiert (vgl. The African Mind in Health and Disease, 1953). Diese Arbeiten ebneten ihm den Weg in die Weltgesundheitsorganisation.

Verhältnisse des Kolonisierten zur Arbeit in einer kolonisierten Gesellschaft.

Studiert man das Verhältnis der Zusammenarbeit zwischen Kolonisator, einheimischem Siedler und Kolonisiertem, zeigt sich, dass es zwischen ihnen kein Verhältnis gibt.

Der kolonisierte Arbeiter und der Staat: Der Staat gibt sich zunächst als Fremder zu erkennen. Der Kautschukbauer aus Indochina und der Bergarbeiter aus Südwestafrika sind nicht mit dem Bauern des europäischen Festlands vergleichbar. Der Siedler, der Chef, hat sich mit Gewalt durchgesetzt; die Flagge des europäischen Staats ist auf seinem Territorium gehisst, eine Verletzung. Bei den Bergarbeitern Nordfrankreichs besteht eine Homogenität, und selbst wenn es zu Forderungen kommt, so beschränken sie sich auf den nationalen Kreis, auf das nationale Universum. Der Kolonisierte kann den Kampf nur als den radikalen Protest gegen die Beherrschung seines Landes durch ein anderes Land begreifen.

Vor der Ankunft der Fremden gibt es das Kolonialland nicht, es existierte jedoch zumindest als Tatsache, als ein natürlicher Zustand. Die Metropole wirkt auf die Natur selbst ein und auf die Menschen, sofern sie noch im natürlichen Zustand sind. Die Arbeit, mithin das, was den Menschen befruchtet, ist das Privileg des Siedlers; nur der Siedler bearbeitet die Natur und die Menschen. Einheimische und Buschland, Mitidja und faulenzender Starrsinn sind dasselbe. So sehr man Schneisen schlagen muss, muss man gegen Lepra und Malaria kämpfen, gegen die Indigenen; die Natur muss gegen ihren Willen verändert werden, ihr ist Gewalt anzutun; der Indigene muss misshandelt werden, gegen seinen Willen soll ihm Gutes zuteilwerden. Wenn man vom Gold des Transvaal spricht, denkt man an die Sturheit des Siedlers. Doch ist der Einheimische wirklich feindselig? Vielmehr ist da Trägheit, Entschlusslosigkeit, Stagnation, der Wunsch, den aktuellen Zustand aufrecht zu erhalten; weshalb es auch so schwierig ist, Aktionen durchzuführen; da ist Faulheit. Untersucht man die Arbeit in den Kolonien, muss man gewissermaßen die Faulheit untersuchen (hier Verweis auf Présence africaine, 1952, Artikel „Terre“).[26]

Nichtanstrengung, Nichtkooperation des Kolonisierten ist eine konstante Gegebenheit im Verhältnis Metropole/Kolonie. Wenn man Werke schaffen will, wenn man die Natur humanisieren will, muss man Zwang ausüben, Zwangsarbeit. Zwangsarbeit ist die Antwort des Siedlers auf die Faulheit des Indigenen; man zwingt den Einheimischen zur Arbeit, man holt ihn zu Hause ab. Zwangsarbeit ist die logische Konsequenz der Kolonialgesellschaft. Weil man Zwang auf den Indigenen ausüben kann, ist es nur allzu verständlich, dass man ihn auch schlagen darf.

Die Faulheit bietet der Gewinnsucht des Siedlers die Stirn, seinem Eifer, Geld zu verdienen. Es handelt sich um eine Faulheit, die im kolonialen Kontext als ein Wille gelebt wird, den Profit nicht zu leicht preiszugeben; ein diebisches Verhalten; der Siedler arbeitet nicht für die Ewigkeit; er arbeitet für sein eigenes Leben. Aus der Perspektive des Kolonialstaats sind Investitionen deshalb unsinnig; denn Investitionen deuten auf Ebenbürtigkeit mit der Zukunft dieser Region hin. In den Kolonien kann die private Industrie kaum investieren. Die Siedler werden nicht in die Kolonien geschickt, um eine bestimmte ökonomische Entwicklung voranzubringen, sondern um in kürzester Zeit den größten Profit zu akkumulieren.

Die Frage der Gewerkschaften stellt sich in ganz besonderer Hinsicht. Die Gewerkschaften haben in der Kolonie dieselben Losungen wie in der Metropole; ebenso die politischen Parteien. Das Problem wird nicht auf heterogene Weise angegangen, sondern auf homogene. Die Gewerkschaftslosungen waren in der Metropole und in den Kolonien dieselben. Die gewerkschaftlich organisierten kolonisierten Arbeiter waren bereits spezialisierte Arbeiter oder Funktionäre; es kam nicht infrage, Landarbeiter zu organisieren. Die organisierten Arbeiter waren auf ökonomischer Ebene bereits „assimiliert“ und man musste von ihnen nicht mehr fordern, dass sie ein Nationalbewusstsein entwickelten, doch die 87 % der Nichtorganisierten konnten die Problemlage nicht in die gleichen Begriffe fassen. Die Arbeiter und Angestellten werden aber ein Nationalbewusstsein entwickeln.

Ist der Kolonisierte ein Faulenzer? Die Faulheit des Kolonisierten ist in erster Linie ein Schutz, ein Selbstschutz auf physiologischer Ebene. Arbeit wurde in den Kolonien als Zwangsarbeit geschaffen, und selbst wenn nicht die Peitsche droht, ist die koloniale Situation selbst eine Peitsche; es ist klar, dass der Kolonisierte nichts tut, denn die Arbeit bringt ihm nichts.

Der Begriff des Arbeitslosen: In den Kolonien bezeichnet er nicht einen Arbeiter ohne Arbeit, sondern einen Indigenen, dessen Kraft noch nicht von der Kolonialgesellschaft eingefordert wurde. Er gehört zur Reserve, falls andere Arbeiter ausfallen: Laut Porot wird der Nordafrikaner sehr schnell altersschwach (mit 35 bis 40 Jahren). Die Arbeitslosigkeit ist kein menschliches Problem; sie ist eine dauerhafte Reserve, um die zu früh Gealterten zu ersetzen, um die beschäftigten Indigenen zu erpressen, wenn sie Forderungen stellen sollten, damit die Gehälter und Löhne auf einem lächerlichen Niveau bleiben. Das Heer der Arbeitslosen stört die Siedler nicht.

Wenn es in einer Kolonie keine Arbeitslosigkeit gibt, ein Schulwesen besteht, die Hochschulen offen sind, so ist sie keine Kolonie. Die Arbeitslosigkeit muss endemisch sein wie Gelbfieber oder Malaria. Die Statistiken zeigen, dass Tropenkrankheiten in vielen Regionen deutlich zurückgegangen sind. Es geht darum, neue Verhältnisse in einer Gesellschaft zu schaffen, und neue Verhältnisse sind zu schaffen, indem man das Kolonialsystem ablehnt.

Ist der Kolonisierte ein Faulenzer? Die Faulheit des Kolonisierten ist in erster Linie ein Schutz, ein Selbstschutz auf physiologischer Ebene. Arbeit wurde in den Kolonien als Zwangsarbeit geschaffen, und selbst wenn nicht die Peitsche droht, ist die koloniale Situation selbst eine Peitsche; es ist klar, dass der Kolonisierte nichts tut, denn die Arbeit bringt ihm nichts.

Arbeit muss wieder Humanisierung des Menschen bedeuten. Der Mensch macht, wenn er sich in die Arbeit stürzt, die Natur fruchtbar, aber er befruchtet sich auch selbst. Er muss fruchtbare Verhältnisse der Großzügigkeit haben; Reform der Natur, Wandel der Natur, aber weil der Mensch sich selbst gestaltet.

Der Kolonisierte, der Widerstand leistet, hat Recht.

 

Aus dem Französischen von André Hansen.

  1. [Dieser Text wurde erstmals 1984 in der Reihe „Études et recherches sur la psychologie en Algérie“ der Universität Oran und des CRIDSSH (unter Mitwirkung der ONRS und der APW Oran) veröffentlicht. Für die vorliegende Publikation hat Lilia Ben Salem, Professorin für Soziologie an der Universität Tunis, ihre Aufzeichnungen im September 2013 erneut durchgesehen. Sie wollte ein neues Vorwort zu ihren Aufzeichnungen verfassen. Für ihre Arbeit sind wir ihr sehr dankbar. Leider ist sie am 28. Januar 2015 verstorben.] [Anm. d. Red.: Die Textgrundlage der vorliegenden Übersetzung findet sich in: Frantz Fanon, Écrits sur l'aliénation et la liberté, hrsg. von Jean Khalfa und Robert Young, Paris 2018, S. 530–550. Wir danken dem Verlag Editions Découvertes für die Übertragung der Veröffentlichungsrechte.]
  2. [Vgl. das Vorwort von Abdelkader Djeghloul zur Ausgabe von 1984: „Die Veröffentlichung dieser Mitschriften, die Lilia Ben Salem uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, ist in dreierlei Hinsicht bedeutsam. 1) Sie ist ein bescheidener Beitrag des CRIDSSH zu den ‚Würdigungen‘ und den ‚Relektüren‘ von Fanon, die mit seinem 20. Todestag einhergehen. 2) Dokumentarisch ist dieser Text insofern relevant, als er einen Aspekt von Fanons sozialer Praxis aufzeigt, der oft unbeachtet bleibt: die Lehre. Fanon war Psychiater, Politiker, Journalist und Essayist, aber er war auch Dozent. Während seiner Zeit in Tunis gab er parallel zu seinen anderen Beschäftigungen Vorlesungen an der Universität Tunis. 3) Für Fanons Denken lässt sich in diesem Text sicherlich bereits ein analytisches Frühstadium finden, das in den Verdammten dieser Erde ausgebaut wird. Doch in erster Linie möchte er, was wohl der Lehrpraxis geschuldet ist, sein Verhältnis zu den Kategorien Psychiatrie, Sozialtherapie und Psychoanalyse explizit machen, die sein Hauptwerk in weiten Teilen, wenngleich implizit, bestimmen.“]
  3. Jean Cuisenier, Économie et Parenté. Essai sur les affinités de structure entre système économique et système de parenté, Paris 1971.
  4. Carmel Camilleri, Jeunesse, famille et développement. Essai sur le changement socioculturel dans un pays du tiers monde, Aix-en-Provence 1973.
  5. Paul Sebag (1919-2004) veröffentlichte 1951, mitten im Befreiungskampf, in den Éditions sociales eine Monografie über Tunesien, das erste Werk, das die Kolonisation kritisch bewertete.
  6. Frantz Fanon hatte seine Stelle als Psychiater am Krankenhaus Blida gekündigt und einen offenen Brief an Robert Lacoste verfasst, in dem er erklärte, dass es ihm unmöglich sei, Einzelne auf Biegen und Brechen von ihrer Entfremdung zu heilen, damit sie in einem Land wiederhergestellt würden, in dem „das Nicht-Recht, die Ungleichheit, der tägliche multifache Mord“ herrschten, wo der „ständig seinem Land entfremdet[e]“ Araber „in einem Zustand der absoluten Entpersönlichung lebt“. Als Antwort auf dieses Kündigungsschreiben hatte Fanon einen Ausweisungsbescheid erhalten. (Frantz Fanon, Brief an den Ministerpräsidenten (1956), in: ders., Für eine afrikanische Revolution. Politische Schriften, übers. von Einar Schlereth, Frankfurt am Main 1972, S. 57–60, hier S. 58.)
  7. „Bei der Befreiung wurden Fanon und seine Kameraden von den Antillen aus dem Kriegsdienst entlassen und auf einem alten Schiff heimgeführt, das ausgestattet war wie ein Sklavenschiff. Sie hatten geglaubt, für Rassengleichheit und die Brüderlichkeit aller Menschen in den Krieg gezogen zu sein, doch die Massen verhielten sich gegenüber den französischen und alliierten Soldaten anders als ihnen gegenüber, sodass sie sich allein gelassen, ignoriert und manchmal sogar verachtet fühlten.“ (Aus einem Gespräch mit Mahmoud Maamouri, ehemaliger Botschafter und Freund von Fanon, gemäß einem seiner Vorträge im Jahr 2008.)
  8. Vgl. die Zeitschrift L’Action, Tunis, Dezember 1963 (anlässlich von Fanons zweitem Todestag).
  9. Im Kündigungsschreiben zur Beendigung seines Dienstes am Krankenhaus Blida schrieb er: „Wenn die Psychiatrie eine medizinische Methode ist und sie sich die Aufgabe stellt, dem Menschen zu ermöglichen, kein Fremder mehr in seiner Umgebung zu sein, halte ich es für meine Pflicht, laut auszusprechen, daß der Araber, ständig seinem Land entfremdet, in einem Zustand der absoluten Entpersönlichung lebt.“ (Fanon, Brief an den Ministerpräsidenten (1956), S. 58.)
  10. Alice Cherki, Frantz Fanon. Ein Portrait, übers. von Andreas Löhrer, Hamburg 2002.
  11. Ebd., S. 98.
  12. Ebd., S. 168.
  13. Ebd., S. 44–47.
  14. Frantz Fanon / Charles Geronimi, L’hospitalisation de jour en psychiatrie. Considérations doctrinales. Le Centre neuropsychiatrique de jour de Tunis (CNPJ), in: Fanon, Écrits sur l’aliénation et la liberté, Paris 2018, S. 514–529, hier S. 518.
  15. [Anm. d. Red.: Fellagha bezeichnet einen tunesischen, marokkanischen oder algerischen Kämpfer für die Unabhängigkeit seines Landes von Frankreich zur Zeit der Dekolonisation in den 1950er und 1960er Jahren.]
  16. [Fanon verfolgt sehr früh schon die Arbeiten des kommunistischen Psychiaters Louis Le Guillant und zitiert ihn in einem Artikel über die Agitation, den er gemeinsam mit Slimane Asselah verfasst hat: Le phénomène de l’agitation en milieu psychiatrique: considérations générales, signification psychopathologique, in: Fanon, Écrits sur l’aliénation et la liberté, S. 455–465, hier S. 464. Vgl. inbes. Louis Le Guillant, La psychologie du travail, in: La Raison 4 (1952), S. 75–103; sowie ders., La névrose des téléphonistes, in: La Presse médicale 13 (1956), S. 274–277. Eine Neuveröffentlichung von Le Guillants Texten zur Arbeitspsychologie erschien unter dem Titel Le Drame humain du travail. Essais de psychopathologie du travail [2006], Toulouse 2010.]
  17. [Chester Himes, Die Geldmacher von Harlem (The Five Cornered Square), neu übers. von Manfred Görgens, Zürich 1999; ders., Fenstersturz in Harlem (The Crazy Kill), neu übers. von Manfred Görgens, Zürich 1998.]
  18. [In seiner Kritik des Romans Ein Mädchen von Martinique von Mayotte Capécia (übers. von Brigitte Beer, Hamburg 1951 [1943]) bezieht sich Fanon auch auf den Film The Green Pastures (1936) von den US-Amerikanern Marc Connelly und William Keighley: „Die Ich-Einschränkung als geglückter Abwehrmechanismus ist dem Schwarzen nicht möglich. Er bedarf einer weißen Sanktion. Mitten in einer mystischen Euphorie, einen reizenden Choral singend, hat Mayotte Capécia das Gefühl, ein Engel zu sein und ‚ganz rosig und weiß‘ davonzuschweben. Zwar gibt es einen Film, Grüne Weiden, in dem die Engel und sogar Gott schwarz sind, aber das hat unsere Autorin sehr empört: ‚Wie kann man sich Gott mit den Zügen eines Negers vorstellen? Nein, nicht so stelle ich mir das Paradies vor. Immerhin, es war nur ein amerikanischer Film.‘ Nein, wirklich, der barmherzige Gott kann nicht schwarz sein, er ist ein Weißer mit rosigen Wangen. Von Schwarz zu Weiß – so verläuft die Mutationslinie. Man ist weiß, so wie man reich ist, so wie man schön ist, so wie man intelligent ist. Freilich ist André zu anderen Himmeln entschwunden, um anderen Mayottes die weiße Botschaft zu bringen: liebliche kleine Gene mit blauen Augen, die chromosomische Bahnen entlangrasen.“ (Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1985, S. 39–40.)]
  19. [Fanon hatte in Lyon Louis T. Achille kennengelernt, einen französischen Spezialisten für Negro Spirituals, denen er einen Beitrag in der Ausgabe von Mai 1951 von Esprit gewidmet hatte, die das Thema „Klage des Schwarzen“ (Plainte du Noir) hatte und auch einen Text von Fanon mit dem Titel „Die erlebte Erfahrung des Schwarzen“ enthielt, einem Kapitel des später erschienenen Buchs Schwarze Haut, weiße Masken.]
  20. [Frantz Fanon, Conduites dʼaveu en Afrique du Nord, in: ders., Écrits sur l’aliénation et la liberté, S. 431–434, hier S. 433.]
  21. [Ferhat Abbas, Le Manifeste du peuple algérien, neu hrsg. und mit einem Vorw. von Jean Lacouture, Paris 2014.]
  22. [Aimé Césaire, Über den Kolonialismus, in: ders., Über den Kolonialismus, übers. von Heribert Becker, Berlin 2017, S. 21–88, hier S. 29.]
  23. [Zu Porot und Carothers vgl. Frantz Fanon, Considérations ethnopsychiatriques, in: ders., Écrits sur l’aliénation et la liberté, S. 422–425, hier S. 425.]
  24. [Hier ist eigentlich Porot gemeint.]
  25. [Anm. d. Red.: Jean Sutter (1911–1998) war ein französischer Psychiater, Professor für Neuropsychiatrie und ein Vorgänger Fanons als Leiter des psychiatrischen Krankenhauses in Blida. Er zählt zu den wichtigsten Vertretern der Ecole d'Alger, deren rassistische Epistemologie und deren so gewaltsame wie unwirksame Behandlungsmethoden Fanon immer wieder scharf kritisiert.]
  26. [Gemeint ist vermutlich die Rubrik „Terre africaine“ in Présence africaine 12 (1952), die sich mit der Arbeit in Schwarzafrika (Travail en Afrique noire) befasst. Diese Rubrik enthält einen Beitrag von Rosa Luxemburg: „L’expropriation des terres et la pénétration capitaliste en Afrique“, ins Französische übersetzte Auszüge aus den Kapiteln 27 und 29 von: Die Akkumulation des Kapitals, in: dies., Gesammelte Werke, Bd. 5, Ost-Berlin 1975, S. 316–333 und S. 342–365.]

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Samir Sellami.

Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaftstheorie Gesundheit / Medizin Kolonialismus / Postkolonialismus Psychologie / Psychoanalyse

Gezeichnetes Porträtbild von Frantz Fanon mit schwarzer Sonnenbrille

Frantz Fanon

Dr. Frantz Fanon (1925–1961) war ein martinikanischer Schriftsteller, Soziologe, Redakteur, Politiker und revolutionärer Psychiater.

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Autorinnenfoto von Lilia Ben Salem

Lilia Ben Salem

Dr. Lilia Ben Salem (gest. 2015) war Professorin für Soziologie an der Universität Tunis und besuchte dort in den Jahren 1959/1960 Frantz Fanons Vorlesungen über Kolonialismus und soziale Psychopathologie. (Foto: DR.)

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