Eckart Conze | Essay |

Ohne Sicherheit keine Souveränität?

Ein Beitrag zur Reihe "Sicherheit in der Krise"

Max Weber, der vor einhundert Jahren, am 14. Juni 1920, in München 56-jährig an der Spanischen Grippe verstarb, hat mit seiner wirkmächtigen These von der Entwicklung okzidentaler Rationalität und dem Glauben an die Berechenbarkeit der Welt einen wichtigen Beitrag zur präziseren Bestimmung des Zusammenhangs von Moderne und Sicherheit geleistet. Dem Befund zunehmender Kontingenz und Kontingenzerfahrungen hat er eine „Moderne“ entgegengestellt, die von den wachsenden Möglichkeiten der Weltaneignung und Zukunftsgestaltung gekennzeichnet ist sowie von der Fähigkeit moderner Gesellschaften, mit Unsicherheiten und Bedrohungen umzugehen. Der moderne Staat, nach Weber der einzig legitime Inhaber physischer Zwangsgewalt, entwickelt sich als rationaler Staat, und diese Rationalität versetzt ihn in die Lage, seine Sicherheits- und Schutzfunktion zu erfüllen. Das führt zurück zur Entstehung und Begründung moderner westlicher Staatlichkeit.

Souveräne Herrschaft, bei Jean Bodin die „absolute und dauernde Gewalt“ sowie das Gesetzgebungsmonopol, gründet auf ihrer Sicherheit und Ordnung stiftenden Funktion. „The office of the sovereign“, lesen wir bei Thomas Hobbes, sei „the procuration of the safety of the people“.[1] Die Staats- und Souveränitätstheorie der Frühen Neuzeit, insbesondere in ihrer vertragsrechtlichen Ausformung, kommt ohne Sicherheits- beziehungsweise, präziser, Unsicherheitsbezüge nicht aus. In ihnen spiegelt sich der historische Kontext des 16. und 17. Jahrhunderts, die Erfahrungen von Krieg, Bürgerkrieg, Revolution und Gewalt, ohne die die staatstheoretischen Schriften von Bodin, Hobbes, Locke, Pufendorf oder Leibniz nicht zu verstehen sind. Der Gedanke der Volkssouveränität, einer demokratischen Souveränität, welche sukzessive an die Stelle fürstlich-monarchischer Souveränität trat, änderte ebenso wenig an der Schutzfunktion des Staates als wesentlicher Herrschaftslegitimation wie die Vorstellung, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, so formuliert im deutschen Grundgesetz. Nicht zuletzt, wenn nicht gar primär aus dieser Schutzfunktion – sei sie nun postuliert, zugeschrieben oder auch tatsächlich vorhanden – ergibt sich die Persistenz des modernen Territorialstaats bis in die Gegenwart. Moderne Staatlichkeit, so sehr sie historischem Wandel unterworfen ist, war und ist bis heute sicherheitsbezogen.

„Die Bürger suchen zuerst Schutz bei ihrem Staat“, konstatierte ein FAZ-Leitartikel im Lichte der Corona-Krise und ihrer politischen Folgen, „die EU kommt später“.[2] In der Tat lassen die jüngsten Entwicklungen zur Eindämmung und Bekämpfung der Pandemie und zum Schutz der Menschen unübersehbar eine Renationalisierung beziehungsweise Reterritorialisierung von Staatlichkeit und politischer Souveränität erkennen. In Krisen- und Ausnahmesituationen schlägt offensichtlich nicht nur die Stunde der Exekutive, sondern auch die des Nationalstaats und seines Souveränitätsanspruchs. Grenzschließungen sind dafür nur das oberflächlichste Indiz. Hinzu treten kaum abgestimmte nationale Schutzmaßnahmen und Bewältigungsstrategien von zum Teil erheblicher innerer Widersprüchlichkeit – auch innerhalb der Europäischen Union, die sich doch im Vertrag von Amsterdam 1997 zu einem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ erklärt hatte. Dahinter stehen nicht nur die in der Tat von Land zu Land unterschiedlichen pandemischen Situationen, sondern auch das Primat der Schutz- und Sicherheitsfunktion des einzelnen territorialen Staates, das – in jeweils nationaler Eigenart – strukturell sowie institutionell tief in staatlichen Ordnungen sowie nationalen Sicherheitskulturen verankert ist. Zur Nationalisierung der Seuchenbekämpfung gehört allerdings auch, dass diese unter Berufung auf nationale Sicherheit und nationale Souveränität eine Gelegenheit bietet für den Ausbau autoritärer Strukturen beziehungsweise den Rückbau von Demokratie; und das erst recht, aber nicht nur in Verbindung mit Notstandsmaßnahmen und Ausnahmegesetzen, wie der Blick auf Ungarn und andere vermeintlich demokratische Staaten zeigt. Von einer „Pandemie der Machtergreifungen“ hat jüngst der Economist gesprochen.[3]

Der territoriale Rollback, dessen Zeugen wir derzeit sind, ist indessen mitnichten durch COVID-19 ausgelöst. Vielmehr verstärkt die Pandemie Dynamiken der Reterritorialisierung und Renationalisierung, deren Intensivierung sich bereits seit einiger Zeit beobachten lässt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihekaufprogramm der EZB vor gut einem Monat war keine Koinzidenz, sondern vielmehr die Bestätigung einer starken politischen Tendenz in Europa und weltweit: Es lässt sich nicht anders lesen als ein nationaler Angriff auf die europäische Rechtsgemeinschaft und den „Kern europäischer Souveränität“ (Ursula von der Leyen) – und stieß deswegen anders als in Brüssel in Warschau oder Budapest auf große Zustimmung. Die EU befindet sich in einer Phase der Renationalisierung, zu der natürlich auch der Brexit gehört. Der Imperativ der Souveränität – „Take back control!“ – sowie unterschiedliche, ja konkurrierende Souveränitätsvorstellungen spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Der vor allem seit 1990 wissenschaftlich und publizistisch verstärkt geäußerte Befund eines Bedeutungsverlusts territorialer und nationalstaatlicher Ordnung, die Diagnose von Entterritorialisierung und Entnationalisierung, von einer Entwicklung hin zu postterritorialer Souveränität oder postsouveräner Territorialität wird in diesem Licht zu modifizieren sein.[4] Hat Territorialität als konstitutives Element insbesondere europäischer Souveränitätskonzepte tatsächlich ausgedient? Muss man nicht die kaum bestreitbaren Befunde einer Deterritorialisierung stärker als bisher korrelieren mit der Persistenz, ja der Revitalisierung von Territorialität und der offenbar ungebrochen wirkmächtigen und gerade in Krisensituationen reanimierten Vorstellung autonomer nationaler Staatlichkeit?

Es geht dabei nicht zuletzt um den Zusammenhang von Krisenerfahrung als Unsicherheitserfahrung und einem Sicherheitsbedürfnis, das zu erfüllen Menschen offenkundig eher dem nationalen Staat zutrauen als übernationalen Verbünden. Gerade sicherheitsbezogene Handlungsfähigkeit wird weithin dem Nationalstaat und seinen Sicherheitsagenturen zugeschrieben. Sicherheitskulturen sind nationale Kulturen. Unsicherheit wird als transnational wahrgenommen, Sicherheit als national. Diese Dichotomie bildet den Ansatzpunkt für eine Sicherheitsforschung, die sich mit der Frage nach den Dynamiken von Entnationalisierung und Renationalisierung, von Entterritorialisierung und Reterritorialisierung sowie dem Zusammenhang von Sicherheit und Souveränität verknüpfen lässt.

Die Frage hat auch eine historische Dimension. Historisch nämlich müsste es darum gehen, sich im Zusammenhang mit den Dynamiken von Sicherheit und Unsicherheit von unilinearen Verlaufsmodellen wie Nationalisierung, Entnationalisierung und Renationalisierung oder Territorialisierung, Entterritorialisierung und Reterritorialisierung zu lösen. Stattdessen sollte die permanente Interaktion und Wechselbeziehung dieser nicht nacheinander, sondern gleichzeitig stattfindenden Prozesse analysiert werden, um Konjunkturen zu bestimmen und diese empirisch zu untersuchen und zu begründen. Selbst das Zeitalter nationalstaatlich bestimmter Territorialität zwischen dem späten 19. und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von dem Charles Maier gesprochen hat, war charakterisiert durch Gegenbewegungen.[5] Den geschlossenen Territorialstaat hat es nie gegeben, er ist ein Idealtypus im Sinne Webers. Achim Landwehr hat in ähnlicher Perspektive davor gewarnt, ein Idealmodell von Souveränität in der Geschichte zu suchen, gleichsam eine historische Manifestation eindeutiger Souveränität, und stattdessen dafür plädiert, die Vielgestaltigkeit von Souveränität anzuerkennen. Er hat davon gesprochen, dass Souveränität durch Räume und Zeiten wandert, um immer wieder neue Gestalt anzunehmen.[6] Auch der Gestaltwandel von Souveränität, die „Pluralität von Souveränitäten“ (Landwehr), lässt sich analytisch mit Dynamiken der (Un-)Sicherheit verbinden. Eine Begründung hierfür läge in der konstitutiven Bedeutung von Unsicherheitswahrnehmungen, Sicherheitsverlangen und Schutzversprechen für die Entwicklung jener Souveränitätsvorstellungen, die sich seit etwa 1600 in durchaus unterschiedlichen Ausformungen auf den modernen Staat bezogen und noch immer beziehen. Die damit eingegangene Verbindung von historischer Analyse und Gegenwartsdiagnose würde einer letztlich geschichtslosen, einer ahistorischen Vorstellung von Souveränität entgegenwirken.

  1. Thomas Hobbes, Leviathan or the Matter, Form and Power of the Commonwealth Ecclesiasticall and Civil [1651], hrsg. von Michael Oakeshott, New York 1962, S. 261.
  2. Reinhard Müller, Charaktertest für Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung [16.5.2020], 11.5.2020.
  3. The Economist, Your Country Needs Me. A Pandemic of Power Grabs, 25.4.2020.
  4. Siehe beispielsweise Ulrike Jureit / Nikola Tietze (Hg.), Postsouveräne Territorialität. Die Europäische Union und ihr Raum, Hamburg 2015.
  5. Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), 3, S. 807–831.
  6. Achim Landwehr, Im Zoo der Souveränitäten. Oder: Was uns die Präsouveränität über die Postsouveränität lehren kann, in: Jureit/Tietze (Hg.), Postsouveräne Territorialität, S. 27–50, hier 49 f.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Sicherheit

Eckart Conze

Eckart Conze ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg mit Arbeitsgebieten in der deutschen und internationalen Geschichte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Sein besonderes Interesse gilt der Historischen Sicherheitsforschung.

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