Thorsten Bonacker | Essay |

Solidarität als Sicherheitsformel

Ein Beitrag zur Reihe "Sicherheit in der Krise"

Kaum eine Vokabel dürfte in den letzten Tagen und Wochen häufiger im Zusammenhang mit der Corona-Krise verwendet worden sein als das Wort „Solidarität“. Was die öffentliche Debatte zweifelsohne dominiert, sind nicht nur Appelle an Solidarität, sondern auch die kollektiv bekundete Freude über verschiedenste Formen solidarischen Verhaltens – von der Nachbarschaftshilfe über die Aufnahme von Erkrankten aus Nachbarländern bis hin zu milliardenschweren Rettungspakten. Selbst der Deutsche Ethikrat hat seine am 27. März 2020 publizierten Empfehlungen mit Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise betitelt.[1] Rund 13.000 Treffer erhält eine Stichwortsuche zur Verbindung von „Solidarität“ und dem Corona-Virus in der Datenbank zu Artikeln deutschsprachiger Tages- und Wochenzeitungen. Dabei fällt auf, dass Solidarität bereits zu einer Sicherheitsformel geworden ist, mit der bestimmte Handlungsweisen wie etwa die Vermeidung von Kontakt nahegelegt, vor allem aber moralisch codiert werden. Sie nicht zu befolgen, erscheint nicht nur als gefährlich, sondern als Verstoß gegen elementare Normen des gemeinsamen Zusammenlebens.

Es geht hier nicht darum, die drastischen Entscheidungen zur Verhinderung der Ausbreitung von SARS-Cov-2 zu bewerten und sie beispielsweise – wie Giorgio Agamben[2] – als Realisierung eines zur Regel werdenden Ausnahmezustandes zu begreifen, obgleich sie zweifellos geradezu paradigmatische Beispiele für jene außerordentlichen Maßnahmen sind, die mit einer erfolgreichen Versicherheitlichung einhergehen. Vielmehr ist es interessant zu beobachten, wie Begriffe, die aus einem gänzlich anderen Diskurszusammenhang stammen, von einer Sicherheitslogik überformt werden. An der Verwendung des Solidaritätsbegriffs lässt sich also detailliert nachvollziehen, wie Sicherheit diskursiv, aber auch politisch funktioniert: als Generator imaginierter bedrohter Kollektive, als Technik des Regierens und als Rhetorik der Drohung.

Dies ist angesichts der begrifflichen Prägung der „Solidarität“ bemerkenswert, tauchte der Begriff in tradierten Kontexten vor allem doch als Inklusions- und Kampfbegriff auf. Solidarität diente begriffs- und politikgeschichtlich der Ausweitung von Betroffenheit durch Unterstützung anderer in ihrem Kampf um Rechte. Solche Umfangserweiterung von Betroffenheit geschah und geschieht häufig ohne direkten Bezug zu denjenigen, mit denen zu solidarisieren wir uns aufgefordert finden – wie Bayertz in seiner Rekonstruktion des normativen Gehalts des Solidaritätsbegriffs deutlich gemacht hat.[3] Ganz ähnlich wurde im Zusammenhang der kritischen Sicherheitsforschung von Claudia Aradau bemerkt, Sicherheit folge einer ausgrenzenden Logik, während eine Politik der Entsicherheitlichung, also der Entkopplung eines politischen Themas von Sicherheitsüberlegungen, in der Regel Anerkennungskämpfe im Namen der Solidarität unterstütze.[4] Mithin gilt Solidarität gemeinhin als Gegengift zur Sicherheit. Das schützt sie, wie ein Blick auf den Diskurs um SARS-Cov-2 zeigt, indes nicht davor, Teil einer Versicherheitlichungsdynamik zu werden.

Ein Rückblick auf die öffentliche Debatte in Deutschland seit Februar diesen Jahres führt vor Augen, dass Solidarität in dem Maße zur Sicherheitsformel wurde, wie sie vornehmlich individuelle Sicherheitsrepertoires rechtfertigen sollte. Während die Schließung öffentlicher Einrichtungen, von Restaurants und Kinos, schließlich sogar von Landesgrenzen zeitlich nachgelagerte politische Reaktionen auf Prognosen der Expertinnen und Experten darstellten, zielten die ersten Handlungsempfehlungen auf das individuelle Verhalten. Sie trugen keinen Zwangscharakter, sondern legten dem oder der Einzelnen vielmehr bestimmte Verhaltensweisen nahe: häufiges Händewaschen, kein Besuch größerer Veranstaltungen bis hin zu dem Rat, Kontakte zu anderen generell zu vermeiden. Die behördlich verordnete Kontaktsperre folgte erst im Anschluss, nicht ohne auf den Hinweis zu verzichten, der gute Rat allein reiche offenbar nicht aus.

Solidarität bedeutet, wie der Ethikrat in seiner Stellungnahme pointiert formuliert, dass einzelnen Personen „auf der Grundlage relevanter Gemeinsamkeit“[5] etwas abverlangt wird. Zugleich sei Solidarität weder automatisch gegeben noch unbegrenzt verfügbar. Vor allem drücke sie sich durch einen Verzicht auf soziale Kontakte aus. Ausgangspunkt dafür war zunächst der Verweis auf Risikogruppen, die es zu schützen gelte. Die Ironie, die darin liegt, Praktiken der Isolationierung als Ausdruck von Solidarität zu betrachten, ist dabei ebenso bemerkt worden wie der Umstand, dass Isolation krank machen kann.[6] Allerdings wurden relativ schnell Zweifel laut, dass der Appell an die Solidarität mit vulnerablen Gruppen erfolgversprechend sei. Daher kursierten rasch Warnungen, dass es jeden treffen könnte – häufig gepaart mit Berichten über junge Opfer oder Prominente, allen voran Fußballprofis.

Das Referenzobjekt liefern aber nicht einfach die anderen, die es zu schützen gilt. Es geht – ganz klassisch – stets auch um die imaginierte Gemeinschaft, die vom Virus, und der damit zu erwartenden Überlastung des Gesundheitssystems, bedroht ist. Der Verweis auf Solidarität hat dabei zwei Bedeutungen: Zum einen soll er zu Verzicht motivieren. Es gehört zum traditionellen normativen Bedeutungsgehalt des Solidaritätsbegriffs, Opferbereitschaft zu verlangen. Wie Bayertz unterstreicht, hängt dies nicht zuletzt mit der im 19. Jahrhundert entstandenen Auffassung von der Nation als Solidargemeinschaft zusammen. „Eine Nation“, so der bedeutende französische Historiker und Schriftsteller Ernest Renan, „ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus und muss in der Gegenwart zu einem greifbaren Faktor zusammenzufassen sein: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen.“[7] Zum anderen evoziert der Appell an Solidarität auch die Vorstellung eines Kollektive, in dessen Namen Verzicht geübt werden soll. Praktiken des Verzichts gelten dann zugleich als Beweise der Zugehörigkeit. Insofern sind individuelle Sicherheitsrepertoires über den Verweis auf Solidarität eng mit Szenarien (bedrohter) Gemeinschaftlichkeit verbunden.

Außerdem folgen sie einer Heuristik der Verantwortung, die sich allerdings unter mindestens einer Hinsicht vom Modell der Disziplinarmacht unterscheidet, das Foucault am Beispiel der Bekämpfung der Pest rekonstruiert hat. Zwar ähneln die gegenwärtigen Ausgangssperren und Kontaktverbote durchaus der von ihm beschriebenen Pestbekämpfung: „Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben.“[8] Der Verweis auf Solidarität als Grundlage der Disziplin macht hingegen deutlich: Wer sich rührt, riskiert vor allem auch das Leben anderer.

Als Sicherheitsformel setzt Solidarität schließlich eine ganz eigene Rhetorik der Drohung in die Welt – und das mindestens in zwei Richtungen. Zum einen droht den Unvernünftigen die Bestrafung – entweder dadurch, dass sie symbolisch als outgroup der Unsolidarischen erscheinen, oder, im ganz materiellen Sinne, durch die polizeiliche Feststellung von Ordnungswidrigkeiten. Kommentatoren haben in diesem Zusammenhang beispielsweise von einem „Zwang zur Solidarität“ gesprochen und darauf verwiesen, dass, wenn wir uns „jetzt nicht freiwillig zusammenreißen“,[9] weitere Einschränkungen drohen. Für ihr Verhalten zur Verantwortung gezogen werden Partygänger und Egoistinnen mit einer „Grundimmunität gegen Vernunft und Empathie“[10] – Zuschreibungen, die häufig noch erwähnen, dass es sich bei solchen Akteuren kognitiver wie affektiver Devianz primär um junge Menschen handelt.

Als Sicherheitsformel gebraucht, zielt Solidarität letztlich auf die moralische Steuerung individuellen Handels. Diese Verwendung lässt sich bis auf die Anfänge des Solidaritätsbegriffs zurückführen, der die Pflicht zu Transferleistungen und den damit verbundenen individuellen Verzicht durch einen Verweis auf die „soziale Schuld“[11] rechtfertigte. Sie war gegenüber vorangegangenen Generationen abzutragen, gewissermaßen im Modus einer persönlichen Verpflichtung. In der gegenwärtigen Diskussion rufen Appelle, die diese Begriffstradition einer sozialen Sicherheit aufgreifen, die Versprechen und das Leistungsspektrum des Wohlfahrtsstaats in Erinnerung. So wird gleichermaßen von unten etwa eine bessere Gesundheitsversorgung und angemessenere Bezahlung von Pflegekräften oder gar ein „Infrastruktursozialismus“[12] gefordert, während Bundesfinanzminister Scholz das vom Bundestag beschlossene Hilfspaket von oben mit den Worten präsentiert: „Was wir jetzt brauchen, ist Solidarität“.[13] Offenbar erleben wir gerade eine Art Renationalisierung dieses Wir, erscheint Solidarität in der Corona-Krise doch als eine nationale, mitunter sogar regionale oder lokale Angelegenheit – zumal dann, wenn es um soziale Sicherheit geht. Belege für diesen Vorgang liefern die markante Abwesenheit der EU ebenso wie die Zurückweisung der Kreuzfahrtschiffe etwa unter Verweis darauf, dass die Krankenhäuser zuvörderst der eigenen Bevölkerung zustünden.

Hier ist Heinz Bude in der Beobachtung zuzustimmen, dass sich die Suche nach Sicherheit in der gegenwärtigen Diskussion geradezu exklusiv auf staatliche oder substaatliche Solidaritätsräume konzentriert.[14] Indes geht Solidarität selbstverständlich in solchen Sicherheitsheuristiken keineswegs auf. Vielmehr haben sich während der letzten Wochen mit erstaunlicher Geschwindigkeit auch Praktiken der sozialen Vergemeinschaftung – durch reale oder virtuelle Unterstützungsnetzwerke – etabliert, denen Jürgen Habermas einst attestierte, sie seien Vollzüge einer „intersubjektiv geteilten Lebensform verschwisterter Genossen“.[15] Gerade an diesen weitgehend spontan und informell aufgekommenen Vergemeinschaftungsofferten ist abzulesen, dass normativ gehaltvolle und komplexe Begriffe im Zuge von Sicherheitsheuristiken zwar in ihrem semantischen Potenzial verengt werden können, zugleich aber auch Alternativen zur drohenden Entgrenzung der Versicherheitlichung bereithalten.

  1. Deutscher Ethikrat (Hg.), Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, Berlin 2020, https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf [4.4.2020].
  2. Giorgio Agamben, Nach Corona. Wir sind nurmehr das nackte Leben, in: Neue Zürcher Zeitung, 18.3.2020, www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-ueber-das-coronavirus-wie-es-unsere-gesellschaft-veraendert-ld.1547093 [4.4.2020].
  3. Kurt Bayertz, Begriff und Problem der Solidarität, in: ders. (Hg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt am Main 1998, S. 11–53.
  4. Claudia Aradau, Security and the Democratic Scene. Desecuritization and Emancipation, in: Journal of International Relations and Development 7 (2004), 4, S. 388–413.
  5. Deutscher Ethikrat (Hg.), Solidarität und Verantwortung, S. 5.
  6. Abdullah Shihipar, Coronavirus and the Isolation Paradox, in: New York Times, 13.3.2020, https://www.nytimes.com/2020/03/13/opinion/coronavirus-social-distancing.html [4.4.2020].
  7. Ernest Renan, Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften, übers. von Maria Fehringer, Wien/Bozen 1995, S. 56 f.
  8. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1976, S. 251.
  9. Kommentar von Wulf Schmiese, Corona-Krise. Der Zwang zur Solidarität, in: ZDF, 20.3.2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-kommentar-schmiese-100.html [4.4.2020].
  10. Kommentar von Michael Wollny, Solidarität in der Corona-Krise. Der Impfstoff gegen Egoismus, in: Schwäbische Zeitung, 18.3.2020, https://www.schwaebische.de/ueberregional/panorama_artikel,-solidarit%C3%A4t-in-der-corona-krise-der-impfstoff-gegen-egoismus-_arid,11201530.html [4.4.2020].
  11. Léon Bourgeois, Solidarität. Von den Grundlagen dauerhaften Friedens, übers. und mit einem Nachw. von Effi Böhlke, Berlin 2020, S. 36.
  12. Harry Nutt, Sighard Neckel: „Die Polarisierung wird zunehmen“. Ökonomie nach Corona, in: Frankfurter Rundschau, 24.3.2020, https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/sigard-neckel-polarisierung-wird-zunehmen-13612072.html [4.4.2020].
  13. Die Bundesregierung (Hg.), „Was wir jetzt brauchen, ist Solidarität“. Bundesfinanzminister Scholz im Bundestag, https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/olaf-scholz-bundestag-1734726 [4.4.2020].
  14. Heinz Bude, Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee, München 2019; siehe auch Johannes Nichelmann, „Solidarität ist etwas, worauf wir heute angewiesen sind“. Soziologe Heinz Bude zu Corona, in: Deutschlandfunk Kultur, 16.3.2020, https://www.deutschlandfunkkultur.de/soziologe-heinz-bude-zu-corona-solidaritaet-ist-heute-etwas.1013.de.html?dram:article_id=472663 [4.4.2020].
  15. Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991, S. 70.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Sicherheit

Thorsten Bonacker

Thorsten Bonacker ist Professor für Friedens- und Konfliktforschung am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg und Projektleiter am SFB/TRR 138 "Dynamiken der Sicherheit". Er forscht an der Schnittstelle von Soziologie und Politikwissenschaft zu Konfliktdynamiken zwischen globalen, nationalen und lokalen Ordnungsvorstellungen und dabei insbesondere zur Rolle von Sicherheit in Nachkriegs- und postkolonialen Gesellschaften, zu Opferschaft in der Aufarbeitung von Massengewalt und zu sexuellen Rechten.

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Teil von Dossier

Sicherheit in der Krise

Nächster Artikel aus Dossier: Sicherheit in der Krise

Empfehlungen

Thorsten Bonacker, Sven Opitz

Sicherheit in der Krise

Eine Reihe aus dem Sonderforschungsbereich "Dynamiken der Sicherheit" in Kooperation mit "Soziopolis"

Artikel lesen

Eckart Conze

Ohne Sicherheit keine Souveränität?

Ein Beitrag zur Reihe "Sicherheit in der Krise"

Artikel lesen

Markus Hochmüller

Kampfplatz Stadt

Rezension zu „Cities at War. Global Insecurity and Urban Resistance“ von Mary Kaldor und Saskia Sassen (Hg.)

Artikel lesen

Newsletter