Andreas Reckwitz’ neues Buch ist in diesem Forum und weit darüber hinaus mittlerweile selbst zu einem Gegenstand vielfältiger Bewertungen und damit zum Objekt von Valorisierungs- und Singularisierungsdiskursen geworden. Wie zuletzt noch einmal Hartmut Rosa in seinem Forumsbeitrag hervorgehoben hat, verdient es diese Resonanz und Aufmerksamkeit, gehört es doch unzweifelhaft zu den derzeit anregendsten Büchern im soziologischen Feld. Dass der Band mehr Kommentare, Kritiken und Diskussionen hervorruft als andere, zum Teil deutlich umfangreichere Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen, spricht jedenfalls eindeutig für das gesellschaftstheoretische Potenzial des Buches. Zu einigen der in diesem Forum erschienenen Beiträge hat Reckwitz in einer Replik bereits Stellung genommen. Ich möchte mich in meinem nachfolgenden Kommentar auf die Frage konzentrieren, ob Reckwitz’ Analyse nicht als eine Art Zeitdiagnose spätmoderner Sakralisierungsprozesse und -praktiken zu begreifen ist, die deshalb aber auch von einer dezidiert sakralisierungstheoretischen Heuristik und Begrifflichkeit in ihrer Analyseschärfe wesentlich profitieren würde. Auf die umgekehrte Frage, welches begriffliche und analytische Anregungspotenzial Reckwitz’ Buch für weitere Untersuchungen von Sakralisierungsprozessen bereithält, will ich am Schluss meiner Überlegungen zu sprechen kommen.
Die soziologische Analyse von Sakralisierungsprozessen und -praktiken geht insbesondere auf die Religionssoziologie der Durkheim-Schule zurück. Neben Émile Durkheims eigenen Schriften sind hier vor allem die Arbeiten von Marcel Mauss, Henri Hubert und Robert Hertz einflussreich geworden, nicht zuletzt für die Entwicklung von Durkheims eigener später Religionssoziologie.[1] Die weitreichenden Wirkungen, die diese niemals nur auf den engeren Bereich des Religiösen beschränkten Studien des Sakralen über die Grenzen der französischen Soziologie, Ethnologie und Literaturwissenschaft hinaus entfalteten, sind weithin sichtbar. Man denke nur an die Sakralsoziologie des Collège de Sociologie Ende der 1930er-Jahre, die unter anderen mit Namen wie Georges Bataille, Michel Leiris, Roger Caillois, Pierre Klossowski, Walter Benjamin, Hans Mayer verbunden ist.[2] Gegenwärtig sind sie besonders in Hans Joas‘ Forschungen zur Entstehung der Werte, zur Genealogie der Menschenrechte oder in seiner jüngsten Arbeit zur Kritik an der Entzauberungsthese produktiv wirksam.[3]
Im Anschluss an die hier nur andeutungsweise aufgerufenen Traditionslinien verstehe ich unter »Sakralisierung« eine affektiv und zumeist auch normativ hoch aufgeladene Überhöhung und Vorrangstellung, die aus der angenommenen beziehungsweise zugeschriebenen außeralltäglichen (insbesondere moralischen, künstlerischen, wissenschaftlichen, religiösen etc.) Überlegenheit bestimmter Subjekte, Objekte, Praktiken, Zeiten, Orte oder Kollektive resultiert. Bereits die durkheimiens hatten derartige „Einheiten des Sozialen“ (S. 57ff.), wie sie bei Reckwitz heißen,[4] unter Gesichtspunkten ihrer Sakralisierung im Blick: Stefan Czarnowski etwa schrieb über die Sakralisierung von Subjekten zu Helden,[5] Marcel Mauss arbeitete über die Auratisierung von Dingen in Praktiken der Gabe und Robertz Hertz beschäftigte sich mit der Sakralisierung von Körperteilen, Sakralisierungspraktiken bei Bestattungen oder der Sakralisierung von Landschaften. Ebenfalls zu nennen sind Henri Hubert, der zur Sakralisierung von Zeiten forschte, Maurice Halbwachs, der sakrale Orte untersuchte, sowie Durkheim, Mauss und Hubert, die gemeinsam die Sakralisierung von Kollektiven erörterten.[6]
Ich will nun keineswegs darauf hinaus, dass das, was Reckwitz unter „Valorisierung“ oder „Singularisierung“ versteht, alles schon einmal da gewesen sei. Sicher nicht! Reckwitz‘ Beschreibungen gehen entschieden über die Sakralisierungsstudien der durkheimiens hinaus. Zum einen, weil er dezidiert spätmoderne Phänomene beleuchtet – und es, nebenbei bemerkt, wie in allen seinen Texten auch hier meisterhaft versteht, sein Material mit Hilfe von Verbindungslinien zu ordnen und zu systematisieren; zum anderen, weil ihm ein reichhaltigerer Bestand an Theorien und empirischen Befunden für seine Zeitdiagnose zur Verfügung steht. Gleichwohl, so meine ich, könnte er den Fundus an soziologischen Sakralisierungstheorien durchaus noch stärker ausschöpfen und dabei von deren Analysen profitieren. Das gilt meines Erachtens nicht zuletzt für die Bedeutung von Erfahrungen, von Ritualen und von dem, was die durkheimiens als das „linke Sakrale“ bezeichneten, deren stärkere Berücksichtigung seine Analysen gleichermaßen schärfen wie vertiefen und ihnen obendrein neue analytische und phänomenale Perspektiven auf Valorisierungspraktiken und -diskurse eröffnen könnte.
Sakralisierungstheorie
Für ein theoretisch anspruchsvolles, in kritischer Absicht an Durkheim anknüpfendes, aber in systematischer Hinsicht über ihn hinausweisendes Verständnis von Sakralisierungsprozessen empfiehlt sich zunächst ein Rückgriff auf Hans Joas‘ Studien über Die Entstehung der Werte und Die Sakralität der Person. Wie Joas gezeigt hat, sind es weniger kognitive Überzeugungen oder rationale Argumente, sondern (neben Prozessen der »Selbstbildung«) vor allem Erfahrungen der Selbsttranszendenz und die damit verbundene affektive Intensität, die uns an Werte und Ideale binden und uns etwas als sakral erscheinen lassen: »Der Terminus ›Sakralisierung‹ darf nicht so aufgefaßt werden, als habe er ausschließlich eine religiöse Bedeutung. Auch säkulare Gehalte können die Qualitäten annehmen, die für die Sakralität charakteristisch sind: subjektive Evidenz und affektive Intensität. Sakralität kann neuen Gehalten zugeschrieben werden; sie kann wandern oder transferiert werden, ja das ganze System der Sakralisierung, das in einer Kultur gilt, kann umgewälzt werden.«[7]
Sakralität und die Bindungskraft des Sakralisierten beruhen demzufolge also nicht nur auf einfachen Attribuierungsprozessen – dem „Zuschreiben von Wert“ oder dem „Zertifizieren“, wie es bei Reckwitz heißt (S. 66) –, sie entstehen und verfestigen sich darüber hinaus auch in menschlichen Erfahrungen des Ergriffen-Werdens und der Selbst-Transzendenz. Solche Erfahrungen sind dabei nicht nur enthusiasmierender Art, sondern umfassen beispielsweise auch Erfahrungen von Angst oder Kontrollverlust, in denen man sich der Grenzen des eigenen Selbst bewusst wird, oder Erfahrungen der Gewalt, durch die man der eigenen Endlichkeit gewahr wird.[8] Doch so wichtig diese Art von Erfahrungen auch ist: Aus ihnen allein erwächst noch nicht automatisch die Trennung zwischen dem Sakralen und Profanen, wie Joas betont, wenn er mit Blick auf Durkheim kritisch bemerkt:
»Ganz wichtig ist, daß es sich bei der Idealbildung nicht um einen intentionalen Prozess handelt. Wir können nicht beschließen, etwas als Ideal zu betrachten, sondern wir müssen umgekehrt davon ergriffen werden, weshalb wir in allen solchen Fällen uns als passiv erleben, als Empfänger einer Gabe, Hörer einer Botschaft, Gefäß einer Inspiration.«[9]
Dieses situative Ergriffen-Werden kann, vor dem Hintergrund spezifischer sozialer Deutungsmuster – meist in Form von emotional aufgeladenen Narrativen, Mythen oder biographischen Erzählungen – ganz unterschiedlich interpretiert und artikuliert werden. Den affektiven Erfahrungen ist dabei neben der emotionalen immer auch schon eine gewisse situativ-reflexive, kognitive Sinndimension beziehungsweise eine vorgängige soziale Sinnstruktur eingeschrieben, mit deren Hilfe wir unsere Erfahrungen entsprechend deuten, die sich jedoch ihrerseits durch besonders tiefgreifende oder einschneidende Erlebnisse (etwa in Ritualen oder bruchartigen Erfahrungen der Selbsttranszendenz) auch radikal wandeln und so zu neuen Deutungsmustern führen kann.[10]
Die Sakralisierung erwächst somit nicht einfach automatisch aus den Erfahrungen, sondern, wie Joas an unterschiedlichen Stellen hervorhebt, aus einem komplexen Wechselspiel zwischen der Ebene der präreflexiven Erfahrungen und situativ empfundenen Gefühle, der Ebene unserer individuellen Artikulation und intersubjektiven Interpretation dieser Erfahrungen sowie der Ebene der kulturell vorhandenen Deutungsschemata, die niemals gänzlich die Artikulation und Situationsdefinitionen determinieren.[11]
Um zu verstehen, was in Sakralisierungsprozessen geschieht, gilt es Joas zufolge neben den genannten emotional-affektiven Erfahrungen und deren Artikulationen und Interpretationen noch weitere Dimensionen zu berücksichtigen, und zwar insbesondere das Zusammenspiel von Institutionen, Werten und Praktiken.[12]
»Institutionen, z. B. das Recht, übersetzen Werte in bindende Regeln. Sie sind viel präziser als Werte, aber in ihrer Beschränkung auf bindende Regeln reduzieren sie auch den potentiellen Sinn eines Werts auf einen ganz bestimmten Inhalt. Werte figurieren in diesem Zusammenhang als diskursive Artikulationen von Erfahrungen, aus denen eine Bindung hervorgeht, die als subjektiv evident und affektiv intensiv erfahren wird. In Praktiken lebt ein prä- oder nicht-diskursives Bewusstsein dessen, was gut oder böse ist. Wenn wir so im Schema eines Dreiecks von Institutionen, Werten und Praktiken denken, ist es nicht überraschend, dass immer Spannungen zwischen diesen drei Dimensionen aufkommen. Institutionen beziehen ihre Legitimation aus artikulierten Werten. [...] Artikulationen von Erfahrungen und konstitutive Bindungen sind nie definitiv. Werte schöpfen andererseits auch Praktiken nie ganz aus [...]. Für das Verständnis kultureller Transformationsprozesse und in diesem Zusammenhang von Prozessen der Sakralisierung ist es wesentlich, dass solche Prozesse ihren Ausgang von jeder der drei Ecken des Dreiecks nehmen können. [...] Wie die genaue Konstellation in einem spezifischen Sakralisierungsprozess aussieht, ist dann eine rein empirische Frage.«[13]
Sakralisierungsprozesse werden demnach nur verständlich, wenn man die Praktiken in den Blick bekommt, mittels derer bestimmte Akteure Sakralität zu legitimieren, zu kodifizieren und somit auf Dauer zu stellen versuchen. Ebenso gilt es, dabei stets die affektiven Erfahrungsmomente und ihre Interpretationen, lustvollen Projektionen und das subjektive Evidenzempfinden der Akteure ins Auge zu fassen. Im Zusammenhang damit ist zu untersuchen, wie diese Erfahrungen, Artikulationen, Interpretationen und Projektionen nicht nur von bestimmten gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen (Macht-)Verhältnissen, Situationen und Deutungsmustern geprägt sind, sondern auch, wie sie in den Diskursen und (Alltags-)Praktiken zu Tage treten, die es den beteiligten Akteuren augenscheinlich, attraktiv und vernünftig erscheinen lassen, bestimmte Zeiten, Orte, Subjekte, Objekte, Kollektive etc. zu sakralisieren.
Sakralisierung und Erfahrung
Soweit in der gebotenen Kürze zur Sakralisierungstheorie. Was könnte eine Theorie der Singularisierung und Valorisierung wie diejenige von Andreas Reckwitz nun von Sakralisierungsanalysen im Stil von Hans Joas lernen? Ich will fünf Punkte skizzieren:
Erstens könnte sie sich um ein noch genaueres Verständnis der Erfahrungsebene von Valorisierungs- und Singularisierungsprozessen bemühen, das heißt, sie sollte noch deutlicher machen, dass Bewertungen und Valorisierungen nicht allein aus kognitiven Zuschreibungen (S. 65), sondern auch aus affektiven Erfahrungen resultieren. Oder, um es positiv zu formulieren: Eine Theorie der Valorisierung und Singularisierung sollte beide Prozesse zusammenbringen und gerade das enge Wechselspiel von Erfahrungen, Emotionen und Affekten auf der einen Seite sowie von Deutungen und Zuschreibungen auf der anderen in den Blick nehmen.[14] Hier stimme ich mit Martin Saar überein, der in seinem Forumsbeitrag ähnlich argumentiert. Im Unterschied zu ihm geht es mir bei der Auseinandersetzung mit der affektiven Intensität von Erfahrungen jedoch stärker um den auch von Joas thematisierten Aspekt der Bindekraft von Singularitäten.
Die Problematik scheint mir deshalb relevant, weil geklärt werden muss, wieso sich Menschen an Singularitäten gebunden fühlen und diese attraktiv finden. Reckwitz‘ Überlegungen gehen meines Erachtens schon in die richtige Richtung und er ist ganz sicher nicht affektblind, wie zahlreiche Aufsätze von ihm bezeugen.[15] Auch im vorliegenden Buch hebt er den besonderen Affektcharakter der Logik der Singularitäten (S. 71) hervor und geht dabei auch auf entsprechend notwendige Praktiken des Erlebens ein. Allerdings finden Erfahrungen dann doch nur in einer Fußnote (Fn. 86) als besonders intensives Element des Erlebens eine eigene Erwähnung. Folgt man den eingangs skizzierten Überlegungen von Joas, dann ist es ja aber gerade die passivische Erfahrung der Selbsttranszendenz, durch die sich uns etwas erst als ein Wert erschließt. Sie ist das zentrale und basale Element, warum uns etwas angeht, affiziert oder an einen Wert bindet,[16] und sie ist es auch, die am Anfang von Prozessen der Intellektualisierung beziehungsweise Routinisierung von Valorisierungen/Sakralisierungen eine zentrale Rolle spielt. Für eine adäquate Beschreibung dieser Erfahrungsdimension der Selbsttranszendenz ist der von Reckwitz verwendete aktiv-bewusste Begriff des „Aneignens“ (S. 70) meines Erachtens weniger gut geeignet als passive und pathische Begrifflichkeiten wie „Widerfahrnis“ (Waldenfels) oder „Ergriffen-Sein“ (Joas). Tatsächlich ist auch bei Reckwitz einmal von „Ergriffen-Sein“ die Rede (S. 71), doch besitzt der Begriff, ähnlich wie der der „Erfahrung“, im Verhältnis zu dem der „Aneignung“ nur einen untergeordneten Stellenwert in seinen systematischen Überlegungen. Kurzum: Es geht mir in dieser Sache vor allem um die Frage einer etwas anders gelagerten Akzentuierung. Worauf es mir ankommt, ist der Umstand, dass auch die aktive Praxis des Erlebens oder die „soziale Praxis“ des „subjektiven Erlebens“ (S. 71), wie es bei Reckwitz heißt, als „sinnlicher Prozess“ eine Erfahrungsdimension beinhaltet, die als „leiblicher, psychischer Prozess“ (S. 70) – entgegen Reckwitz‘ Meinung – doch etwas „Innerliches“ (S. 71) umfasst, das zunächst erfahren oder empfunden wird, bevor es dann – vor dem Hintergrund sozio-kulturell gerahmter Deutungsmuster – jeweils artikuliert, interpretiert und intelligibel wird.[17]
Um meinen ersten Punkt abzuschließen: Ich möchte Reckwitz empfehlen, der passivischen Erfahrungsdimension, die für die Erklärung des Bindungscharakters an das Singuläre/Sakralisierte relevant ist, mehr Aufmerksamkeit zu schenken und sie in systematischer Hinsicht der erlebensmäßigen Aneignung phänomenal voranzustellen. Vielleicht würden davon auch andere Ebenen der Analyse profitieren, etwa die nach meinem Eindruck bislang noch nicht besonders trennscharfe Differenzierung zwischen Affekten, Emotionen und Erregungsintensitäten. Wenn es bei Reckwitz etwa heißt, dass es sich bei Affekten nicht um Emotionen im Innern von Subjekten handele, sondern um „Relationen der Affizierung“ (S. 72), die wiederum „affektive Erregungsintensitäten mobilisieren“ (S. 73), dann scheint mir hier noch Klärungsbedarf zu bestehen. Sind denn bei Affekten nicht immer auch Emotionen im Spiel, zumindest in der Theorie der Affektlogik von Luc Ciompi, den Reckwitz zustimmend zitiert (Fn. 88)?
Als eine weitere, hier nur kurz erwähnte Vorgehensweise, die sich unter Umständen als hilfreich für die Analyse von Prozessen der Aufwertung und der normativen Überhöhung wie auch zur Beantwortung der Frage nach der „Ansteckung des Sakralen“ erweisen könnte, böte sich eventuell ein Rekurs auf psychoanalytische Kategorien an, etwa in Auseinandersetzung mit Aspekten der Projektion, der Fetischisierung oder dem im Sakralisierten begehrten „Ding“.[18] Das „Ding“ steht nach Slavoj Žižek für Objekte, an denen sich das Begehren orientiert, um einen als konstitutiv erfahrenen Mangel des Subjekts aufzuheben. Žižek spricht in diesem Zusammenhang etwa vom „nationalen Ding“, und eröffnet damit eine Perspektive auf die psychische Dimension der Sakralisierung (von Gemeinschaften), die sich – etwa im Rahmen der Diskussion um Neogemeinschaften – als durchaus interessant erweisen könnte.[19]
Sakralisierung und Ritual
Ich komme zu meinem zweiten Punkt. Sakralisierungstheorien heben stets die besondere Bedeutung von Ritualen für die Herstellung, Reproduktion oder Transformation von Sakralisierungsprozessen hervor. Rituale kommen in Reckwitz’ Valorisierungstheorie zwar auch vor, etwa als erlebte singuläre Zeitlichkeit (S. 61), aber im Gegensatz zu Sakralisierungstheorien spielen sie bei ihm nur eine sehr untergeordnete Rolle. Wie in den Studien der durkheimiens bereits gezeigt, umfasst das Rituelle (sei es auf der Interaktionsebene oder auf der makrosozialen Ebene) die von Reckwitz genannten Praktiken der Performanz, der Symbolisierung und der Durcharbeitung ebenso wie die der Aneignung, der Transformation und des Hervorbringens von Werten. Nicht, dass sich die genannten Praktiken oder die Prozesse der Wertentstehung und -bindung auf Rituale reduzieren ließen. Aber Rituale spielen – nicht zuletzt aufgrund ihres inhärenten Erfahrungscharakters und der in ihrem Vollzug jeweils hergestellten symbolisch-kognitiv-emotionalen „Gemeinsamkeitswahrnehmung“[20] – sowohl für die Produktion als auch für die Reproduktion und Transformation von Singularitäten und deren Bindungskraft eine zentrale Rolle.[21] Sie umfassen deshalb einen Praxiskomplex, der in der Analyse von Valorisierungsprozessen ebenfalls noch deutlicher akzentuiert werden sollte.
Sakralisierung und das linke Sakrale
Reckwitz selbst schreibt wiederholt vom Gegensatz zwischen dem Sakralen und Profanen (S. 66f.), öfter jedoch verwendet er die Unterscheidung „wertvoll/profan“. Unter Rekurs auf eine von der Durkheim-Schule inspirierte Sakralisierungstheorie, und das ist mein dritter Punkt, könnte man über diese Unterscheidung insofern hinausgelangen, als sie – übrigens auch im Unterschied zu Weber‘schen Charismatheorien – von zwei Seiten des Sakralen ausgeht, einer „rechten“ und „linken“, und dabei die so genannte „linke Seite des Sakralen“ stärker berücksichtigt.[22] Nach dieser Sichtweise ist das Sakrale nicht nur vom Profanen zu trennen, sondern seinerseits noch einmal in ein reines und unreines, ein rechtes und linkes Sakrales zu unterteilen, so wie es nach einer berühmten Formulierung Rudolf Ottos zwischen den Aspekten eines mysterium fascinosum und einem mysterium tremendum zu unterscheiden gilt. Steht das rechte Sakrale in den meisten Kulturen für Reinheit, Ordnung und das Erhabene, so das linke Sakrale für das Niedere, den Tod, die Sünde und die Unreinheit.[23] Diese Dualität ist jedoch nicht fixiert, die Seiten können wechseln. Als Beispiel für die Möglichkeit eines Wechsels vom linken zum rechten Sakralen betrachtet etwa Hertz das Ritual der zweiten Bestattung bei den Ngadju Dayak aus Borneo: Halten diese den Leichnam vor der Verwesung noch für unrein, so gelten ihnen die Knochen nach der Verwesung als verehrungswürdige »Reliquien«, also rechtes Sakrales.[24]
Eine Valorisierungstheorie wie die von Reckwitz könnte von Hertz’ Analysen nun insofern profitieren, als sich damit auch die negativen Bezugspunkte von Valorisierungen noch deutlicher herausstellen ließen. Mit dem Konzept des linken Sakralen könnte zudem schärfer herausgearbeitet werden, wie Dimensionen des linken Sakralen, also negative Erfahrungen, Affekte und Erlebnisse wie Gewalt, Scham oder Missachtung sowie deren Deutungen ihrerseits Anlass für positive Valorisierungen und eine größere Dichte der Binnenintegration und Eigenkomplexität von Singularitäten geben können.[25]
Sakralisierung und Macht
Viertens: Bereits Mauss und Hubert wussten um die Dynamik von Sakralisierungs- und Desakralisierungsprozessen.[26] Diese historisch kontingente, zwischen positiven Valorisierungen, negativen Valorisierungen und Profanisierungen oszillierende Dynamik geht oft mit Macht- und Herrschaftsprozessen einher. Damit ist gemeint, dass Ideen, Personen, Dinge oder Gemeinschaften ihren sakralen Charakter im Zuge gesellschaftlicher Kämpfe gleichermaßen erlangen, verändern oder auch wieder verlieren können.[27] In ähnlicher Weise wie charismatische Persönlichkeiten oder Führungsfiguren, so sieht sich auch das Sakrale insgesamt in einem umkämpften Feld von Sakralisierungs- und Desakralisierungsprozessen für gewöhnlich »einem gesteigerten Bewährungszwang« ausgesetzt, was nicht selten zu weiteren Legitimierungs-, Institutionalisierungs- und Expansionsbestrebungen führt.[28] Diese Aspekte der machtgestützten Produktion, Implementierung, Konsolidierung oder Verteidigung von sakralisierten sozialen Einheiten[29] gilt es ebenso in den Blick zu nehmen wie das massenhafte Auftreten von Sakralisierungsprozessen. Auch Reckwitz zufolge gehen Prozesse der Singularisierung mit „Kulturkämpfen“ oder „Valorisierungskonflikten“ einher (S. 80) und sind alles andere als „herrschaftsfrei“ (S. 67): „In Praktiken der Valorisierung wird emporgehoben und verworfen, es wird ausgezeichnet und in die Unsichtbarkeit abgeschoben.“ (S. 67) Aber dabei bleibt völlig im Dunklen, wer denn heutzutage eigentlich diejenigen sind, die darüber entscheiden, was emporgehoben und verworfen, was ausgezeichnet oder abgeschoben wird. Kurz: Wer sind in der Gesellschaft der Singularitäten die Herrschenden? Ist es ganz allgemein die neue Mittelklasse, die kraft ihrer kulturellen Hegemonie herrscht, oder lassen sich noch andere, präziser zu bestimmende Akteure ausmachen, etwa politische, ökonomische oder journalistische Eliten? Und wer genau sind diejenigen, die ihnen als von Emporhebung oder Verwerfung Betroffene gegenüberstehen? Wer besetzt in den Valorisierungsdiskursen mächtige Subjektpositionen, wer verteilt oder besetzt die Sprecher*innenrollen? Und schließlich: Bis in welche Verästelungen des gesellschaftlichen Kapillarsystems hinein lassen sich die subtilen Formen der Herrschaft durch Singularisierung verfolgen?
Die hier aufgeworfenen Fragen, denen sich weitere hinzufügen ließen, machen vermutlich schon deutlich, dass zu den Macht- und Herrschaftsverhältnissen in der Gesellschaft der Singularitäten meines Erachtens noch viel mehr gesagt und diese klarer benannt werden sollten. Als weiterführend und gewinnbringend könnte sich hier ein Rekurs auf die von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe ausgearbeitete Hegemonietheorie erweisen.[30] Mit ihr ließe sich meines Erachtens gut beschreiben, inwiefern Sakralisierungsdiskursen nicht nur eine Tendenz zur Überhöhung und Hegemonialisierung bestimmter Werte, Personen oder Objekte innewohnt, sondern warum ihnen auch stets und unvermeidlich eine nicht minder wirksame Tendenz zum Ausschluss anderer zu eigen ist. Lohnend schiene mir aber auch ein Anknüpfen an Michel Foucaults Konzept der produktiven Macht, mittels dessen man fragen könnte, welche Normen, Subjektpositionen, Handlungsmotivationen oder gesellschaftlichen Spaltungen durch bestimmte Valorisierungs- und Sakralisierungsdiskurse hergestellt und verfestigt werden.[31] Selbstreflexiv gewendet ließe sich in dieser Perspektive etwa auch danach fragen, inwiefern selbst die Valorisierungsdiskurse dieses Buchforums Gegenstand von Machtprozessen im soziologischen Feld sind, deren Kräfteverhältnisse sie gleichzeitig verändern? Förderlich für eine nähere Analyse des Verhältnisses von Sakralisierung und Macht schiene mir schließlich auch Pierre Bourdieus kultursoziologisches Konzept der symbolischen Herrschaft, dem zufolge Herrschaft nicht zuletzt auf der symbolisch-sinnhaften Ebene des Selbstverständlichen und Alltäglichen sowie der nicht mehr reflektierten Kategorien, sozialen Zuschreibungen und kulturellen Muster wirksam wird. Wie Bourdieu in zahlreichen seiner Arbeiten gezeigt hat, fungiert gerade die präreflexive Aneignung und unbewusste Verinnerlichung von Normierungen und Wertungen in Sozialisationsprozessen als Vehikel der Bejahung, Verinnerlichung und Verschleierung von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen.[32] Aus dieser Perspektive betrachtet wird deutlich, wie bestimmte Zuschreibungen (etwa die geniereligiöse Annahme von singulärer Begabung) ebenso wie der daraus resultierende außergewöhnliche sakrale Status einer Person durch Prozesse symbolischer Herrschaft (re-)produziert und am Leben erhalten werden, die von den Akteuren meistens nicht als Ergebnis sozialer und sozialpsychologischer Machtprozesse durchschaut, sondern als Folge quasi natürlicher oder intrinsischer individueller Eigenschaften gedeutet werden. Und schließlich wäre auch die von der Kapitallogik der Medien favorisierte Inszenierung und wesentlich zum Politainment gehörende Personalisierung/Singularisierung von Politiker*innen ebenfalls einer ausführlichen Herrschaftsanalyse würdig.[33]
Valorisierung versus Sakralisierung?
Zum Schluss möchte ich die Perspektive noch einmal umkehren und auf die eingangs formulierte Frage zurückkommen: Was kann die Analyse von Sakralisierungsprozessen von Reckwitz’ Gesellschaft der Singularitäten lernen? Es ist zweifellos ein großes Verdienst des Buches, kulturelle Prozesse der Valorisierung und – wie ich damit eben auch sagen würde – der Sakralisierung nicht als bloße Überbauphänomene des Sozialen zu begreifen, sondern sie als strukturproduzierende und -generierende Kräfte ernst zu nehmen und stärker in den Mittelpunkt gesellschaftstheoretischer Analyse zu rücken. Reckwitz präsentiert eine systematisch geordnete und zudem gut lesbare, kulturhistorisch und -soziologisch beschlagene Analyse gegenwärtiger Valorisierungs- beziehungsweise Sakralisierungsprozesse, die theoretisch anspruchsvolle Argumente mit anschaulichen Beispielen verbindet. Darüber hinaus sind in die stringente Gesamtdarstellung eine Fülle von Einzelbeobachtungen eingewoben, die zum Nach- und Weiterdenken anregen. Wer sich wie ich in besonderer Weise für theoretische Analysen von Sakralisierungsprozessen interessiert, für den erweist sich der Abschnitt zu den „Qualitäten der Kulturpraxis“ (S. 87ff.) als besonders ergiebig. Bei den titelgebenden „Qualitäten der Kulturpraxis“ handelt es sich um diejenigen Merkmale respektive Eigenschaften, die Orten, Zeiten, Objekten, Subjekten oder Kollektiven in „Praktiken der Valorisierung zu- oder abgesprochen“ (S. 88) werden und die als solche maßgeblich für die bereits erwähnte „affektive Intensität und subjektive Evidenz“ (Joas) des Sakralen mitverantwortlich sind: Reckwitz gelingt nicht nur eine überzeugende Systematisierung dieser Qualitäten, die er in ästhetische, narrativ-hermeneutische, ethische, gestalterische und ludische unterteilt, sondern auch deren anschauliche Erläuterung. Die meisten Sakralisierungstheorien haben bislang insbesondere die narrativ-hermeneutischen, ethischen und ästhetischen Momente in den Mittelpunkt ihrer Analysen gerückt, während gestalterische und ludische Aspekte demgegenüber oft nur eine nachgeordnete Rolle spielten – und das obgleich Letztere in der Sakralsoziologie des Collège de Sociologie, insbesondere in den Arbeiten von Roger Caillois, schon einmal erörtert worden waren.[34]
Darüber hinaus frage ich mich, ob man angesichts des Gesagten nicht zwischen Valorisierung und Sakralisierung präziser differenzieren und sowohl die Begriffe als auch das, was sie zu fassen versuchen, genauer definieren sollte. Zwar bemühe ich mich in meiner Argumentation um den Nachweis, dass sich Valorisierungsprozesse (vor allem mit Blick auf die Entstehung und Bindungskraft von Werten und Wertungen) mit soziologischen Sakralisierungskonzepten noch besser verstehen und erklären lassen. Aber gleichzeitig ist doch auch zu berücksichtigen, dass längst nicht alle Valorisierungsprozesse mit Sakralisierungen einhergehen. Sowohl Reckwitz‘ Valorisierungstheorie als auch die Sakralisierungstheorie sollten zukünftig noch besser zwischen unterschiedlichen Graden der Wertung, der Bindung, der Attraktivität, der subjektiven Evidenz und der Affektivität differenzieren. So mag zwar die für ein Musikstück oder einen Musiker empfundene Bewunderung unter Umständen sakrale Züge annehmen, gleichwohl dürfte sie im Werthaushalt der meisten Menschen vermutlich auf einer niedrigeren Ebene angesiedelt sein als der Wert der körperlichen und seelischen Gesundheit. In ähnlicher Weise wäre die Bewertung einer Universität bei einem Ranking meines Erachtens deutlich von einer Selbst-Sakralisierung von Neogemeinschaften zu unterscheiden. Wünschenswert wäre mithin ein hinreichend differenziertes, über Charles Taylors zweiteilige Unterscheidung von schwachen und starken Wertungen hinausweisendes Konzept, mit dessen Hilfe sich unterschiedliche Grade werthafter Aufladungen theoretisch noch besser in den Griff bekommen lassen.[35]
Ich komme zum Schluss: Andreas Reckwitz hat mit Die Gesellschaft der Singularitäten eine beachtenswerte, auf präzise Beobachtungen gestützte und zu neuen Perspektiven auf die Spätmoderne einladende Kultursoziologie der Gegenwart vorgelegt. Er knüpft darin an Überlegungen aus früheren Büchern an, in denen er sich bereits aus unterschiedlichen Perspektiven mit Prozessen der Valorisierung beziehungsweise Sakralisierung auseinandergesetzt hat, so etwa mit der Frage nach hegemonialen Subjektkulturen oder mit der Sakralisierung der Kreativität zu einem geradezu hegemonialen Kreativitätsdispositiv.[36] In seinem neuen Buch fokussiert er nun das Singuläre und weitet damit zugleich den Blick aufs Ganze. Ähnlich wie in Georg Simmels Analysen der Moderne lassen sich auch bei ihm aus der genauen Betrachtung spezifischer Akteure, Praktiken oder Objekte erhellende Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der Gesellschaft ziehen. Man darf gespannt sein, welches das nächste Thema sein wird, dem sich Reckwitz nach Subjekt, Kreativität und Singularität zuwenden wird. Am liebsten möchte man ihn fragen: What‘s next?