Thomas Hoebel, Wilhelm Heitmeyer | Interview |

Rechte Gewalt erforschen

Wilhelm Heitmeyer im Gespräch mit Thomas Hoebel

Jüngst ist Ihre Studie Rechte Bedrohungsallianzen erschienen. Sie haben zusammen mit Ihrer Ko-Autorin Manuela Freiheit und Ihrem Ko-Autor Peter Sitzer entschieden, aller Menschen, von denen wir wissen, dass sie in Deutschland seit 1990 Opfer rechter Gewalt geworden sind, namentlich zu gedenken – und zwar nicht in einem Anhang, sondern an einer vergleichsweise frühen Stelle des Buches. Was hat Sie dazu bewogen?

Nun, dazu muss man wissen, dass wir in dem Buch zunächst die statistische Entwicklung rechtsextremistischer Gewalt und Tötungen nachgezeichnet haben. Weil sie die Namen der Getöteten verschlucken, haben statistische Zahlenkolonnen doch etwas Unmenschliches. Dabei besitzt jedes Opfer einen eigenen Namen – und das muss erst recht dokumentiert werden, wenn man eine gleichwertige Betrachtung aller Schicksale anstrebt. Deshalb haben wir Walter Lübcke in die Liste eingereiht, ohne Titel, ohne Funktion, schlicht als eine Person, der das Leben genommen worden ist. Öffentliche Prominenz ist das eine, das andere ist die Prominenz der Getöteten von Hanau und Halle oder der NSU-Opfer für ihre Familien, Freunde und Bekannten.

Nach Gewaltanschlägen mit sogenanntem „rechtsextremen Hintergrund“ wird immer wieder auf gesellschaftlich verbreitete Einstellungsmuster verwiesen. Diese Einstellungen teilen sehr viele Menschen, doch begehen nur wenige tatsächlich Gewalttaten. Mit dem Konzept des „konzentrischen Eskalationskontinuums“ – gewissermaßen das Schlüsselkonzept Ihrer Studie – zielen Sie darauf ab, diesen Zusammenhang präziser zu fassen. Was genau ist gemeint?

Grundsätzlich möchten wir deutlich machen, dass zahlreiche Menschen Einstellungen teilen, die wir als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ bezeichnen. Zwar begehen nur wenige unter ihnen entsprechende Gewalttaten, doch sollten diese Taten nicht isoliert von derartigen Einstellungsmustern betrachtet werden. Eine solche Form der gesellschaftlichen Selbstentlastung und des politischen Selbstbetrugs ist durchaus üblich. Im Grunde will man ein dichotomes Gesellschaftsbild erzeugen, nämlich hier die intakte Gesellschaft, dort die Mörderbande.

Die Aufdeckung der NSU-Morde hat gezeigt, wie bereitwillig an ein solches Bild geglaubt wird. Es ist unseres Erachtens jedoch falsch. Man muss die Einstellung in der Bevölkerung, in ihrer jeweils spezifischen Form und Funktion, für das Eskalationskontinuum berücksichtigen. Und dabei reicht es nicht aus, die einzelnen Phänomene im Bereich des rechten und rechtsextremen Spektrums parzelliert zu analysieren. Zwar sind diese Einzelanalysen wichtig und illustrativ, doch verdecken sie die Gesamtzusammenhänge rechter Gewalt. Sie offenzulegen, darauf zielt unser Konzept des konzentrischen Eskalationskontinuums.

Was wir als Eskalationskontinuum identifizieren, kann man sich als Zwiebel vorstellen, mit fünf Schalen. Die äußere, die größte Schale, sind die gruppenbezogen-menschenfeindlichen Einstellungsmuster in Teilen der Bevölkerung. Die nächstkleinere Schale besteht in einem autoritären Nationalradikalismus, wie ihn etwa die AfD vertritt. Bloß von Rechtspopulismus zu sprechen, halte ich für völlig unzureichend, weil der Begriff die Umtriebe dieser Partei letztlich verharmlost.

Beide Schalen sind in spezifischer Weise miteinander verknüpft. Die von uns so genannte „Legitimationsbrücke“ zwischen den Einstellungsmustern in Teilen der Bevölkerung und dem autoritären Nationalradikalismus besteht in der Abwertung und Diskriminierung von schwachen Gruppen in der Gesellschaft. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist ja definiert dadurch, dass Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit und unabhängig von ihrem individuellen Verhalten zum Ziel von Abwertung, Diskriminierung und Gewalt werden. Das heißt, Teile der Bevölkerung liefern die Legitimation dafür, dass der autoritäre Nationalradikalismus mit Parolen wie „Umvolkung“ oder „großer Austausch“ Politik machen und Feindbilder verdichten kann.

Daraus entstehen dann wiederum Legitimationsbrücken zu einem Milieu, das wir als „systemfeindlich“ bezeichnen, ein Milieu also, wo die Rechtsextremen beziehungsweise die neonazistischen Gruppen in der Regel mit massiven Bedrohungen und mit Gewalt hantieren; nicht unbedingt mit einem ausdrücklichen Vernichtungswillen, wie das die Rechtsterroristen tun, allerdings mit handgreiflicher Gewalt gegen Andersdenkende und Minderheiten.

Die spezifische Legitimationsbrücke zwischen autoritärem Nationalradikalismus und systemfeindlichen Milieus nennen wir „Gewaltmembran“. Membrane sind ja sowohl etwas Trennendes wie etwas Durchlässiges. Und der Ansatz der AfD, gerade auch der führenden Leute wie Gauland, Höcke und Kalbitz, besteht bekanntlich darin, Untergangsfantasien heraufzubeschwören und dem „deutschen Volk“ eine Opferrolle zu zuschreiben. Damit soll ein vermeintliches Recht auf Notwehr legitimiert werden, von dem Angehörige des systemfeindlichen Milieus Gebrauch machen.

Die nächstkleinere Schale stellen die klandestinen rechtsterroristischen Planungs- und Unterstützungsmilieus dar. Davon gab und gibt es einige. Gruppierung wie „Revolution Chemnitz“ oder „Gruppe S.“ sind zum Glück bereits aufgeflogen, einige andere auch. Hier besteht die Legitimationsbrücke im Wesentlichen in der Propaganda der Tat. Rechtsterroristische Gruppen- oder Individualtäter setzen diese gewaltsame Kommunikationsstrategie tatsächlich bewusst um. Sie bilden das Innere des zwiebelförmig gedachten Konzepts des Eskalationskontinuums.

Was verbindet – auf den Punkt gebracht – alle fünf skizzierten Schalen durchgängig miteinander?

Vor allem zwei entscheidende Dinge! Durchgängig ist erstens die Ideologie der Ungleichwertigkeit, mit der Feindbilder und bestimmte Gruppen markiert werden. Stefan Malthaner und Peter Waldmann sprechen in diesem Zusammenhang treffend von negativen Bezugsgruppen.[1] Und zweitens ist Gewaltakzeptanz durchgängig. Sie ist in den Einstellungsmustern nicht sehr ausgewiesen, doch nimmt man das Element von Gewalt billigend in Kauf, womit für Legitimation gesorgt wird. Diese grundsätzliche Gewaltakzeptanz steigert sich sukzessive nicht nur bis zu faktischer Gewaltbereitschaft, nach dem Motto: „Also wenn es sein muss, dann stehen wir auch dahinter. Wir sind für Gewalttätigkeit“, sondern sogar bis hinein in die Vernichtungsfantasien respektive Vernichtungstaten rechtsterroristischer Tätergruppen oder Einzeltäter.

Worin besteht für Sie der hauptsächliche Nutzen dieses Erklärungsmodells?

Es hilft vor allem, Prozesszusammenhänge zu beleuchten und die Parzellierung zu überwinden, die bei der Analyse des rechten politischen Spektrums vorherrscht. Und damit trägt es letztlich dazu bei, die politischen Interessen zu durchkreuzen, denen das dichotomische Gesellschaftsbild unter dem Titel „Wir die intakte Gesellschaft, die anderen die Mörderbande“ in die Karten spielt.

Wir sind der Auffassung, dass die Modellierung als Eskalationskontinuum ein hilfreicher Schritt ist, um angemessen die Bedrohungsallianzen aufzuzeigen – und vor allem ihre Bedrohungsrelevanz. Allianzen sind für uns ja keine formalisierten Vereinbarungen, sondern Übergänge und Verbindungen durch Legitimationsbrücken. Der Prototyp dieser Allianzen lässt sich am Beispiel der Ereignisse in Chemnitz analysieren. Dort waren zum ersten Mal alle Gruppen und Milieus, die in diesem Eskalationskontinuum eingezeichnet sind, auf der Straße, anlässlich eines emotional ausbeutbaren Signalereignisses, des zu Tode gekommenen Deutsch-Kubaners. Selbst Mitglieder der klandestinen Gruppen „Revolution Chemnitz“ waren präsent und sogar Stephan Ernst, also der mutmaßliche oder tatsächliche Mörder von Walter Lübcke, war anwesend, bis hin zu sogenannten „ganz normalen“ Bürgerinnen und Bürgern. Insofern waren tatsächlich alle da.

Dieses Verschwimmen von Grenzen ist ein wesentliches Charakteristikum, um nachzuvollziehen, wie das Eskalationskontinuum funktioniert. Man findet eine solche Auflösung von Differenzen selbstverständlich auch in anderen Bereichen. Allerdings hatte ich nie geglaubt, dass dieses Eskalationskontinuum mit dem Verschwimmen der Grenzen zwischen den Milieus derart schnell die Systemebene erreicht. Für diesen Vorgang liefert Thüringen das geradezu prototypische Beispiel, indem sich dort das absurde Machtinteresse von Politikern bürgerlicher Parteien wie der CDU und FDP im Zusammenspiel mit der AfD manifestierte.

Sie haben mehrfach betont, dass es wichtig sei, eine prozessuale Perspektive auf rechte Bedrohungsallianzen einzunehmen. Aus welchen Gründen?

Die Prozessperspektive ist für unsere soziologische Rechtsextremismusforschung außerordentlich bedeutsam und genau genommen haben wir auch schon immer unter diesem Gesichtspunkt gearbeitet. Dabei geht es – das ist uns insbesondere wichtig – um die wechselseitigen Beeinflussungen derjenigen Akteure, die in ihren jeweiligen Feldern beheimatet sind. Dieser Austausch lässt sich an einem Dreieck von Interaktionsprozessen verdeutlichen: Erstens beeinflusst regierende Politik durch ihre Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen die Integrations- und Desintegrationsqualität der Gesellschaft. Zweitens kann das über Kontrollverluste unter bestimmten Umständen Reaktionen in der Bevölkerung hervorrufen, die ihrerseits Konsequenzen nach sich ziehen – etwa im Hinblick auf die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Drittens haben diese Vorgänge quasi ermunternde Auswirkungen sowohl auf die Akteure des autoritären Nationalradikalismus als auch auf die Rechtsextremen. Es handelt sich also in der Tat um Prozesse, in denen sich Akteursgruppen wechselseitig beeinflussen, also Rückkoppelungseffekte ausgelöst werden, die eskalierend wirken können. Und deshalb analysieren wir nicht separat Ideologien oder singuläre terroristische Anschläge, so wichtig und lehrreich derartige Einzelstudien zweifelsohne sind. Die von uns herausgearbeiteten Prozesszusammenhänge sind nicht zuletzt von Belang, um das Bedrohungspotenzial angemessen einzuschätzen. Schließlich gehen wir, was nicht minder wichtig ist, der Frage nach: Wo können Interdependenzunterbrechungen in diesen wechselseitigen Beeinflussungsprozessen mit welchen Mitteln eigentlich ansetzen?

Im Grunde steuern zwei Paradigmen den Umgang mit dem rechten Spektrum. Einmal ist es das Kontrollparadigma des Staates, zum anderen das Ursachenparadigma, das wir in der soziologischen Perspektive bearbeiten. Leider ist festzustellen, dass der Staat in erster Linie auf das Kontrollparadigma setzt, was insofern verständlich ist, als man doch über Gesetze, Gesetzgebung und die Strafverfolgungsbehörden verfügt. Nur ist der politische Werkzeugkasten dann auch schnell ausgeschöpft. Hätte das Kontrollparadigma über Verbote von Gruppen tatsächlich gegriffen, dann dürfte es heute diese Probleme mit rechtsextremer Gewalt nicht mehr geben. Seit den 1990er-Jahren sind -zig Gruppen verboten worden, offenkundig ohne Erfolg. Meine These ist ja, dass staatliche Repression immer auch rechtsextreme Innovation erzeugt. Man erfindet sich in diesem Spektrum ständig neu wie zahlreiche Beispiele belegen und verdeutlichen.

Klar ist das Kontrollparadigma notwendig, was an Wirkungen ablesbar ist wie etwa unlängst an der neuen Ausrichtung des Verfassungsschutzes. Gleichzeitig ist dessen Reichweite jedoch begrenzt, eben durch die rechtsextreme Innovationsfähigkeit, zumal im klandestinen Bereich rechtsterroristischer Planungs- und Unterstützungsmilieus, aber auch bei den Tätergruppen oder den sogenannten Einzeltätern. Die genießen nach wie vor einen Zeit- und folglich einen Verdunklungsvorsprung, der dafür sorgt, dass das Kontrollparadigma natürlich verspätet greift, immer erst am Ende des Prozesses. Demgegenüber setzt das Ursachenparadigma, also eine soziologische Prozessanalyse, am Beginn, das heißt bei den Anfängen, an. So nimmt es längere Zeiträume und Entwicklungsverläufe in den Blick. Und wenn man diese Perspektive hat, erweist sich der allgegenwärtige Spruch „Wehret den Anfängen“ als völlig überholt. „Wehret der Normalisierung“ müsste es heißen, das wäre deutlich zeitgemäßer.

Was haben Sie vor Augen, wenn Sie sagen, dass die Entwicklung aktueller rechter Bedrohungen weiter zurückreicht?

Die Bedrohungen reichen weiter zurück, haben allerdings neue Dimensionen dadurch erreicht, dass sich das rechte Spektrum ausdifferenziert und dynamisiert hat. Bereits vor zwanzig Jahren habe ich beobachtet, dass da etwas im Gange ist und schon 2001 dafür argumentiert, es als Zusammenspiel aufzufassen, bei dem ein ebenso autoritärer wie neoliberaler Kapitalismus einerseits riesige Kontrollgewinne verbucht bei gleichzeitig massiven Kontrollverlusten nationalstaatlicher Politik. Die damit ausgelösten sozialen Desintegrationsprozesse führen zu dem, was ich „Demokratieentleerung“ genannt habe, nämlich zu einer Situation, in der einerseits der Apparat funktioniert, andererseits allerdings Vertrauen erodiert. Dementsprechend lautete meine Prognose, der Gewinner dieses Prozesses werde ein rabiater Rechtspopulismus sein. Damals habe ich den Begriff „Rechtspopulismus“ noch verwendet, weil ich unter dem Eindruck der französischen Entwicklung stand.

Diese These hat sich ja nicht als ganz unzutreffend erwiesen. Und sie bildete den Ausgangspunkt für das Buch Autoritäre Versuchungen von 2018. Es ging auch in dem Buch um das grundsätzliche Zusammenwirken dieser ökonomischen, sozialen und politischen Prozesse. Damit ist eigentlich auch schon das Grundmuster des Ursachenparadigmas aus soziologischer Sicht benannt. Wer es vor Augen hat, wird meine Auffassung verstehen, dass eine Politikwissenschaft, die ihren Blick auf das politische System zentriert, die Entwicklungen im rechten Lager nicht angemessen erklären kann.

Auch heute muss man konstatieren, dass diese Ursachenzusammenhänge, dieses Geflecht von ineinander verwobenen Prozessen, in der politischen Landschaft nicht ernsthaft angetastet wird. Immer noch und wieder setzt man auf den vermeintlich altbewährten Werkzeugkasten, das heißt auf Kontrolle, Gesetze, Appelle und Geld. Die strukturellen Probleme, die sich aus der Konstellation von Ursachen ergeben, die ich angedeutet habe, werden damit nicht angetastet.

Insofern bin ich sehr pessimistisch, was die weitere Entwicklung angeht. Es reicht ja auf einen Begriff zu verweisen, der in den letzten Jahrzehnten eine atemberaubende Karriere hingelegt hat. Ich meine den Begriff „sozialer Zusammenhalt“. Niemand wird uns sagen können, wie ein sozialer Zusammenhalt funktionieren soll und zu gewährleisten ist, solange die Grundmuster sozialer Desintegration nicht richtig verstanden werden.

Sie haben jetzt einerseits an die Verbote rechter Vereinigungen erinnert, wie sie wiederholt ausgesprochen wurden, andererseits aber auch eine gewisse Zurückhaltung im Umgang mit rechter Gewalt erwähnt. In einem aktuellen Kommentar hat Teresa Koloma Beck zu bedenken gegeben, dass der Ausdruck „rechte Gewalt“ die Dinge zwar beim Namen nennt, was nach ihrem Urteil angesichts der „anhaltenden Zögerlichkeit von Politik und Behörden, Übergriffe beispielsweise auf Menschen mit Migrationsgeschichte in den Horizont rechtsextremer Weltvorstellungen einzuordnen“, zu begrüßen sei. Andererseits, so Koloma Beck, laufe die analytische Orientierung an politischen Unterscheidungen Gefahr, sich in die Dynamiken der Tagespolitik zu verstricken – was das gesellschaftskritische Potenzial sozialwissenschaftlicher Studien zur Gewalt potenziell unterminiere.[2] Sollten SozialwissenschaftlerInnen also Abstand nehmen vom Begriff „rechter Gewalt“?

Teresa Koloma Beck stellt das Ganze ja in den Kontext der neueren Gewaltsoziologie. Da wird einer älteren Gewaltforschung oder Gewaltsoziologie ein neuerer Forschungsansatz gegenübergestellt, der Versäumnisse der alten Gewaltforschung aufdecken und Neues entdecken soll. Diese Debatte wurde 1997 bekanntlich von Trutz von Trotha und Birgitta Nedelmann angestoßen, die in der Gewaltsoziologie zwischen „Innovateuren“ und „Mainstreamern“ unterschieden haben. Von einem neuen Paradigma war die Rede, davon, dass eine paradigmatische Wende anstünde, die herbeigeführt werde durch die neuere Gewaltsoziologie. Die einen, so das Programm, setzen auf dichte Beschreibung, das ist die wahre Gewaltsoziologie, während die anderen lediglich Ursachenforschung betreiben.

Solche weitreichenden Ansprüche machen mich stets etwas hellhörig. Und mich überrascht, dass selbst nach 25 Jahren das paradigmatische Neue immer noch und wieder neu vorgestellt werden muss. Was ich vermisse, bringt eine einfache Frage auf den Punkt: Wo sind denn die neuen, tatsächlich bahnbrechenden, paradigmatischen Beispiele, über die ich gerne lesen würde? Habe ich etwas verpasst? Weil ich die Gegenüberstellung von dichter Beschreibung versus Ursachenforschung für falsch halte, bin ich hier skeptisch.

Und das Problem, das Teresa Koloma Beck aufgeworfen hat, was sagen Sie dazu? Kann man in den Sozialwissenschaften von rechter Gewalt sprechen, ohne sich Tagespolitik einzuhandeln?

Ich weiß nicht, wovon sie spricht. Jedenfalls nicht bezogen auf unsere Analysen. Denn wir versuchen ja gerade, über die Prozess-Zusammenhänge, über die Aufdeckung möglicher Verstrickungen, politische Interessen zu durchkreuzen, denen an der Parzellierung sozialwissenschaftlicher Analysen gelegen sein dürfte. Unsere Forschung vermeidet derartige Verkürzungen und versucht, sie zu überwinden. Von daher kann ich mit der Kritik oder mit Koloma Becks Problematisierung dieses Begriffsgebrauchs nichts anfangen.

Was man bestimmt sagen kann und ich selbst habe es in unserem Gespräch ja bereits betont, ist, dass Studien, die sich auf einzelne Phänomene konzentrieren, in der Gefahr stehen, gewissermaßen politisch ausgebeutet zu werden, auch wenn sie häufig wichtig und aufschlussreich sind. Solche Arbeiten werden bemüht, etwa um nach einem dieser gewaltexzessiven Ereignisse wieder eine „Zeitenwende“ ausrufen zu können, etwa nach Fällen wie Hanau oder Köln. Angeblich beginnt da etwas ganz Neues, was man aber doch nur behaupten kann, wenn die langfristigen Eskalationsprozesse ausgeblendet werden, wenn man sich weigert, das Kontinuum anzuerkennen, das die ganze Zeit über wirksam ist.

Und genau dagegen richtet sich unser Ansatz. Insofern tue ich Teresa Koloma Beck vielleicht Unrecht. Sie sagt ja auch, dass der Begriff „rechte Gewalt“ zunächst etwas Präzises erfasst und beschreibt. Und dieser Befund lässt sich nicht einfach vom Tisch wischen. Da kommt ein ganz anderes Begriffsformat zum Einsatz, als etwa der ständig verwendete Begriff „Rechtspopulismus“. Obwohl er so inhaltsleer ist, wird er von Politikerinnen und Medienvertretern gerne verwendet, leider aber auch von Wissenschaftlern, die wissen sollten, dass es keine Kriterien dafür gibt, ihn näher zu bestimmen.

In Ihrem Buch Rechte Bedrohungsallianzen wird scharf unterschieden zwischen rechtsterroristischen Gruppen- und Individualtätern, genauer gesagt: zwischen „gruppenorganisierten terroristischen Vernichtungstaten“ und „individualzentrierten Vernichtungstaten“? Unter welchen Umständen macht es aus Ihrer Sicht Sinn, trotz der laut gewordenen Einwände gegen diesen Begriff, auch weiterhin von „Einzeltätern“ zu sprechen?

Grundsätzlich muss man doch sagen, im Grunde sei jeder, der terroristische Vernichtungstaten begeht, ein Einzeltäter, denn der Einzelne muss den Abzug der Waffe abdrücken oder die Bombe zünden. Das ist der eine Punkt. Selbstverständlich gibt es dann doch Unterschiede und da muss man auf das Grundmuster von Interaktionsstrukturen achten. Hier hilft der Ansatz, positive und negative Bezugsgruppen in den Blick zu nehmen, wie Stefan Malthaner und Peter Waldmann dargelegt haben. Aus unserer Sicht existieren nur zwei Typen. Der eine Typus bezieht sich auf Handlungsgemeinschaften, der andere Typus auf Gesinnungsgemeinschaften. Das ist ein fundamentaler Unterschied, weil sich die jeweiligen Interaktionsstrukturen völlig unterscheiden.

Sie selbst haben jüngst in einem Beitrag argumentiert, dass der sogenannte Einzeltäter von Halle nicht allein gehandelt habe.[3] Die These stimmt. Doch ist auch wahr, dass er nicht in Handlungsgemeinschaften eingebunden war, die häufig face-to-face operieren und sich damit zum Teil erhebliche Probleme einhandeln, weil sich die für ihre Taten angestrebte Anonymität und Klandestinität nicht gewährleisten lässt. Wie löchrig und durchlässig sie sind, dafür liefern aufgeflogene Gruppen wie „Revolution Chemnitz“ oder „Gruppe S.“ eindrückliche Beispiele, wohingegen der NSU vorgeführt hat, dass es auch anders geht. Unentdeckt geblieben zu sein, hatte in diesem Fall allerdings auch damit zu tun, dass Polizei wie Verfassungsschutz damals in eine andere Richtung zu verdachtsstark waren, gegenüber bestimmten sozialen Milieus, und ermittlungsschwach, was die tatsächlichen Interaktionsstrukturen anbelangt.

Der andere Tätertypus, der gesinnungsgemeinschaftlich agiert, ist, zieht man das Beispiel Halle oder auch dasjenige der Tat in Hanau heran, offenkundig sozial desintegriert, jedoch ideologisch integriert. Insofern haben wir mit unterschiedlichen Typen zu tun, das heißt mit Differenzen, die weniger die jeweilige ideologische Aufheizung betreffen als vielmehr die beobachtbaren Interaktionsprozesse. Natürlich spielt Ideologisches eine gewichtige Rolle, in den zurückliegenden Jahren noch verstärkt durch Verschwörungstheorien. Die hat es selbstverständlich auch schon in früheren Zeiten gegeben, zumal die antisemitischen Varianten, doch konnten sie nicht so offensichtlich zu Tage getreten. Sie sind aufgrund der neuen Kommunikationsmittel erst richtig zur Blüte gekommen.

Welchen Beitrag leistet aus Ihrer Sicht die Unterscheidung zwischen „gruppenorganisierten terroristischen Vernichtungstaten“ und „individualzentrierte Vernichtungstaten“, um eine Tat wie die in Halle, also den Anschlag auf die Synagoge, zu analysieren?

Uns hilft, wenn wir ein Handlungsmuster als Suchheuristik zugrunde legen. So lassen sich unterschiedliche Elemente identifizieren, gerade dort, wo kein linearer Zusammenhang zwischen Einstellungen und Taten erkennbar ist. Die Suchheuristik ermöglicht uns, nachzuvollziehen, wie sich die theoretisch umrissenen Interaktionsmuster auf der Ebene eines individuellen Handlungsverlaufs realisieren. Im Lichte des zugrundegelegten Musters lassen sich unterschiedliche Tatverläufe spiegeln, sodass entweder Veränderungen im Handlungsmuster erkennbar werden oder auch Übereinstimmungen. Erst dann ist eine Systematisierung möglich. Geht man allein von dichten Beschreibungen unterschiedlicher Einzelfälle aus, stellt sich mir die Frage, wo die Systematisierung bleibt. So belässt man es am Ende doch nur bei dichten Beschreibungen. Für ein Verständnis der Taten etwa in Halle oder Hanau ist diese Art der Beschreibung bestimmt nicht unwichtig und sicherlich auch illustrativ. Aber man kommt eben nicht zu einer Systematisierung, das heißt zu generalisierenden Hypothesen.

Aber das ist der springende Punkt, denn andernfalls lassen sich unterschiedliche Vorgehensweisen von Tätern gar nicht identifizieren und vergleichen. Erst auf der Grundlage von Vergleichen wird erkennbar, dass es sich beim NSU als Handlungsgemeinschaft um einen bekenntnislosen Terrorismus handelt. Da wurden Signale in die Welt gesetzt, gleichzeitig wollten die Täter aber keine Spuren hinterlassen. Während der andere Typus innerhalb der Gesinnungsgemeinschaft geradezu bekenntnis-schreiende Aktivitäten an den Tag legt – Stichwort: Jetztzeit-Übertragungen ins Netz. Hier zeigt sich die besondere Relevanz der positiven gesinnungsgemeinschaftlichen Bezugsgruppe. Die ist vor dem Hintergrund eines bestimmten Sozialisationskontextes und angesichts einer durch Phänomene sozialer Desintegration geprägten Lebenslage eine ganz wichtige Anerkennungsquelle.

Soweit man über die Vorgänge von Halle bis jetzt überhaupt valide Informationen haben kann, war der Täter nach meiner Kenntnis zwar sozial desintegriert, allerdings ideologisch integriert. Also hat er aus diesen Gesinnungsgemeinschaften nicht nur Anerkennung bezogen, sondern auch Rollenmodelle, die Vorbildcharakter hatten. Man denke nur an berühmt-berüchtigte Leute wie Breivik oder Tarrant und wie sie alle heißen. Sie gehören ohne Zweifel in die Gesinnungsgemeinschaften. Und die haben keine kommunikativen Interaktionen, nicht mal im virtuellen Raum.

Insofern meine ich, dass sich durchaus etwas erkennen lässt, sieht man sich aus soziologischer Perspektive die unterschiedlichen Interaktionsmuster genauer an. Dass unser Modell eines Handlungsmusters veränderungsoffen ist, muss ich in diesem Zusammenhang wohl nicht betonen. Selbstverständlich sind angesichts der jeweiligen Empirie unter Umständen Veränderungen vorzunehmen und Revisionen zu bedenken. So funktioniert empirische Sozialwissenschaft eben. Aber man braucht ein Modell, eine Folie, um Tatverläufe überhaupt systematisieren zu können.

Mit dem Stichwort „Systematisierung“ sprechen Sie einen zentralen Aspekt Ihres wissenschaftlich-analytischen Vorgehens an. Doch ist mir während unseres Gespräches ein weiterer Aspekt aufgefallen, dass Sie nämlich Metaphern verwenden, also von „Legitimationsbrücken“ sprechen, von einer „Zwiebel“ etwa oder auch einer „Membran“. Welchen Stellenwert haben Metaphern in Ihrer analytischen Arbeit?

Das ist eine Frage, die ich mir noch nie gestellt habe, muss ich gestehen. Mit solchen Ausdrücken will ich in möglichst klarer Weise, ohne verquaste Theoriebegriffe, deutlich machen, um welche Sachverhalte es mir geht und wie man sie sich auch bildlich vorstellen kann. In meinem Kopf entwickeln sich durch die Forschungsarbeit eben gewisse Ordnungsmuster, die zumindest für mich hilfreich sind, weil ich beispielsweise klarer erkennen kann, wie Legitimationsbrücken den autoritären Nationalradikalismus mit Einstellungen in systemfeindlichen Milieus verbinden. Juristisch lässt sich den Akteuren des autoritären Nationalradikalismus nicht nachweisen, dass sie Gewalt gezielt befürworten. Doch ist die Gewalthaltigkeit von Ideologien ausschlaggebend; sie ist das Durchlässige und Verbindende über die unterschiedlichen Milieus hinweg. Also habe ich danach gesucht, wie ich dieses Phänomen beschreiben und sprachlich fassen kann. Und schließlich war ich bei dem Bild und dem Begriff der „Gewaltmembran“.

Sowohl in einer Vorbemerkung als auch in einem Postskriptum des Buches findet sich der Hinweis, die vorgelegte Studie sei vor und während der bis heute andauernden Corona-Pandemie fertiggestellt worden. Warum haben Sie diese Information derart prominent platziert?

Ja, die Corona-Pandemie müssen wir unbedingt in die Analyse einbeziehen, weil Krisen für Entwicklungen im rechten Spektrum höchst relevant sind. Seit 2000 waren im Grunde gleich mehrere Krisen zu bewältigen, weshalb ich von „entsicherten Jahrzehnten“ spreche. Krisen haben für mich zwei Charakteristika. Erstens setzen sie eingespielte Routinen zur Bewältigung ökonomischer, sozialer und politischer Aufgaben oder Probleme außer Kraft. Und das zweite Kennzeichen besteht darin, dass die Zustände vor der Krise nicht wieder herstellbar sind. Im Fall 9/11, als der islamistische Terror auf die Tagesordnung trat, wird die Unumkehrnarkeit der Verhältnisse besonders deutlich: Von diesem Tag an war der Islam für viele das Feindbild an sich.

Im Jahr 2005 wird dann Hartz IV eingeführt, in der Konsequenz eine nächste soziale Krise, die bestimmte Teile der Bevölkerung betraf. Nach nur kurzem Intervall kommt es 2008/2009 zur Banken- und Finanzkrise, die als eine ökonomische Krise wieder andere Beteiligte unter Druck geraten ließ. Und schließlich muss mit Blick auf das Jahr 2015 und die Flüchtlingsbewegung, die begrifflich zur Flüchtlingskrise geformt wurde, von einer sozial-kulturellen Krise die Rede sein. Der Glücksfall, in Anführungsstrichen, bestand darin, dass diese Krisen zeitlich gestaffelt und in verschiedenen Sektoren der Gesellschaft aufgetreten sind. Sie konnten zwar nicht völlig aufgefangen, zumindest aber eingehegt werden.

Die Corona-Pandemie konfrontiert uns jetzt mit einer neuen Qualität, die unbedingt benannt werden muss: Eine ganze Gesellschaft findet sich in bestimmten Funktionsbereichen, die alle Gesellschaftsmitglieder betreffen, lahmgelegt oder wird möglicherweise auch weiterhin lahmgelegt werden. Die unmittelbare Folge sind eklatante Kontrollverluste. Und mit Kontrollverlusten, das sagen ja auch Historiker wie Philipp Ther, wächst das Autoritäre. Ich teile diesen Befund. Doch ist es nötig, genauer hinzusehen und zu ermitteln, wie diese Kontrollverluste funktionieren. Kontrollverluste, so belegen US-amerikanische Studien, begünstigen Verschwörungsideologien. Diejenigen, die unter dem Eindruck stehen oder die Erfahrung gemacht haben, die Kontrolle über ihr Leben eingebüßt zu haben, favorisieren Verschwörungstheorien. Gerade der Antisemitismus, wie ihn das rechte Spektrum vertritt, stellt in diesem Kontext ein bedeutendes Element dar, sowohl in historischer Hinsicht als auch ganz aktuell.

Kontrollverlusterfahrungen durchlaufen wieder das ganze Eskalationskontinuum. Also ist darauf zu achten, wie sich solche Wahrnehmungen und kollektiven Ängste im konzentrischen Eskalationskontinuum nicht nur abbilden, sondern auch politisieren. Im Augenblick wissen wir – daraus haben wir in Rechte Bedrohungsallianzen auch kein Hehl gemacht – einfach nicht, was geschehen kann. Gerade deshalb tun wir aber gut daran, diese Dinge ernst zu nehmen. Vorsicht ist geboten, weil wir ja auch nicht wissen, wie sich etwa die öffentlichen Demonstrationen im Zuge weiterer Quasi-Lockdowns entwickeln – und welche Legitimationsbrücken für rechte Gewalt möglicherweise neu erfunden werden.

  1. Stefan Malthaner / Peter Waldmann (Hg.), Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen, Frankfurt am Main / New York 2012; Stefan Malthaner, Terroristische Bewegungen und ihre Bezugsgruppen. Anvisierte Sympathisanten und tatsächliche Unterstützer, in Peter Waldmann (Hg.), Determinanten des Terrorismus, Weilerswist 2005, S. 85–138.
  2. Teresa Koloma Beck, ‚Rechte Gewalt‘? Ein soziologischer Kommentar [4.11.2020], in: zeitgeschichte online, 12.8.2020.
  3. Stefan Malthaner / Thomas Hoebel, Sie sind nicht allein. Stand und Herausforderung der Einzeltäterforschung, in: Mittelweg 36 29 (3–4), S. 3–22.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Rassismus / Diskriminierung Gewalt

Thomas Hoebel

Thomas Hoebel, Soziologe, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er forscht zu organisierter Gewalt, schreibt an einer Methodologie prozessualen Erklärens und befasst sich mit dem Rätsel, wie gute wissenschaftliche Texte entstehen.

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Wilhelm Heitmeyer

Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer war Gründer und von 1996 bis zu seinem altersbedingten Ausscheiden 2013 der Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. (© Nele Heitmeyer)

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