Timo Luks | Literaturessay |

Gaben im Überfluss

Literaturessay zu "Politik der Gabe" von Frank Adloff, "Profit und Gabe in der digitalen Ökonomie" von Dave Elder-Vass und "Homo donans" von Stephanie Metzger

Inmitten zahlreicher Veröffentlichungen zur Kapitalismustheorie und Kapitalismuskritik hat sich in der jüngeren soziologischen Literatur eine neue Gattung entwickelt: das ethnologieaffine Plädoyer für ein anderes Verständnis von Ökonomie und ein Experimentieren mit anderen Formen des Wirtschaftens. Im Zentrum der hinsichtlich ihres Reflexionsniveaus und ihres Anspruchs recht heterogenen Schriften steht dabei das Konzept der „Gabe“, das Anfang des 20. Jahrhunderts von Franz Boas und Bronislaw Malinowski in die Ethnologie eingeführt und kurze Zeit darauf von Marcel Mauss in einen sozialtheoretischen Grundbegriff verwandelt wurde. Man käme allerdings nicht weit, wollte man aus der aktuellen Gabe-Literatur etwas über nicht-westliche wirtschaftliche Praktiken und deren indigene wie auch ethnologische Konzeptualisierungen lernen. Der Begriff der „Gabe“ hat sich seines ursprünglichen Bedeutungsgehalts längst entledigt, auch wenn die damit verbundenen Abstraktionsschritte von den neueren Autor_innen nicht immer mitreflektiert werden. Entsprechend bunt präsentiert sich der Strauß der neuesten Veröffentlichungen, dem die hier vorgestellten Titel entstammen.

Gemeinsam ist ihnen allen der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung, das Verlangen nach einer Transformation „weg vom neoliberalen, ungerechten und nicht-nachhaltigen Finanzkapitalismus, weg von abwertenden Stereotypisierungen und Abschottungen, hin zu anderen Formen des Zusammenlebens“ (Adloff, S. 10). Es geht ihnen darum, eine andere Lebensweise zu finden als jene, die „auf Kosten dieser Welt, auf Kosten anderer in dieser, dann doch immer wieder sehr fernen Welt“ geht (Metzger, S. 11). Zentral ist dabei die von den Autor_innen geteilte Einschätzung, Gabe-Praktiken würden unter den Bedingungen des gegenwärtigen Kapitalismus und angesichts der Hegemonie ökonomistischer Wahrnehmungsmuster systematisch marginalisiert, wenn nicht verdeckt. „Das Problem“, so etwa Frank Adloff, sei „nicht, dass es keine Gaben in unseren Gesellschaften geben würde, das Problem besteht darin, dass Gaben invisibilisiert und nicht anerkannt werden“ (Adloff, S. 20). Für Stephanie Metzger können mit dem Konzept der „Gabe“ „Momente und Gesten der Wirklichkeit, in denen Widerstand, Chancen und alternative Möglichkeiten aufscheinen“ (Metzger, S. 12), auf einen Nenner gebracht werden. Auch Dave Elder-Vass schreibt gegen die einseitige Deutung unseres Wirtschaftssystems als „kapitalistischen Monolithen“ an. Erkenne man, dass die reale Wirtschaft „weder hauptsächlich kapitalistisch noch hauptsächlich marktwirtschaftlich“ sei, dass man es also mit einer Vielfalt bestehender Wirtschaftssysteme zu tun habe, dann, so Elder-Vass, ließe sich ein verzerrtes und unvollständiges Verständnis von Ökonomie korrigieren, durch das „unsere Fähigkeit, kreativ über mögliche wirtschaftliche Szenarien der Zukunft nachzudenken“, massiv eingeschränkt werde (Elder-Vass, S. 13).

Das verbindende politisch-theoretische Motiv, das der gegenwärtigen Wiederentdeckung des Konzepts der „Gabe“ zugrunde liegt, besteht darin, jene bereits heute im Kapitalismus existierenden Praktiken zu identifizieren, die progressiv über die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hinausweisen. Das Gabe-Theorem ist deshalb so attraktiv, weil sich mit seiner Hilfe „konkrete Utopien“ formulieren lassen, die nicht einfach als ‚naiv‘ oder ‚unrealistisch‘ abgetan werden können. Es wäre reizvoll, derartige Positionen als Ausdruck einer konzeptionellen Reformulierung des Utopischen im 21. Jahrhundert zu diskutieren und nach ihren Wurzeln zu suchen, die vermutlich in den Alternativbewegungen der 1970er-Jahre mit ihrer Vorliebe für das Kleine und Überschaubare liegen dürften.

Frank Adloffs Politik der Gabeist das richtige Buch für all diejenigen, die an der „Gabe“ als einem Grundbegriff der Sozialtheorie interessiert sind. Konzise rekonstruiert Adloff verschiedene soziologische Theorien, die sich dem Verhältnis von Gabe und Tausch widmen, wobei er sich gleichermaßen kritisch gegen utilitaristische wie auch normative Ansätze wendet. Den Fluchtpunkt seiner Kritik bildet die These, dass eine Gegenüberstellung von Tausch und Gabe „es verunmöglicht, eine Vielzahl von Formen des Gebens adäquat zu verstehen. Denn die Gabe beruht zumeist weder auf bloßem Eigennutz, noch kann man sie darauf reduzieren, dass Menschen das tun, was Normen von ihnen verlangen. In Gaben steckt ein Überschuss an Spontaneität, Freiheit und Zugewandtheit, der nicht auf die eine oder andere Seite zurückgeführt werden kann“ (Adloff, S. 24 f.). Ausgehend von Marcel Mauss sowie unter Rekurs auf Überlegungen Jacques Derridas, Alain Caillés, Marcel Hénaffs oder David Graebers plädiert Adloff für ein interaktionistisches Verständnis der Gabe, das nicht länger von den verschiedenen Motiven der Akteure ausgeht, sondern von den gemeinsamen Beziehungen zwischen ihnen. Sozial- und gabentheoretisch informierten Leser_innen dürfte in den mitunter etwas sehr ausführlich geratenen Passagen vieles bekannt vorkommen, alle anderen werden von Adloff vollumfänglich informiert.

Im Zentrum des Buchs steht jedoch eine Provokation, nämlich das Postulat, dass der Mensch „eine zugleich natürlich und kulturell bedingte Tendenz […] zum Geben und Teilen“ besitze. Adloff behauptet, es gebe „einen unterhalb von expliziter Moral liegenden Bereich menschlicher Pro-Sozialität, der in der ‚Natur‘ menschlicher Interaktion selbst begründet liegt“ (Adloff, S. 75). Unter Bezug auf Erkenntnisse aus Emotionsforschung, Evolutionsbiologie, Kleinkindforschung und Neurowissenschaften versucht der Autor, seine These vom Primat der Gabe im menschlichen Handeln und der Existenz eines handlungsbasierten, vorsprachlichen und präsymbolischen Raums gemeinsamer Affekte, Bedeutungen und Intentionen zu stützen. Wer nun allerdings, wie Adloff, das Modell des Homo oeconomicus zurückweist und die zu dessen Verteidigung herangezogenen Argumente und Plausibilisierungsstrategien völlig überzeugend auseinandernimmt, der sollte nicht die gleiche argumentative Strategie anwenden, um seinerseits einen Homo donator zu postulieren. Genau das aber tut Adloff. Unter anderem mit Verweis auf einige um Popularisierung bemühte Veröffentlichungen zweier Primatenforscher behauptet er nichts anderes als eine „ursprüngliche menschliche Neigung zum Geben, die auch auf unserem phylo- und ontogenetischen Erbe gründet, auf Ultrasozialität und Kooperation gepolt zu sein“ (Adloff, S. 102).

Wer so argumentiert, läuft Gefahr, Fragen der Sozialtheorie und des (faktischen wie des wünschenswerten) sozialen Zusammenlebens zu einer Angelegenheit evolutionsbiologischer Empirie zu machen. Auch wenn das Ziel in der entgegengesetzten Richtung liegt, führt der Gang der Argumentation über den gleichen Weg, auf dem andere Theoretiker seit den 1980er- Jahren die natürliche Neigung der Menschen zum Tausch oder den Primat von Eigennutz und Nutzenmaximierung naturwissenschaftlich zu ‚beweisen‘ suchten.[1] Das ist, wohlgemerkt, kein Einwand gegen die daran gekoppelte Frage nach den Voraussetzungen von Sozialität. Auch wenn Adloffs Vorschläge zur Beantwortung dieser Frage meines Erachtens mehr Probleme aufwerfen als sie lösen, so ist es doch ein wichtiges Verdienst, die Frage selbst so nachdrücklich zu stellen und zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Auch die Intuition, die Voraussetzungen von Sozialität konzeptionell mit Hilfe des Gabe-Theorems erfassen zu können, ist durchaus überzeugend und vielversprechend. Evolutionsbiologischer Hilfsargumente bedarf es dafür aber nicht. Nimmt man zudem den sozial- und kulturanthropologischen Entstehungs- und Diskussionszusammenhang des Theorems und die damit verbundene relativistische Epistemologie ernst, dann wäre die Verwandlung der „Gabe“ in eine transhistorische Kategorie, wie sie die soziologische Rezeption seit Mauss dominiert, zumindest zu problematisieren – und zur Kenntnis zu nehmen, dass die reichhaltige ethnologische Diskussion, aus guten Gründen, keinen Homo donator kennt.

Ungeachtet der hier formulierten Kritikpunkte enthält Adloffs Politik der Gabe zahlreiche interessante Anregungen. Sozialtheoretisch aufschlussreich ist vor allem der in dieser Form bisher kaum unternommene Versuch, Marcel Mauss und John Dewey miteinander ins Gespräch zu bringen. In praktischer Hinsicht mag man zwar darüber streiten, ob Mauss‘ mit dem Gabe-Theorem verkoppelter Genossenschaftssozialismus tatsächlich (und im Unterschied zu anderen Entwürfen des 20. Jahrhunderts) eine „weiterhin tragfähige sozialistische Vision“ ist, die sich „relativ umstandslos in die Gegenwart extrapolieren“ (Adloff, S. 142 f.) lässt, doch in theoretischer Hinsicht spricht durchaus einiges dafür, dass Adloff mit dieser Einschätzung recht haben könnte.

Insgesamt zeichnet sich der Essay durch argumentative Großzügigkeit und eine Überfülle an Bezügen aus. Großzügigkeit und Überfülle gelten zwar als positive Charakteristika der Gabe, im vorliegenden Fall jedoch leidet die Kohärenz des Unterfangens darunter. Die präsentierten konzeptionellen Überlegungen, empirischen Beispiele, politischen Perspektiven usw. passen nicht immer zusammen, teilweise sind sie auch widersprüchlich. Die Profilierung der Gabe als symbolisches Kommunikationsmedium mag Aufschluss über bestimmte Schwächen des Habermas’schen Sprachverständnisses (vor allem hinsichtlich der Integrationswirkung von Sprache) bieten. Unklar bleibt aber, ob und wie das zu Friedrich Schillers Entwurf ästhetischer Erfahrung oder zu Joseph Beuys‘ Verschmelzung von Kunst und ‚Leben‘ passt. Ebenso unklar bleibt, was das wiederum mit Karl Polanyis De-Zentrierung der Marktgesellschaft und Philippe Descolas Kritik der westlich-naturalistischen Kosmologie zu tun hat. Adloffs Bezüge sind zu zahlreich, um sie hier auch nur zu nennen. Neben den exemplarisch genannten Ansätzen begegnen Leser_innen außerdem Ausführungen zur Theorie der Zivilgesellschaft, zum buddhistischen Konzept der ‚Weltanpassung‘ (das Max Weber der puritanischen ‚Weltbeherrschung‘ gegenübergestellt hatte), zu Anthropozän- und Gaia-Hypothesen, zu alternativer Ökonomie und Postwachstum usw. Die von Adloff konstatierten Zusammenhänge verdanken sich oft eher einem metaphorischen Gebrauch des Begriffs – oder eher: des Worts – der „Gabe“. Erst dadurch kann er alles, was irgendwie auf Kooperation, Konvivialität, Großzügigkeit, Anerkennung, Loyalität, Vertrauen, Nicht-Entfremdung usw. verweist, auf einen einzigen „Hintergrundmechanismus“ (Adloff, S. 130) zurückführen, der dann eben „Gabe“ heißt.

Dave Elder-Vass geht es im Kern – trotz des auch bei ihm präsenten politisch-utopischen Fluchtpunkts – um ein wirtschaftssoziologisches Anliegen. Ausgehend von der Beobachtung, dass sich verschiedene Geschäftsmodelle der digitalen Ökonomie mit den etablierten Kategorien der Neoklassik, des Marxismus, aber auch der Gabe-Ökonomie nicht (mehr) fassen lassen, begibt er sich auf die Suche nach neuen analytischen Werkzeugen, die er sodann an Fallstudien zu Apple, Wikipedia, Google und Youtube erprobt. Das Verwirrende an der neuen Digitalwirtschaft, so Elder-Vass, sei der Umstand, dass Profite erwirtschaftet werden, ohne dass dafür Waren verkauft oder menschliche Arbeit in einem nennenswerten Umfang einbezogen (ausgebeutet) werden müssen. Auf der Ebene der konkreten Praktiken sei die digitale Ökonomie „nicht nur in dem Sinn vielfältig, dass sie kapitalistische und nichtkapitalistische Wirtschaftsformen enthält, sondern auch insofern, als es viele verschiedene Ausprägungen kapitalistischer Wirtschaftsformen gibt“ (Elder-Vass, S. 13 f.). Um diese Vielfalt in den Blick zu bekommen und aufmerksam zu werden für Formen des Wirtschaftens, die weder den traditionellen Modellen noch den unterschiedlichen Formen einer Gabenökonomie entsprechen, müssten wir „unsere Wirtschaft als ein komplexes Ökosystem konkurrierender und interagierender Wirtschaftsformen mit je eigenen Stärken und Schwächen ansehen“ (Elder-Vass, S. 14).

In den ersten Kapiteln seiner Studie rekonstruiert Elder-Vass im Detail, was er die heterodoxe Tradition des ökonomischen Denkens nennt. Entscheidend ist dabei, erstens, die an Marcel Mauss anschließende, anthropologische und soziologische Gabe-Diskussion. Elder-Vass wendet sich gegen die in der Soziologie (und Ökonomie) lange verbreitete Tendenz, die Gabe als Überhang vormoderner, prä-marktwirtschaftlicher Zeiten zu marginalisieren, und in modernen Gesellschaften lediglich einige randständige Praktiken des Geschenkaustauschs (Geburtstage, Weihnachten usw.) in den Blick zu nehmen. Derartige Reduktionen würden den eminent ökonomischen Charakter verkennen, der der Gabe auch in heutigen Gesellschaften zukomme. Der kritische Impuls, der vom Gabe-Theorem gegenüber der ökonomischen Neoklassik ausgehen kann, besteht für Elder-Vass in der Bereitstellung des Modells einer Ökonomie, die von gegenseitigen moralischen Verpflichtungen und nicht von nutzenorientiertem Interessenkalkül getrieben wird. Zweitens schließt Elder-Vass an wirtschaftsanthropologische und wirtschaftssoziologische Arbeiten an, die sich nicht allein auf Markttransaktionen konzentrieren, sondern Ökonomie als Gesamtheit aller Praktiken profilieren, mittels derer eine Gesellschaft die Versorgung ihrer Mitglieder mit Gütern und Dienstleistungen und letztlich auch ihre eigene Reproduktion sicherzustellen trachtet. Die Theorietradition, die er hier rekonstruiert, geht vor allem auf Karl Polanyis Überlegungen zur Einbettung von Märkten, zu Redistribution und Reziprozität zurück.

Unter Rückgriff auf die Theoreme der „Gabe“ und der „Versorgung“ (provisioning) will Elder-Vass die Pluralität ökonomischer Praktiken und hybride Formen des Wirtschaftens sichtbar machen. Die Hauptkapitel der Studie sind dann exemplarischen Analysen zu Apple, Wikipedia, Google und Youtube gewidmet. Diese Fallstudien können durchaus je für sich stehen und bieten überzeugende und aufschlussreiche Einsichten in digitalwirtschaftliche Geschäftsmodelle. Die unterschiedlichen Fälle und deren jeweilige Interpretation – Apples digitaler Monopolkapitalismus, Wikipedias kooperative Peer-Produktion, Googles „Schenkkapitalismus“ oder Youtubes User-Content-Kapitalismus – müssen hier nicht im Detail wiedergegeben werden. Einige Punkte, wie etwa der Umstand, dass Wikipedia-Autor_innen und -Moderator_innen ihre Arbeit nur aufgrund einer Externalisierung der Sorge für den Lebensunterhalt gratis zur Verfügung stellen (können) oder dass eine Enzyklopädie Wissen nur deshalb verteilen kann, weil andere es produziert haben (und Arbeitszeit, anders als das beliebig oft konsumierbare digitalenzyklopädische Wissen, auch weiterhin ein knappes und keineswegs ein „nonrival good“ ist), hätten sicher mehr Berücksichtigung verdient, als Elder-Vass ihnen einräumt. Demgegenüber stehen auf der anderen Seite Hinweise auf interessante Aspekte, wie etwa die Beobachtung, dass innerhalb einer digitalen Wissensökonomie als einer Ökonomie des Überflusses unmittelbare (individuelle) Gegenseitigkeit keine Rolle spielt, die Annahme einer Gabe also nicht zu einer Gegengabe verpflichtet, deren Ausbleiben andernfalls moralisch sanktioniert würde. Jenseits derartiger Einzelaspekte ist aber entscheidend, dass in Profit und Gabe in der digitalen Ökonomie eine differenzierte Theoriediskussion und empirisch dichte Fallstudien produktiv aufeinander bezogen werden und so ein überzeugendes wirtschaftssoziologisches Forschungsprogramm präsentiert wird, das Anregungen über den konkreten Gegenstand hinaus bietet.

Stephanie Metzgers Homo donans ist der in bibliophiler Hinsicht schönste der hier besprochenen Bände, ein liebevoll gestalteter Essay, der erkennbar auf ein nichtakademisches Publikum zielt. In den konkreten Theoriebezügen finden sich ähnliche Argumente wie bei Frank Adloff und Dave Elder-Vass, weshalb sie hier nicht noch einmal näher ausgeführt werden müssen. Metzger will mittels zahlreicher Beispiele aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen zeigen, „dass die Gabe und ihr Begriff alles andere als altmodisch oder anachronistisch sind, sondern ein vielschichtiges Tun zwischen Menschen beschreiben, das ungewohnte Denkweisen und Praxen ermöglicht, Horizonte öffnet und sicher Geglaubtes in Frage stellt“ (Metzger, S. 13 f.). Auch Metzger wendet sich gegen die Idee eines allein rational und bloß zweckorientiert handelnden Homo oeconomicus. Diese Figur sei eine Fiktion, in der sich ein reduktionistisches Menschenbild spiegelt, das den Menschen „mehr erschafft als wirklich beschreibt.“ (Metzger, S. 19) Zwar gesteht die Autorin unumwunden zu, dass auch der Homo donans „mehr Stereotyp als realistische Beschreibung“ (Metzger, S. 22) sei, doch besteht in ihren Augen dennoch Hoffnung, dass es zwischen der „reinen Gabe“ – einer Idee, mit der etwa Jacques Derrida verschiedentlich gespielt hat – und reinen Marktbeziehungen noch etwas Drittes gebe. Die Gabe erscheint bei ihr so als eine hybride Form, als ein Mittelding zwischen Tausch und Geschenk, zwischen materieller Gabe und sozialem Bezug, zwischen Materialität und Symbol, zwischen Freiwilligkeit und Pflicht, zwischen Altruismus und Egoismus. „Der Gabentausch ist ein Geschehen, das nicht eindeutig festgelegt ist, sondern dynamisch, jenseits von Dogmatik oder Fixierung“ (Metzger, S. 30). Ausgehend von diesen Überlegungen begibt sich Metzger auf die Suche nach einem mehrdimensionalen Verständnis der Gabe, das an eine „heterogene und komplexe Gesellschaft wie unsere“ (Metzger, S. 32) anschlussfähig ist und die Auseinandersetzung mit der Thematik nicht auf die Dichotomie von Eigennutz versus Tugendhaftigkeit reduziert. Fündig wird sie unter anderem bei Alain Caillé (und dem Konvivialismus). Auch auf die Brücke zwischen einem Mauss’schen Genossenschaftssozialismus und heutigen commoners weist der Essay explizit hin. Letztere, so Metzger, „suchen das ‚Außen‘ auf, bauen kleine alternative Inseln gegen den kapitalistischen Strom, versuchen im Kleinen, aber sehr konkret mit den oben umrissenen marktwirtschaftlichen Prinzipien zu brechen und an das anzuknüpfen, was im Paradigma der Gabe und im Gabentausch bei Marcel Mauss enthalten ist: Ein Geben und Nehmen, das sehr wohl einen Markt für die Verteilung von Wirtschaftsgütern erzeugt, aber bei dem in einer Mischung aus Freiwilligkeit und Verantwortung, Lust und Zwang etwas auch ohne die Sicherheit abgetreten wird, dass man es zurückbekommt.“ (Metzger, S. 64)

Stephanie Metzgers Essay ist ein kleines Glanzstück der Theoriepopularisierung. Es gelingt der Autorin, eine verschachtelte Geschichte und nicht immer leicht zu fassende Argumente plastisch vor Augen zu führen, ohne dass es dabei zu allzu großen Verkürzungen kommt. Regelmäßig führt die Autorin ihre Leser_innen mit Hilfe kleiner Miniaturen oder Fundstücke in einen bestimmten Themenstrang ein – etwa anhand der Interpretation einer künstlerischen Performance, dem Nachdenken über eine Brosche, die von einer längst vergangenen Liebe kündet, oder mittels der Beschreibung des Wegs einer nicht mehr getragenen Bluse in einem Tauschring. Mit seinen multiplen Ein- und Ausgängen dürfte das Buch gerade jenen Leser_innen ein grundlegendes Verständnis der Gabe vermitteln, die sich nicht beruflich mit soziologischer und ethnologischer Theorie beschäftigen.

Will man die hier besprochenen Veröffentlichungen zeitdiagnostisch einordnen, dann kommt man nicht umhin, eine eigentümliche Verschiebung zu konstatieren: Die Gesellschaften, die ursprünglich mittels des Theorems der Gabe ethnologisch zu konzeptualisieren versucht wurden, waren nämlich – wenn überhaupt – nur in einem sehr begrenzten Sinn Gesellschaften des Überflusses. Die entsprechenden wirtschaftlichen und sozialen Praktiken dienten somit nicht zuletzt der Akkumulation und (Re-)Distribution (zu) knapper Güter – auch wenn die Charakterisierung ‚primitiver‘ Gesellschaften als Gesellschaften des Mangels nicht von allen Ethnolog_innen geteilt wurde, man denke nur an Marshall Sahlins These der . Die gegenwärtige Wiederentdeckung und Neuinterpretation des Konzepts der „Gabe“ bezieht dieses jedoch explizit auf Überflussgesellschaften, auf Gesellschaften also, denen es längst geglückt ist, „das Produktionsproblem zu lösen“ (John Kenneth Galbraith). Diese Hintergrundannahme erklärt die merkwürdige Blindheit gegenüber der Frage der Produktion (die man gar nicht zwingend als industrielle Produktion fassen muss) und das Interesse an nicht-produktivistischen Kosmologien, etwa in den klugen Arbeiten von Philippe Descola oder Eduardo Viveiros de Castro. Verstärkt durch den einen oder anderen wachstumskritischen Reflex wird die schöne neue Welt der Gabe zu einer Welt, in der nicht mehr produziert wird, sondern in der es nur noch darum geht, vorhandene Bestände zu verschieben, zu verwalten und zu verteilen. Damit läuft die aktuelle Diskussion freilich Gefahr, ungewollt jene verkürzte Vorstellung von Ökonomie zu reproduzieren, die Joan Robinson in den 1970er- Jahren den Vertreter_innen der Neoklassik bescheinigte: Sie reduziert Wirtschaft auf die Ökonomie eines Kriegsgefangenenlagers, dessen Insassen nichts produzieren, sondern lediglich den Inhalt abgeworfener Rotkreuzpakete untereinander tauschen.

Wenn man die hier besprochenen Veröffentlichungen dagegen theoretisch-methodisch bewertet, dann fällt der Begriffsgebrauch auf, genauer: das Problem der fortschreitenden Entleerung des Gabe-Begriffs. Inzwischen, so scheint es, kann nahezu alles – ein Lächeln, Worte, Kunstwerke usw. – eine Gabe sein. Jede Praxis, die auch nur entfernt mit Teilen, Schenken oder (asymmetrischem) Tauschen zu tun hat, wird mittlerweile als eine Gabe-Beziehung interpretiert. Spätestens dann aber, wenn im Zusammenhang eines Plädoyers für ein anderes Mensch-Natur-Verhältnis die „Gaben von Bakterien, Bäumen, Pilzen, Nutztieren usw.“ (Adloff, S. 223) in den Blick genommen werden, verliert das Konzept jede Trennschärfe. Zukünftig, so scheint es, werden wir öfter darüber sprechen müssen, worum es denn eigentlich geht, wenn von „Gaben“ die Rede ist. Gibt es „die Gabe“ als etwas Allgemeines überhaupt oder ist sie ein ‚konkret Allgemeines‘? Haben wir es mit einer Sammelbezeichnung für unterschiedliche Verhaltensweisen zu tun oder handelt es sich um einen Beschreibungsmodus, der es – analog zum Modell des Homo oeconomicus – ermöglichen soll, menschliches Tun so zu beschreiben, als ob es durch bestimmte Motive beziehungsweise Strukturen geprägt sei? Stephanie Metzgers Hoffnung, dass sich in aktuellen Beispielen für ein anderes Wirtschaften und Zusammenleben etwas identifizieren lässt, „das immer schon da, aber versteckt war – etwas, das aus dem Untergrund auftaucht und das man jetzt besser sehen kann“, führt sie nicht von ungefähr zu der Vermutung, dass dieses Etwas „einen Namen will: ‚Gabe‘ vielleicht?“ (S. 11 f.)

  1. Die gesamte Debatte um die Plausibilität der Annahmen und Erkenntnisse von Evolutionspsychologie beziehungsweise evolutionary ecology kreist um dieses Problem. Vgl. dazu etwa Susan McKinnon, Neo-Liberal Genetics. Myths and Moral Tales of Evolutionary Psychology, Chicago, IL 2005.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Wirtschaft Kapitalismus / Postkapitalismus Digitalisierung

Timo Luks

Dr. Timo Luks ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Neuere Geschichte des Historischen Instituts der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Theorie und Geschichte des Kapitalismus sowie die Geschichte der Anthopologie und der Ethnologie.

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