Jan Sparsam | Essay | 11.01.2016
Welche Fragen kann eine Wirtschaftssoziologie des Werts beantworten?
Eine kleine kritische Konfrontation
Seit den 1970er-Jahren fordert die Wirtschaftssoziologie bekanntlich die Wirtschaftswissenschaft auf deren eigenem Terrain heraus. Die Bandbreite der Auseinandersetzungen mit der und Interventionen gegen die Nachbardisziplin reicht von Vorschlägen, wie die beiden Disziplinen Synergien erzeugen könnten, über die Ablehnung der rigiden Modelle der Wirtschaftswissenschaft bis hin zur Rekonstruktion der schöpferischen Wirkung der Ökonomik. In unzähligen Studien konnten Soziologinnen zeigen, dass wirtschaftswissenschaftliches Wissen entweder unvollständig oder schlicht falsch ist oder die Realität mit hervorbringt, die es bloß zu beschreiben vorgibt. Welche Ausrichtung unter diesen dreien auch vertreten wird, jede betont den sozialen Charakter ökonomischer Verhältnisse gegenüber der neoklassischen Ökonomik.
Eines der vielen Themen, die die neuere Wirtschaftssoziologie aktuell beschäftigen, ist die Analyse ökonomischer Werte. Jens Beckert zufolge liegt dieser Schritt schon allein wegen der terminologischen Übereinstimmung des Begriffs „Wert“ in der Wirtschaftswissenschaft mit dem der Soziologie auf der Hand.[1] Kultursoziologische Pionierarbeit in diesem Feld hat Viviana Zelizer bereits in den 1970er-Jahren mit ihren Studien zur Auspreisung des Lebens durch Versicherungen geleistet; sie hat aber auch Arbeiten zur sozialen Bedeutung verschiedener ‚Gelder‘ wie dem Haushaltsgeld für nicht berufstätige Frauen, das schließlich ein patriarchales Machtverhältnis repräsentiere, vorgelegt.[2]
Mark Granovetter, ein Mitentwickler der netzwerkanalytischen Wirtschaftssoziologie, stellt Überlegungen zum Einfluss nicht-ökonomischer Motive auf die Preisentwicklung an. Ihm zufolge schlagen sich die persönlichen Beziehungen von Marktakteuren direkt auf die Preise der getauschten Waren nieder, nicht nur das Angebot und die Nachfrage.[3] David Stark wiederum fordert gar ein, die disziplinär geschaffene Dichotomie von (sozialen) Werten und (ökonomischem) Wert ganz abzuschaffen, um eine „sociology of worth“ begründen zu können. Er beruft sich dabei auf die französische Ökonomie der Konventionen, die auf interdisziplinäre Debatten und Forschungen rund um Luc Boltanski und Laurent Thévenot zurückgeht.[4] Michel Callon schließlich, Erfinder der Theorie der Performativität wirtschaftswissenschaftlichen Wissens, schreibt der Ökonomik zu, das ‚Wirtschaftlich-Machen‘ („economization“) inklusive des ‚Bewertbar-Machens‘ von Dingen (beziehungsweise ihre Verwandlung in Waren) und der Techniken der Bewertung („valuation“) durch ihre Modelle letzten Endes selbst hervorzubringen.[5]
Es hat nach diesem ersten kursorischen Überblick den Anschein, als ermögliche die wirtschaftssoziologische Wertdebatte eine Vielzahl an Verknüpfungen sowohl zwischen ihren unterschiedlichen theoretischen Grundausrichtungen als auch mit anderen Gebieten der Soziologie. Ich möchte aber anhand dreier programmatischer Beiträge einige Fragen aufwerfen, die, so mein Eindruck, auf ein ungelöstes grundsätzliches Problem der Wirtschaftssoziologie des Werts hindeuten: Die Erklärung der generalisierten Kommensurabilität von Waren in modernen Ökonomien.
I.
Marion Fourcade hat sich mit der monetären Bewertung von Naturkatastrophen am Beispiel des 1989 havarierten Öltankers Exxon Valdez beschäftigt. Ihr geht es dabei um die sozio-ökonomischen Grundlagen, die es ermöglichen, den ökonomischen Wert, den „Nutzen“, in einen „monetären Wert“, einen Preis, zu überführen. In ihrem Beispiel untersucht sie, wie Ökonominnen auf der Grundlage einer Bevölkerungsbefragung, die sie wirtschaftswissenschaftlich interpretierten, den durch die Ölkatastrophe zerstörten Nutzen der Natur preislich bemessen konnten. Sie stellt fest, dass Geldgebrauch dazu führt, dass der eigentliche ökonomische Wert einer Ware gewaltsam auf einen Preis reduziert wird. Dadurch werde allerdings unkenntlich, dass Preisbildung ein sozialer Prozess ist. Fourcade folgert daraus, die Wirtschaftssoziologie müsse sich stärker den technologischen Aspekten ökonomischer Bewertungsprozesse widmen, und setzt dieses Programm mit Bezug auf die Performativitätstheorie selbst um.[6] Ihre gesellschaftstheoretischen Überlegungen füllen dabei eine Lücke, die die performativitätstheoretische Herangehensweise häufig offenlässt: die institutionelle Legitimation monetärer Bewertungsstrategien. Fourcade interessiert sich dafür, welchen Zweck die Bewertung für spezifische Akteure wie etwa Staaten hat und wie diese Akteure sie mithilfe rechtlicher, ökonomischer und wissenschaftlicher Technologien durchsetzen.
Sind aber die Fragen nach dem „Warum“ und dem „Wie“ monetärer Bewertung damit schon umfassend genug gestellt? Was Fourcade selbst nicht mehr problematisiert, ist ein Desiderat, das die neoklassische Wirtschaftswissenschaft bis heute nicht beheben konnte: Wie ist die Kommensurabilität beziehungsweise die Dimensionsgleichheit qualitativ ungleicher Gegenstände überhaupt erklärbar? Wie wird aus Fourcades „ökonomischem“ Wert, dem subjektiven Nutzen, ein objektiver Wert, der „monetär“ im Preis vorliegt, unabhängig von den subjektiven Nutzeneinschätzungen der ökonomischen Akteure? Wie ist es überhaupt möglich, dass unvergleichbare Größen (Apfel, Öl, Arbeitskraft, Umweltzerstörung) auf der Grundlage eines gemeinsamen Maßstabes zu ‚vergleichbaren‘ Größen, zu Waren werden, die Teile eines ökonomischen Gesamtsystems von Käufen und Verkäufen sind? Die Wirtschaftswissenschaft setzt diese ökonomische Einheit der Waren in der Preisform immer schon voraus, entwickelt ihre Modelle aber nur auf der Grundlage relativer Preise. Im Gegensatz zu Fourcades Überlegungen spielt Geld in der Ökonomik lediglich als Maßstab der Preise eine Rolle. Eine Erklärung, auf welche Weise die ‚Verwandlung‘ relativer Preise, des Nutzenvergleichs zwischen den Gütern, in absolute Preise, nämlich die für Waren tatsächlich gezahlten Geldmengen, vor sich gehen könnte, liefern beide nicht.[7]
Rahmt man das Kommensurabilitätsproblem ausschließlich performativitätstheoretisch, bleibt es ein rein technisches: Die Wirtschaftswissenschaft wird dann als Technologie verstanden, welche die Kommensurabilität mithilfe der Anwendung ihrer Modelle in die Welt setzt – das wäre eine wissenschaftlich induzierte ‚Wertschöpfung aus dem Nichts‘.[8] Dass Akteure ein Interesse an der Auspreisung bestimmter Dinge haben und über die institutionelle Macht verfügen, ihr Interesse auch durchzusetzen, erklärt noch nicht, warum Geld prinzipiell auch dazu dienen kann, nicht-ökonomische Bereiche zu ökonomisieren. Kurz: Will man monetäre Bewertungsstrategien anwenden, müssen wirtschaftliche Beziehungen immer schon als geldvermittelte Relationen vorhanden sein.
II.
Milan Zafirovski kritisiert in einem Beitrag zu den sozialen Aspekten der Preisbildung scharf die ontologischen Setzungen der neoklassischen Ökonomik. Die Entstehung von Preisen sollte seiner Ansicht nach auf soziale Prozesse zurückgeführt werden, nicht nur auf das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Dies sei nur möglich, wenn man das Konzept des absoluten, unabhängig von sozialen Beziehungen existierenden Werts der neoklassischen Ökonomik fallenlasse. Zafirovski spezifiziert im Gegensatz zu Fourcade, welche anderen ‚Werte‘ außer dem Nutzen noch in die Preisbildung eingehen können: politische Haltungen, sozialer Status, Religion, Moral, Bräuche und vieles mehr.[9] Vor dem Hintergrund des Kommensurabilitätsproblems ist seine Kritik an der Vorstellung, ökonomische Werte seien eine individuelle Angelegenheit und hätten mit Gesellschaft nichts zu tun, sicher richtig. Gleichwohl lässt sich bezweifeln, ob er mit der Nivellierung des Unterschieds zwischen relativem und absolutem Wert nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet. Schließlich hat auch Zafirovski es in der Empirie moderner Ökonomien mit absoluten Preisen zu tun; dies zu ignorieren hieße, das Geld genauso zu vernachlässigen, wie die Ökonomik es tut. Die Annahme, dass sich nicht nur Nutzen, sondern auch soziale, kulturelle und moralische Werte in homogene Größen ‚transformieren‘ lassen, schiebt die Lösung des Kommensurabilitätsproblems lediglich auf.
III.
Wendy Espeland und Mitchell Stevens betrachten in ihrer Abhandlung über Kommensuration u.a. die Reduktion von Warenwerten auf „abstrakte Arbeit“ im Sinne von Karl Marx. Marx hat bekanntlich im ersten Band des Kapitals die „Verausgabung derselben menschlichen Arbeitskraft“ unabhängig von der jeweiligen konkreten Tätigkeit wie Tischlern oder ein Flugzeug herstellen als gemeinsame Qualität kapitalistisch produzierter Waren identifiziert.[10] Was bei Marx mit diesem Begriff als zentraler Mechanismus ökonomischer Kommensurabilität in der „kapitalistischen Produktionsweise“ entfaltet wird, greifen Espeland und Stevens als ein Beispiel unter vielen auf, um das ahistorische Problem der Unsicherheitsreduktion zu illustrieren. Ihrer Ansicht nach dient die Schaffung von Kommensurabilität generell dazu, allgemein geltende Maßstäbe für Entscheidungen zu finden. Auch bei ihnen bleibt ungeklärt, wie der ökonomische Wert, trotz der sozialen Relativität aller Werte,[11] als einziger eine einheitliche, absolute Form annehmen kann. Versteht man, wie die Autorinnen es nahelegen, Unsicherheitsreduktion durch die Herstellung von Kommensurabilität als Universalie in allen sozialen Bereichen, geht die Spezifik des modernen Kapitalismus vollends verloren: die globale Durchsetzung der absoluten Form ökonomischen Reichtums. Dass dieser beständig vermehrt wird, findet leider in keinem der drei Texte von Fourcade, Zafirovski und Espeland / Stevens Erwähnung.
Fazit
Wie die drei Beispiele zeigen, setzt die Wirtschaftssoziologie des Werts in ihren Überlegungen zwei soziale Tatsachen stets voraus: einerseits die Wirtschaft als gesellschaftliches Einheitsphänomen auf der Grundlage universalisierbarer monetärer Verhältnisse, andererseits die dazu passende Subjektivität der ökonomischen Akteure als Geldbesitzer. Keiner der drei Ansätze versucht sich an einer Theorie, die die Genese dieser Tatbestände erklären könnte.[12] Den ökonomischen Wert in seinen Inkarnationen als Ware, Kapital oder Zins bloß objektivistisch als Bestandteil des kapitalistischen Systems oder als ungeplante Nebenfolge sozialökonomischen Handelns zu akzeptieren, wird bei der Entwicklung einer solchen Theorie nicht ausreichen. Eine der zentralen Fragestellungen der Wirtschaftssoziologie könnte und müsste deshalb lauten, wie die ökonomische Einheit durch die vielfältigen Interessen ökonomischer Akteure, die intersubjektiven und umkämpften Werte in den Gesellschaften sowie durch Wissenschaft und Technik hindurch immer wieder hergestellt werden kann, ohne dass es sich dabei um einen beabsichtigten Effekt handelt.
Fußnoten
- Jens Beckert, Was unsere Güter wertvoll macht, in: Handelsblatt, 19.11.2010, S. 8.
- Zuerst erschien ihr Buch Morals and Markets. The Development of Life Insurance in the United States, New York 1979. Ihre Artikel zu diesen Themen sind versammelt in Viviana A. Zelizer, Economic Lives. How Culture Shapes the Economy, Princeton / Oxford 2011.
- Mark S. Granovetter, The Impact of Social Structure on Economic Outcomes, in: Journal of Economic Perspectives 19 (2005), S. 33–50.
- David Stark, For a Sociology of Worth, in: Center on Organizational Innovation Working Papers, 2000, hier S. 5; sowie The Sense of Dissonance. Accounts of Worth in Economic Life, Princeton, NJ, 2009.
- Koray Çalışkan / Michel Callon, Economization, part 2: A research programme for the study of markets, in: Economy and Society 39 (2010), S. 1–32. Die Frage nach solchen Bewertungstechnologien hat sogar die Gründung der Fachzeitschrift Valuation Studies motiviert, siehe valuationstudies.liu.se.
- Marion Fourcade, Price and Prejudice: On Economics and the Enchantment (and Disenchantment) of Nature, in: Jens Beckert / Patrik Aspers (Hrsg.), The Worth of Goods. Valuation and Pricing in the Economy, Oxford 2011, S. 41–62, hier S. 41–46.
- Hans-Peter Büttner, Reichtum und Nutzen in der neoklassischen Wirtschaftslehre. Eine Kritik der Grundlagen der subjektiven Werttheorie, in: Ingo Elbe / Sven Ellmers (Hrsg.), Eigentum, Gesellschaftsvertrag, Staat. Begründungskonstellationen der Moderne, Münster 2009, S. 201–239.
- Siehe zur Kritik an Callons Verständnis dieses Prozesses auch Jan Sparsam, Die zwei Soziologien des Marktes. Konstitutionstheoretische Defizite der neueren Wirtschaftssoziologie, in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 2 (2015), S. 255–284. Diese Kritik spricht natürlich nicht dagegen, überhaupt nach performativen Aspekten der Wirtschaftswissenschaft zu suchen.
- Milan Z. Zafirovski, An Alternative Sociological Perspective on Economic Value: Price Formation as a Social Process, in: International Journal of Politics, Culture and Society 14 (2000), S. 265–295.
- Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Berlin 1984, hier S. 52–53.
- Wendy Nelson Espeland / Mitchell L. Stevens, Commensuration as a Social Process, in: Annual Review of Sociology 24 (1998), S. 313–343, hier S. 324.
- Siehe für einen solchen Versuch z.B. Christoph Deutschmann, Die Verheißung des absoluten Reichtums. Zur religiösen Natur des Kapitalismus, Frankfurt / New York 2001.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Aaron Sahr.
Kategorien: Wirtschaft
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