Michael Huber | Essay |

Schriftlichkeit in der Wissenschaft zwischen Universität und Staat

Akademische Textproduktion aus organisationssoziologischer Perspektive

Einleitung

Wissenschaftliches Schreiben[1] wird in der Wissenschaftsforschung meist im Hinblick auf die Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Zeitschriften und Verlage sowie die durch sie beschleunigte wissenschaftliche Kommunikation besprochen. Schreiben wird dabei als eine individuelle Fertigkeit vorausgesetzt, deren Aneignung außerhalb der Wissenschaft erfolgt. In geisteswissenschaftlichen Untersuchungen wird bei der Beschäftigung mit dem Schreibprozess der Schwerpunkt auf die kreative Leistung des belletristischen, in wenigen Fällen auch des wissenschaftlichen Autors gelegt. Die Forschung beschäftigt sich folglich mit dem Schreibstil, genreabhängigen Differenzen und individuellen Schreibstrategien (Übersicht: Günther/Ludwig 1996); wissenschaftliches Schreiben als eigenes Genre wird insbesondere im Hinblick auf disziplinäre Schreibstile analysiert (vgl. Kennedy/Kennedy 2008). Die neuere soziologische Forschung konzentriert sich sowohl auf die Frage, „wie der individuelle Schriftgebrauch in Kulturen der Wissensproduktion eingebettet ist bzw. wie intellektuelle Technologien sozial vermittelt werden“ (Engert/Krey 2013), als auch auf das Erlernen des wissenschaftlichen Schreibens in der akademischen Lehre, das den Studierenden eine neue Reflexionsebene erschließen soll (Pelton 2013; siehe auch Abschnitt 4).

Wir wissen also, wie in der Wissenschaft und ihren Disziplinen geschrieben wird, und die Frage, warum in der Wissenschaft geschrieben wird, beantworten wir meist mit Hinweisen auf die individuelle Motivationslage und die Maxime aller wissenschaftlichen Karrieren: Publish or Perish. Betrachtet man den Schreibprozess jedoch nicht aus der Perspektive individueller Laufbahnen, sondern aus der Sicht der Organisation Universität, zeigt sich schnell, dass der Zweck des wissenschaftlichen Schreibens nicht allein in der innerwissenschaftlichen Kommunikation liegt. Um diese Problemstellung eingehender zu analysieren, lohnt es sich, einen Schritt zurückzutreten und sich allgemeiner mit dem Zusammenhang von Schriftlichkeit und Organisation zu beschäftigen, der in drei Abschnitten genauer dargestellt werden soll. Der zweite Teil dieses Aufsatzes diskutiert zunächst, wie Lehrerfordernisse das Schreiben an Universitäten prägen, stellt also die Frage nach der didaktischen Seite des Schreibens und verbindet sie mit der Einheit von Lehre und Forschung. Im dritten Teil wird illustriert, wie schwierig es ist, die Wissenschaftlichkeit von Texten formal abzusichern, und welche Folgen dies für Schreiben hat. Darauf aufbauend wird im vierten Teil erörtert, wie die Organisation das Schreiben dazu nutzt, Rechnungslegungspflichten gegenüber dem Staat zu erfüllen, und welche Folgen dies für das wissenschaftliche Schreiben hat. Der Beitrag entwickelt die These, dass die organisatorischen Besonderheiten der Universität sich nicht nur als treibende Momente für das wissenschaftliche Schreiben erweisen, sondern sich auch in die Art der Textproduktion einschreiben. Schreiben als didaktisches Mittel hängt folglich ebenso mit der organisatorischen Besonderheit der Einheit von Lehre und Forschung zusammen wie die Folgen externer, staatlicher Kontrollen mit der Staatsabhängigkeit. Die organisatorische Besonderheit der losen Kopplung wird an einigen Stellen als Grund für die disziplinären Variationen eingeführt, kann allerdings aus Platzgründen nur abschließend kurz diskutiert werden.

Wissenschaftliches Schreiben als didaktisches Mittel

Schreiben und Organisationen waren immer schon eng miteinander verbunden. Die Soziologie belegt diesen Zusammenhang insbesondere für die moderne Bürokratie (vgl. Weber 1972, 541–579). Weber zeigt, wie Akten das bürokratische Verfahren zusammenfassen und, indem sie jeden Verwaltungsschritt dokumentieren, helfen, die Amtsführung unabhängig von Personen zu gestalten. Brückner und Wolff (im Erscheinen) verallgemeinern Webers Befund in einem Beitrag zu den „Listen der Organisation“ und zeigen, dass Schreiben von und in Organisationen bis ins vierte Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurückverfolgt werden kann. Sie folgern daraus, dass das Schreiben gleichzeitig mit der Organisation entsteht (ebd.).[2] Listen, so argumentieren sie weiter, repräsentieren organisatorisches Schreiben auch in der bürokratischen Akte, denn sie „programmieren die Entstehung von Akten und steuern eine Akte konsekutiv vom ersten Akt, dem Anlegen, bis zu ihrer Ablage“ (Vismann nach Brückner/Wolff [im Erscheinen], 1). Zudem erlauben Listen die Ordnung von Ereignissen nach vorab gesetzten Zielen (ebd., 2). Die Listenform ist ubiquitär, also wiederholt und an beliebiger Stelle anwendbar, und sie wirkt nicht nur nach innen, sondern dokumentiert die Leistungen einer Organisation auch nach außen und ordnet sie im Hinblick auf Reihenfolge beziehungsweise Rang.

Mit der Listenform werden Schreiben und Organisation miteinander verkoppelt, es ist aber noch kein hinreichender Grund angegeben, warum an Universitäten wissenschaftliche Texte verfasst werden. Wir können aber annehmen, dass Schreiben in Organisationen nicht nur abstrakte Mitteilungsbedürfnisse befriedigt, sondern auch organisationsinternen Zwecken und Zielen dient. Wenn Listen nach innen und nach außen dokumentieren, was Organisationen tun (und was sie unterlassen), dann ist wissenschaftliches Schreiben ein Objekt, an das die Listen kommunikativ anschließen können. Zwar könnte man argumentieren, der Umstand, dass die Universität der institutionalisierte Ort der Wissenschaft ist, begründe ausreichend, warum an Universitäten wissenschaftlich geschrieben wird, doch würde man dann übersehen, dass auch andere als wissenschaftsinterne Gründe wissenschaftliches Schreiben befördern können. Ein organisatorisches Motiv für das Schreiben besteht beispielsweise im didaktisch-sozialisatorischen Kontext der Lehre, der zwar die individuelle Fähigkeit des Schreibens voraussetzt, die Aufmerksamkeit aber auf eine organisatorische Besonderheit der Universität lenkt, nämlich auf die Humboldt’sche Einheit von Forschung und Lehre (eine Übersicht bietet Huber 2012 a). Eine wichtige Folge dieser Einheit für das Schreiben besteht darin, dass es nicht mehr nur für die wissenschaftliche Kommunikation verwendet wird, sondern zum integralen Bestandteil akademischer Ausbildung aufsteigt. Für das wissenschaftliche Schreiben an Universitäten wird damit das Neue, nach dem ja die Forschung strebt, auch in der Lehre strukturbildend und es kann bei jedem einzelnen Studierenden durch Schreiben kontrolliert werden. Statt, wie die vormoderne Universität, nur tradiertes Wissen zu vermitteln, setzt die moderne Universität in der Lehre auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse der Studierenden. So entstehen spezifische Erwartungen an das Schreiben, die Ehlich (2003, 13) als zwei Lerntypen beschreibt, einen repetitiven und einen erforschenden. Da die beiden Ehlich'schen Lernformen ob besagter Einheit von Forschung und Lehre nicht getrennt existieren, sondern nur unterschiedlich gewichtet werden können, gewinnt wissenschaftliches Schreiben eine zentrale Funktion, weil alle Absolventen, ob sie nun ihr Leben der Wissenschaft widmen wollen oder nicht, nachweislich die wissenschaftliche Kommunikation erlernen müssen. Dass jeder Akademiker zum Wissenschaftler ausgebildet werden soll, begründet beispielsweise Oevermann mit einem wissenschaftlichen Professionalisierungsprozess:

„Zum anderen geht ihnen – wenn auch im Vergleich zu den späteren Forschern abgekürzt – die Professionalisierung als forschender Wissenschaftler qua Einführung in die Wissenschaft als Beruf voraus, so dass jeder auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse explizit beruflich Handelnde, auch derjenige, der später diese Erkenntnisse nicht interventionspraktisch, sondern ingenieurial anwendet, durch diesen Prozess der Professionalisierung zur Wissenschaft als Beruf in der Einheit von Forschung und Lehre hindurchgegangen sein muss. Die Erziehung zur Wissenschaft wird damit im Paradigma der Einheit von Forschung und Lehre und der Polarität von Einsamkeit und Freiheit gelehrten Forschens zu einer eigenlogischen, autonomen Veranstaltung mit eigenen Gesetzen, zur Schaffung eines dem inneren Beruf zur Wissenschaft korrespondierenden äußeren Berufs in Gestalt von Studiengang und akademischer, inneruniversitärer Karriere. Der Übergang vom Studium zum forschenden Lehren wird als innerer in gewisser Weise fließend, nur als äußerer durch Riten des Übergangs markiert. Am Ende dieses Ganges in der Ausbildung zum äußeren Beruf steht der Status des Professors, dem in der Gemeinschaft mit seinen Kollegen die Aufrechterhaltung der Einheit von Forschung und Lehre und der Autonomie der Grundlagenforschung obliegt“. (Oevermann 2005, 40f).

War wissenschaftliches Schreiben aus der Sicht der Wissenschaft eine individuelle Fertigkeit, wird sie durch die Humboldt'sche Universität in eine Aufgabe akademischer Ausbildung verwandelt, die auch von der amerikanischen Forschungsuniversität oder der ‚unternehmerischen Universität’ des 21. Jahrhunderts übernommen wird. Nachdem zunächst den Studierenden die Verantwortung für den Erwerb von Schreibfähigkeit oblag, muss nun die Universität als Organisation wissenschaftliches Schreiben zur Erziehungsaufgabe machen.

Der Ursprung dieses Problems ist in der Seminarpädagogik, genauer im Seminarium Philologicum, zu verorten, dessen Teilnehmer im ausgehenden 18. Jahrhundert wissenschaftliches Arbeiten und Denken erstmals vermittels wissenschaftlichen Schreibens erlernten, womit die Einheit von Lehre und Forschung operational umgesetzt werden sollte. Oder, um präziser zu sein, sie sollten es sich ganz wie beim kantschen Selbstdenken selbst beibringen, denn „das Seminar soll [...] die Selbsttätigkeit der Studierenden fördern. Sie sollten selbst Originalquellen studieren und sich ihr Wissen selbst erarbeiten“ (Kruse 2006 a, 173). Diese Entwicklung begann in Deutschland an den Universitäten Göttingen und Halle, an denen das Forschungsseminar im Bereich der „Unteren Fakultät“ für das Philologiestudium entwickelt wurde. Seither ist es – jedenfalls in allen textbasierten Wissenschaften – zu einer wichtigen Form akademischer Wissensvermittlung geworden, in der schriftlichen Beiträgen der Studierenden – anfangs gemeinsam mit dem Lehrenden verfasst – eine zentrale Funktion für den akademischen Lernprozess zugeschrieben wird. Nur so, meinte man, könne man die Studierenden in die Wissenschaft sozialisieren (vgl. Kruse 2006 a). Wissenschaftliches Schreiben wurde damit zum zentralen Paradigma und zur wertvollsten Methode akademischer Ausbildung.

Mit dem Schreiben im Forschungsseminar sollten die Studierenden, so formulierte es das Reglement des philologischen Seminars zu Berlin im Jahr 1812, „durch mögliche vielfache Übungen, die in das Innere der Wissenschaft führen, […] so ausgebildet werden, dass durch sie künftig diese Studien erhalten, fortgepflanzt und erweitert werden“ (zitiert in Kruse 2006 b, 214). Schreiben gilt bis heute als unabdingbare Technik, um sich in die Wissenschaft einzuüben. Zum Beispiel hebt Kaufman (2013) die enorme Bedeutung des Schreibens für den studentischen Lernprozess hervor, wenn er die Essenz akademischer Ausbildung vom cartesianischen „cogito, ergo sum“ in ein „scribo, ergo cogito“ umdeutet. Bean meint auch, “[that] writing is closely linked with thinking and that in presenting students with significant problems to write about [...] we can promote their general cognitive and intellectual growth“ (Bean 2011, xvi). Durch das Schreiben, so wird immer wieder hervorgehoben, lässt sich die intellektuelle Entwicklung anregen und steuern, weshalb es für die wissenschaftliche Bildung eine so zentrale Rolle spielt.

Im Seminar wird Schreiben mit bestimmten Lernimpulsen („significant problems to write about“) für die Studierenden verbunden, es erfordert auf Universitätsebene aber eine allgemeine ‚Schreibstrategie‘: Die Hochschule muss erstens Standards erstellen, die die Leistungsnachweise unabhängig von Prüfern überprüf-, zuschreib- und vergleichbar machen. Zweitens muss sie nach der innerwissenschaftlichen Reputationslogik auch Differenzen herstellen, die die Vergleichsmetrik bedienen, die dem innerwissenschaftlichen Wettbewerb zugrunde liegt. Die erstgenannten Standards beziehen sich auf die Genres, die lehrbezogene kleinere Texte zu den großen Formen der wissenschaftlichen Kommunikation, dem Buch und dem Artikel, ins Verhältnis setzen. Mit der Zeit entstanden neue Textgattungen wie die Rezension, der Abstract oder der Forschungsbericht. Auch Zitier- und Verweiskonventionen sowie der Umfang einzelner Textsorten werden festgelegt.

Die standardisierten Texte, die für die universitäre Lehre produziert werden, sind angelehnt an die wissenschaftliche Tradition. Ihre Eigenständigkeit wird deutlich daran, dass sie nur unter der Bedingung der Gleichheit miteinander konkurrieren können.[3] Standards legen natürlich auch fest, welche Formen nachrangig behandelt oder gar ausgeschlossen bleiben (beispielsweise das Essay; vgl. Bude 1989). Zudem wird eine akademische Textform auch immer daran gebunden sein, einen diskursiven Zusammenhang auszuweisen und gewisse Anforderungen an sprachliche Formen zu erfüllen, die etwa die immer wieder beklagten Passivkonstruktionen mit sich bringen, die für wissenschaftliche Texte charakteristisch sind. Auch das Plagiatsproblem kann als Zuschreibungsproblem verstanden werden, da der Originaltext bevorzugt wird – der wissenschaftliche Text, der eindeutig mit einem Autor (und Prüfling) verbunden werden kann, muss alle möglichen Bezüge ausweisen, um gerade seinen eigenen Beitrag zur Forschung zu markieren.

Neben diesen formalen Bezügen ist auch auszuweisen, was Wissenschaft ist und was als Popularisierung, politische Einlassung oder bloße Meinungsäußerung qualifiziert werden muss. In der Lehre muss die Wissenschaftlichkeit der Texte nachweisbar sein, denn das wissenschaftliche Schreiben der Nachwuchswissenschaftler kann ja nicht auf wissenschaftlicher Erfahrung beruhen, sondern muss erst eingeübt werden. In der Lehre lautet also die Hauptanforderung an den Text, dass er einige, wenn auch „unvollendete Resultate des eigenen Forschens und Untersuchens“ enthalten solle, und „nicht schnell zusammengeraffte, dem Verfasser längst bekannte Notizen oder übereilte Kompilationen aus den nothdürftigsten literarischen Hilfsmitteln“ – soweit das Reglement des historischen Seminars der Universität Königsberg von 1832 (zitiert nach Kruse 2006 b, 214). Texte müssen nicht nur wissenschaftlichen Standards entsprechen, sondern auch wissenschaftlich sein. Wie dies operationalisiert werden kann, skizziert der nächste Abschnitt.

Zur Wissenschaftlichkeit des Schreibens

Das wissenschaftliche Schreiben wird als Königsweg zur Wissenschaft ausgezeichnet: Es soll einen Lernprozess anleiten, der schlussendlich Wissenschaft hervorbringt. Das wirft das Problem auf, wie Wissenschaft in den Texten repräsentiert und insbesondere wie Wissenschaftlichkeit für Kontrollzwecke so operationalisiert werden kann, dass sie von ‚Nichtwissenschaftlichkeit’, beispielsweise Meinungsäußerungen, Glauben oder Popularisierungen, eindeutig unterschieden werden kann. Um verbindlich festzulegen, was als Wissenschaft gelten kann, muss man neben den oben genannten formalen Erfordernissen an wissenschaftliche Texte also auch das, was Merton als wissenschaftliches Ethos beschrieb, operationalisieren. Ich möchte in zwei Schritten vorführen, wie dieses Problem praktisch gefasst wird: Zunächst werde ich kurz die grundlegenden Überlegungen Mertons (1973) zum wissenschaftlichen Ethos resümieren und dann anhand aktueller Texte demonstrieren, wie diese Erwartungen in praktischen Anleitungen zum wissenschaftlichen Schreiben übersetzt und praktisch anwendbar gemacht werden.

Merton hebt vier Dimensionen des wissenschaftlichen Ethos hervor, dessen Umsetzung Wissenschaftlichkeit erst hervorbringe. Als erste Dimension nennt er den Universalismus, der als eine Vorschrift gelesen werden kann, derzufolge Wahrheitsansprüche, die in Texten behauptet werden, unabhängig von ihrem Ursprung, an vorgängig gebildeten, unpersönlichen Kriterien zu messen sind. Mit der zweiten Dimension, Kommunismus, soll gewährleistet werden, dass das intellektuelle Eigentum sich auf Anerkennung beschränkt und privatwirtschaftliches Eigentum von Wissen in der Wissenschaft ausgeschlossen ist. Uneigennützigkeit verweist als dritte Dimension auf "ein grundlegend institutionelles Element, das seine Grundlage im öffentlichen und überprüfbaren Charakter der Wissenschaft hat" (Weingart 2003, 17). Wissenschaftler sollen keine unerlaubten Mittel zum eigenen Vorteil verwenden. Die Erwartung eines organisierten Skeptizismus setzt, viertens, voreiligen Schlussfolgerungen die Notwendigkeit unvoreingenommener Prüfung aufgrund empirischer und logischer Kriterien entgegen (zusammenfassend: Weingart 2003, 16 ff).

Diese Dimensionen des wissenschaftlichen Ethos sind trotz einer langen und intensiven Diskussion kaum verbindlich in praktisch anwend- und messbare Kriterien zu übersetzen. Ihre Einhaltung verspricht zwar sicherzustellen, dass die dem Ethos entsprechenden Texte wissenschaftlich sind. Verfahren allerdings, mit denen die Einhaltung disziplinübergreifend für alle wissenschaftlichen Textformen sicherzustellen ist, lassen sich kaum entwickeln; es öffnet sich ein weites Feld für Interpretationen. Das bedeutet, dass zahlreiche Versuche unternommen werden können (und müssen), um die abstrakten Dimensionen des wissenschaftlichen Ethos in für wissenschaftliche Anfänger handhabbare Anweisungen umzuwandeln. An solchen Handbüchern lassen sich nicht nur die widersprüchlichen Erwartungen an wissenschaftliche Texte ablesen, sondern auch die Strategien, mit denen angesichts der Einheit von Lehre und Forschung solche Festlegungen durchgesetzt werden.

Praktische Interpretationshilfen verdeutlichen beispielsweise, wie Studierende zum erfolgreichen Studium und insbesondere zum Schreiben guter Abschlussarbeiten angeleitet werden. Im Band Erfolgreiche Abschlussarbeiten für Dummies (Weber 2010) werden Begriffe wie Objektivität, Relevanz und Überprüfbarkeit eingeführt, um die, soweit die Autorin, für ihre Leser überraschende Frage „Was will die Wissenschaft?“ beantworten zu helfen. Darauf gebe es nämlich nicht nur eine, sondern zahlreiche Antworten. Um eine angemessene Antwort zu entwickeln, werden die genannten Begriffe als Erwartungen an die Wissenschaftlichkeit einer Abschlussarbeit definiert und ins Praktische übersetzt (Weber 2010, 39): Objektivität steht für die Aufforderung, sich an Fakten zu halten, „statt im Plauderton zu berichten, was Ihnen alles widerfahren ist“ (ebd.). Relevanz verweist auf Nützlichkeit, wobei aber nicht näher bestimmt wird, wem eine Arbeit von Nutzen sein muss, sondern betont, dass die Ergebnisse nicht trivial sein sollten. Überprüfbarkeit wird bei Weber auf die Vollständigkeit von Literaturangaben reduziert, meint aber auch die Reproduzierbarkeit von Ergebnissen.

Dieses Beispiel zeigt, wie das wissenschaftliche Ethos in handhabbare und für Anfänger nachvollziehbare Handlungsvorschriften übersetzt werden kann, gibt selbstverständlich aber nicht die einzig mögliche Argumentationsrichtung wieder. In der soziologischen Fachliteratur finden sich etwa Hinweise darauf, dass sich Wissenschaftlichkeit durch Reflexivität auszeichne und dass die Studierenden sie durch wissenschaftliches Schreiben erlangen sollten. Gouldner (1970, 490) beispielsweise schreibt: “[A] Reflexive Sociology means that we sociologists must – at the very least – acquire the ingrained habit of viewing our own beliefs as we now view those held by others“. Kaufman (2013) meint, dass diese Anweisung auf das Vermeiden methodischer Fallen zugespitzt werden kann und somit das erforderlich macht, was England (1994, 82) als „self-critical introspection and the self conscious analytical scrutiny of the self as researcher“ beschreibt. Um eine solche reflexive Selbsteinsicht zu ermöglichen, entwirft Kaufman praktische Schreibübungen, mit deren Hilfe angehende Wissenschaftler ihre eigenen Vorurteile und ihre soziale Position reflektieren können. In mehreren Lernschritten wird versucht, diese Reflexionsfähigkeit zu stabilisieren und damit analytische Tiefe zu gewinnen. So wird es als reflexiver Beitrag ausgezeichnet, wenn Studierende ihre schriftlichen Arbeiten wie folgt kommentieren: „After I passed my paper there were so many other things that I wanted to write. I feel like I sounded very ignorant and privileged in my statement” (Kaufman 2013, 75; Hervorhebung M.H.). Jene Studierenden, die die erwartete Reflexionsfähigkeit nicht zeigten, wurden entsprechend kritisiert: “Despite being presented with alternative perspective [...] these students resist acknowledging the impact of a variable such as race. [....] They may still cling to the conception of a fair and just world where everyone is judged equally and has the same opportunities. In this sense, their ability to be more introspective about their personal situation and social circumstances is still somewhat stunted” (ebd., 77f; Hervorhebung M.H.).

Hier soll weniger auf die autoritären Untertöne solcher Überlegungen hingewiesen werden als auf die Schwierigkeiten, das wissenschaftliche Ethos für (verschiedene) Schriftformen verbindlich festzulegen und daraus praktische Richtlinien abzuleiten. Wissenschaftlichkeit wird, wie das Beispiel der Soziologie andeutet, eingeübt als individuelle Reflexionsfähigkeit, die, und das steht im Zentrum unseres Arguments, besonders in Schriftform entfaltet werden kann. Die Verantwortung für wissenschaftliches Schreiben wird einerseits der Organisation als Aufgabe und andererseits den Studierenden individuell als Verantwortung zugeschrieben. Das Problem entsteht also, wenn auch in der Lehre auf das Neue der Forschung Bezug genommen werden soll, es wird aber durch die organisatorischen Besonderheiten der Universität erst hervorgebracht und nachhaltig geprägt.

Staatliche Erwartungen an das wissenschaftliche Schreiben

Diese sozialisatorischen Gründe für das wissenschaftliche Schreiben an Hochschulen haben seit der Gründung der modernen Universität Gültigkeit. Hinzu tritt die Kontrolle des Wissenserwerbs, die an der mittelalterlichen Universität das mündliche Modell der Disputation leisten musste (Übersicht: Münte 2004, 69ff) und die später vom Forschungsseminar erwartet wurde. Freilich war die Disputation weniger effizient und schwerer als Kontrollinstrument für Externe zu verwenden, weil sie das Ergebnis nur für Anwesende dokumentierte und damit externen Kontrollerwartungen nur unzureichend nachkommen konnte. Diese Erfordernisse externer Kontrolle beziehungsweise Rechenschaftslegung heben eine zweite organisatorische Besonderheit der Universität hervor – ihre Staatsabhängigkeit. Schließlich hängen Universitäten nicht nur finanziell weitgehend vom Staat ab, sondern sind auch auf die staatliche Anerkennung ihrer ‚Produktion’ angewiesen. Mit den wachsenden Erwartungen an die Rechenschaftslegung gegenüber dem Staat gewinnt das Schreiben an Bedeutung, weil Schriftstücke als Objekte im Rechenschaftsbericht verwendet werden können. Wenn die Liste Tätigkeit und Aktiva für den inneren Gebrauch, aber auch eine nach außen gerichtete Rechenschaftslegung und Legitimation der Leistungsbilanz abbildet, dient wissenschaftliches Schreiben als archivierbarer Nachweis der wissenschaftlichen Tätigkeit aller Universitätsmitglieder. Es dokumentiert zudem Prüfungsleistungen und bietet die Möglichkeit, im Konfliktfall einen Nachweis führen zu können, dass die versprochenen Leistungen erbracht wurden. Wissenschaftliches Schreiben wird dabei zur wichtigen Darstellungsform akademischer Aktivität, die vermittels des Schreibens gleichermaßen inner- und außerhalb der Universität beobachtet werden kann.

Um ihren Rechenschaftspflichten gegenüber Geldgebern und Interessenten nachzukommen, nutzen die Universitäten vorhandene Formen und lassen dabei etwas entstehen, das Power (2011) als Audit Trails bezeichnet. Gemeint sind Spuren, deren Nutzung sich in einem dreistufigen Kontrollverfahren entfaltet: Zuerst wird identifiziert, welche Tätigkeitsspuren Relevanz erlangen sollen. In einem zweiten Schritt werden diese einzelnen Spuren zu einer umfassenden Darstellung aggregiert und, drittens, mit Hilfe einer Metrik untereinander vergleichbar gemacht. Das kontrollorientierte Narrativ für das universitäre Schreiben könnte also lauten: Die Universität fordert und fördert das wissenschaftliche Schreiben ihrer Mitglieder aus professionslogischen, sozialisatorischen Gründen. Sie archiviert die schriftlichen Arbeiten als Nachweis von Leistungen und katalogisiert sie sowohl für den internen als auch für den äußeren Gebrauch. Diese Tätigkeitsspuren werden dann in einem zweiten Schritt zu Absolventenstatistiken und Publikationslisten verdichtet, so dass sich die Möglichkeit eröffnet, Vergleiche zwischen der Leistungsfähigkeit von Dozentinnen und Dozenten, von Universitäten und – durch die Benotung – der Qualität der Ausbildungsangebote anzustellen. Diese Vergleiche sind dann den Universitäten, aber auch den staatlichen Verwaltungen zugänglich und steuern die Entwicklungen der Universität (vgl. Espeland/Sauder 2007).

Mit Hilfe des Schreibens erlangt die Universität die partielle Kontrolle über die wissenschaftliche Sozialisation und kann ihre Reproduktion erstmals nicht nur im Hinblick auf die Reproduktion des Wissens, sondern auch auf Personal, zu steuern versuchen. Angehende Wissenschaftler schreiben, um die Wissenschaft zu erlernen. Ein weiterer Aspekt betrifft die Staatsabhängigkeit, die neben finanzieller Abhängigkeit auch die Übernahme organisatorischer Entscheidungen durch den Staat beinhaltet und externe Steuerungserwartungen etabliert. Clark (1989) hebt beispielsweise hervor, dass schon früh Seminare – und damit auch das erwähnte Forschungsseminar – als staatliche Einrichtungen in die kollegiale Struktur der Universität eingelassen wurden und somit als Vorboten der Umwandlung der modernen Universität in eine öffentliche Anstalt gelten können. In diesem Zuge verloren die Universitäten nicht nur ihre finanzielle Autonomie, die sie bis dahin durch Pfründe oder Donationen innegehabt hatten, sondern auch ihren Status als freie Korporationen. Damit aber nicht genug: „Die Universitätsreformen waren Teil einer Rationalisierung und Neuordnung der Staatsaufgaben sowie eines reformabsolutistischen Machtausbaus, der den Einfluss von Kirche und anderen autonomen Korporationen zurückdrängen sollte. [...] das heißt, sie stehen im Kontext umfassender Staatsreformen in den verschiedensten Bereichen“ (Paletschek 2007, 2; Hervorhebung M.H.). Die Universitätsreform war (und ist) integrierter Teil einer Staatsreform, und es überrascht daher wenig, dass auch beim Schreiben deutlich wird, dass die Universität vom Staat abhängt.

Wissenschaftliches Schreiben erlangte im Zuge der Modernisierung als Beleg für universitäre Leistung vis-à-vis dem Staat eine besondere Rolle. An der vormodernen Universität wurden die Studierenden und ihr Wissenserwerb noch personenbezogen überwacht. Hoskin/Macve zufolge hatten Lehrer in der vormodernen Schule (aber auch an der Universität) eine besondere Kontrollfunktion inne. „Teacher”, schreiben sie, “operated as guards and spies, opening letters and submitting regular reports on bad behaviour and maintaining registers for attendance and conduct; they were aided by pupils who were appointed as officer-monitors and organised in a hierarchical system with titles derived from Roman military and political practice” (Hoskin/Macve 1986, 125). Die Last der Kontrolle lag also beim einzelnen Lehrer, der das konkrete (soziale) Verhalten einzelner Studenten und Schüler beobachtete und den staatlichen Instanzen beschrieb.[4] Mit dem wachsenden Angebot an universitären Ausbildungsmöglichkeiten steigt allerdings einerseits der Kontrollaufwand, andererseits bieten sich den Studenten auch bessere Möglichkeiten, sich der Kontrolle ob ihrer Äußerlichkeit zu widersetzen beziehungsweise zu entziehen. In der Moderne veränderten sich jedoch die gesellschaftlichen Kontrollpraktiken insgesamt (z.B. Foucault 1979; Goffman 1973), und auch an den Universitäten wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Einführung schriftlicher Prüfungen die externen Kontrollmöglichkeiten erweitert.[5] Der Staat konnte seine zukünftigen Angestellten (bis 1970 wurden mindestens 70 Prozent der Universitätsabsolventen vom Staat beschäftigt [Neave 1994]) leistungsorientiert beobachten, und zwar weniger bezüglich ihrer sozialen Angepasstheit, wie im vormodernen Fall, vielmehr im Hinblick auf ihr Fachwissen, dessen Bedeutung für die Moderne insbesondere Weber (1972, 562) hervorhob. Damit wurde die Kontrolllast von den Lehrern auf die Studenten selbst verlagert, die vermittels der wiederholten Prüfungen die öffentlichen Erwartungen an ihr Verhalten zu verinnerlichen lernen.

Dieser moderne Kontrollzugriff nimmt seinen Ausgangspunkt an der Universität Cambridge, an der 1760 schriftliche Prüfungen eingeführt wurden. Sie sollten es ermöglichen, die Kandidaten zu kontrollieren und gleichzeitig nicht nur die Studierenden, sondern auch die Lehrenden sowie die Institutionen, an denen sie ausgebildet werden, über die Zeit vergleichbar machen. Im Rahmen ihrer Überlegungen zu Audits im englischen Hochschulsystem verweist Strathern (1997) auf die so geschaffene Möglichkeit, auch Männer und Frauen, selbst wenn sie nicht am gleichen Standort unterrichtet und geprüft wurden, systematisch und im Hinblick auf ihre Leistung miteinander zu vergleichen. Das enorme emanzipative Potenzial solcher Überprüfungen wird nicht nur am Fall des Vergleichs von Frauen und Männern im 18. und 19. Jahrhundert ersichtlich, von dem Strathern berichtet, sondern auch, wenn Fachhochschulen (polytechnics) und Universitäten im England seit den 1980er Jahren auf Leistungs- und nicht auf Gewohnheitsbasis miteinander zum Zweck der Mittelverteilung verglichen werden (vgl. Williams 1997). Heute kann man auf die globale Vergleichbarkeit in Hochschulrankings hinweisen und behaupten, dass dieser vergleichende und standarisierende Kontrollaspekt alle Ansätze universitärer Schriftlichkeit durchdringt, weil das Ranking die Zuordnungen wesentlich anhand von Publikationen und andere schriftliche Leistungen vornimmt.

Die Bezugnahme auf Wissenschaftlichkeit gestattet einerseits, Universitäten von anderen Anstalten der höheren Bildung auch auf der Ebene ihrer Leistungen zu unterscheiden und sie wie ihre jeweiligen Absolventen andererseits untereinander auch über längere Zeiträume zu vergleichen. Methodisch wird der Vergleich allerdings problematisch, sobald es beim Schreiben nicht mehr um die Paraphrasierung tradierter Texte und Vorlesungen geht, sondern um die Erzeugung wissenschaftlicher Innovation. Dann erfordert die Vergleichbarkeit zwar eine gewisse Standardisierung, gleichzeitig müssen aber die Besonderheit und das Neue des Textes erfassbar sein. Ein Vergleich setzt also einerseits voraus, dass die untersuchten Einheiten in mindestens einer grundlegenden Hinsicht gleich sind, und andererseits, dass ein Kriterium existiert, das die Verschiedenheit des (partiell) Gleichen beobachtbar macht. Es ist diese Kombination von Gleichheitsunterstellung und Differenzbeobachtung, die die soziologische Besonderheit von Vergleichen ausmacht (vgl. Heintz 2010, 164).

Betrachten wir zunächst die Gleichheitsunterstellung, kommen wir auf die schon angeführten Standards des akademischen Schreibens zurück. An der Schnittstelle von Erziehung und Wissenschaft beziehen sich die Vorgaben hauptsächlich auf äußerliche Merkmale wie Seitenzahl, Sprache und schematische Darstellungsweisen, es werden aber auch Ansprüche an die verwendete Literatur, ihre Darstellung und die grundlegende Argumentationsform erhoben. Für die Wissenschaft werden inhaltliche Standards in Peer Reviews formuliert, es lässt sich aber annehmen, dass sich keineswegs allein die von dieser Begutachtungsform entwickelten Standards durchsetzen werden. Auch der auf die Lehre abgestellte, explizite Kriterienkatalog beeinflusst die wissenschaftliche Kommunikation, nicht zuletzt, da an ihm das für den akademischen Nachwuchs verbindliche Verständnis von Wissenschaft ausgebildet wird. Ob der Bereitstellung und Durchsetzung quantitativer Standards an Universitäten können nicht nur die Werke einzelner 'Produzenten' kontrolliert werden, sondern auch Lehrer und Institutionen werden zu Vergleichsobjekten, bei denen man grundsätzlich von Gleichheit ausgehen kann.

Zwei Differenzbeobachtungen bereiten diese Gleichheitsunterstellungen auf: Erstens werden durch Benotung und andere Formen von Qualitätsbewertungen Kriterien eingeführt, die darauf abzielen, die Ungleichheit der Texte zu belegen und verbindlich messen. Dazu kommt, dass nur gleichgestellte Textformen und Autoren verglichen werden können; die Texte sind innerhalb der Studienprogramme vergleichbar, sonst sind sie ‚einzigartig‘ und entziehen sich so dem systematischen Vergleich. Im Zuge der Analyse werden also die Unvergleichbarkeit und Einzigartigkeit der schriftlichen Werke erfasst und die Schriftstücke hierarchisiert. Neben den Noten entwickeln Universitäten eine Reihe ‚interner’ Formen der Kommentierung und Bewertung, die einen bewertenden Vergleich zwischen Personen und Leistungen begründen – selbst wenn zufriedenstellende empirische Grundlagen und gemeinsame Kriterien für den Vergleich nicht existieren. Wichtig dabei ist, dass diese Hilfs- oder Stütztexte Vergleiche nicht nur nach innen, sondern wieder auch gegenüber externen Interessen begründen. Die Folgen solcher Kriterien sind nicht immer vorhersehbar. Bei Rankings beispielsweise geraten nicht nur (wie vorgesehen) die Universitäten, sondern unerwartet auch Staaten in den vergleichenden Blick der Öffentlichkeit; wenn beispielweise keine deutsche Universität in den Rankings unter die ersten 50 Spitzenuniversitäten kommt, wird dies als politische Krise gedeutet und eine Reform des Universitätssystems angestrebt; leider zieht man daraus nicht den Schluss, dass die Politik selbst reformiert werden sollte. War in der vormodernen Kontrolle durch die Universität der Zugriff auf individuelles Verhalten sicherzustellen, wird er hier verallgemeinert: Es geht nicht mehr um die Einzelleistung, sondern – sicherlich ein wichtiges Merkmal der Massenuniversität – um eine (erwartbare) akademische Gesamtproduktion. Diese Gesamtproduktion wird in Statistiken erfasst und den Universitäten zugeschrieben, die sich administrativ entsprechend wappnen müssen, um die Erwartungen zu erfüllen und sich im Falle des Scheiterns mit Begründungen auszurüsten, wobei häufig alternative beziehungsweise ergänzende Vergleichskriterien herangezogen werden.

Eine zweite Differenzbeobachtung setzt bei der organisatorischen Besonderheit der losen Kopplung der Universität an und lenkt den Blick auf den Umstand, dass Vergleichskriterien zwangsläufig immer nur für einzelne Disziplinen gelten. Da die einzelnen Fakultäten und Disziplinen voneinander weitgehend unabhängig nach disziplinären Logiken operieren und professionale Vorgaben umsetzen, ist eine organisatorisch einheitliche, alle Disziplinen überspannende Entscheidung zum Schreiben an Universitäten unwahrscheinlich. Disziplinäre Differenzen müssen aus dem Befund ausklammert werden, dass das Schreiben fürs Einüben in die Wissenschaft eine besondere Bedeutung erlangt. So variiert nicht nur der Umfang der Texte, sondern auch ihr Genre: Die soziologische Hausarbeit, die oft den wissenschaftlichen Artikel imitiert, unterscheidet sich von den Laborprotokollen der Chemie oder Biologie; die juristischen Fallbesprechungen sind mit den eher essayistischen Germanistenhausarbeiten kaum zu vergleichen. Allgemeiner kann man formulieren, dass die disziplinäre Struktur der modernen Universität eine Vielfalt von Bewertungskriterien hervorbringt, die gleichzeitig die von der Politik angestrebte Vergleichbarkeit aller universitären Leistungen unterminiert. Die disziplinären, lose gekoppelten Strukturen der Universität verhindern, dass der Staat anhand des wissenschaftlichen Schreibens eine detailliertere und vergleichende Kontrolle der Universität durchführen kann.

Einige abschließende Beobachtungen

Fragt man, wie die Universität als Organisation die Schriftlichkeit beeinflusst, kann einerseits festgestellt werden, dass die organisatorischen Besonderheiten der Universität (etwa die Einheit von Lehre und Forschung oder die Staatsabhängigkeit) in die Schreibformen transponiert werden. Schreiben ist zentral für die moderne Lehre, da die Schriftstücke es erlauben zu kontrollieren, ob und inwiefern die externen Erwartungen erfüllt wurden. Gleichzeitig verhindert die für die akademische Ausbildung in der Moderne nun konstitutive Orientierung am Neuen, dass man auch auf durchgängig standardisierte Schriftstücke zurückgreifen kann. Die organisatorische Besonderheit der losen Kopplung im Hochschulwesen führt zudem dazu, dass externe Kontrollerwartungen von jeder Disziplin beziehungsweise jeder Fakultät unterschiedlich und keineswegs kohärent interpretiert werden. Die Folge ist, dass allgemeine Vorgaben disziplinär unterschiedlich umgesetzt werden.

Weiterhin fällt auf, dass Universitäten aufgrund ihrer Staatsabhängigkeit nicht nur Kontrollvorgaben ernst nehmen müssen, sondern auch, dass wir an der modernen Universität einen Strategiewandel beobachten können, der auf eine Internalisierung der Kontrolle hinausläuft. Die Einübung in die Wissenschaft ist eng mit Professionalisierung verknüpft und das Schreiben bezweckt dabei die Kontrolle der Organisationsmitglieder, aber auch der Universität und ihrer Produktion; die Folgen werden auf allen Ebenen sichtbar, wenn Mittel leistungsorientiert verteilt werden. Aber auch wenn heute, wie in den Reaktionen auf die aufsehenerregenden Plagiatsvorwürfe an Politiker in Deutschland, die Anforderungen des wissenschaftlichen Ethos an die Texte strikter ausgelegt werden als zuvor, belegt dies die verstärkte Rechenschaftspflicht der Universitäten im Hinblick auf ihre Produktion, die sogar noch rückwirkend geltend gemacht werden kann. Die Einheit von Lehre und Forschung zeigte an, dass die Standardisierungen zwar immer aufgerufen, im akademischen Routinefall aber nur eingeschränkt umgesetzt werden konnten. Der Zusammenhang von Universitätsstrukturen und wissenschaftlichem Schreiben ließe sich weiter entwickeln; einige abschließende Anmerkungen sollen die Möglichkeiten andeuten.

Erstens wollen wir kurz auf die eingangs angesprochene Besonderheit der losen Kopplung als Strukturmerkmal der Universität zurückkommen. Sie führt dazu, dass die Kriterien fürs Schreiben innerhalb und zwischen Universitäten stark variieren. Das gilt nicht nur für die Standards, sondern auch für die Bewertung der Arbeiten und die Erwartungen an deren Wissenschaftlichkeit. So wird, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Bologna-Reform, immer wieder kritisiert, dass entgegen der programmatischen Feststellungen die einheitlichen Erwartungen an Prüfungen und andere schriftliche Beiträge je nach Land, Region und eben Disziplin ganz unterschiedlich umgesetzt werden (vgl. Huber 2012 b). Die Erwartungen an die Vergleichbarkeit, auf denen auch die aktuellen Reformbestrebungen basieren, werden also durch disziplinäre Strukturen gedämpft. Disziplinübergreifende Leistungsvergleiche sind hingegen nicht nur methodisch defizitär, sondern die Gleichbehandlung der Disziplinen führt zwangsläufig zur mehr Ungleichheit. Texte sind über die disziplinären Grenzen hinweg nicht vergleichbar, und der zunehmende Druck hin zu organisatorischer Vergleichbarkeit macht disziplinäre Autonomien problematisch.

Der Bologna-Prozess führt, zweitens, auch zu einem Ansteigen der Textproduktion an Universitäten. Dies gilt nicht nur für Listen. Der Bologna-Prozess stellt darauf ab, im Namen der Flexibilität und gegenseitigen Anrechenbarkeit den Studienverlauf engmaschiger für externe Instanzen zu rekonstruieren, was notwendig mehr Nachweise der Einübung in die Wissenschaft erfordert. Gleichzeitig mit den immer kleinteiligeren Leistungsnachweisen muss dieses Einüben durch eine wachsende Zahl von Gutachten und Berichten erklärt und kommentiert werden. In Bezug auf das wissenschaftliche Schreiben erscheint die Universität dann als eine eigentümlich impotente Organisation, an der zwar immer mehr geschrieben wird, deren Texte aber (fast) keine Leser haben und nur im Konfliktfall von Dritten aus den Schubladen gezogen werden. Die immer spezifischeren Prüfungen vervielfachen nicht nur die Prüfungstexte, sondern lösen auch eine weitere Differenzierung der Textsorten – in Umfang, Zielorientierung, Publikum etc. – aus, die einerseits den Blick auf ein Geflecht von Texten eröffnet, die einander in ihrer Bedeutung stützen und sich gegenseitig ihrer Funktion versichern. Der wissenschaftliche Text an der Universität ist somit nur noch verständlich als Hypertext. Andererseits entwickelt die Universität eine strukturelle Ähnlichkeit mit einem Fitnessstudio, in dem an Maschinen gehoben und gezogen wird, deren wesentliche Aufgabe nicht, wie es der Begriff Maschine eigentlich nahelegt, in der Verstärkung der angewendeten Kraft liegt, sondern im Gegenteil in ihrer Vernichtung. Für das Schreiben an Universitäten gilt: Immer mehr Energie wird in ungelesene und unzugängliche Texte gesteckt.

Aber die verstärkte externe Beobachtung schwächt nicht nur die quantitativ gemessene Produktivität, sondern hat auch qualitative Folgen für das Schreiben. Das grundlegende Problem der Textproduktion, die etwas Neues bieten und gleichzeitig erkennbaren Vorgaben entsprechen muss, wird durch die Textvielfalt immer komplizierter und für den wissenschaftlichen Nachwuchs immer undurchsichtiger. Gleichzeitig diversifizieren sich die disziplinären und organisationsspezifischen Vergleichskriterien. Der staatliche Prüfungs- und Kontrollauftrag ersetzt die implizite Professionalität der Peer Review durch Standards, die ihre Spuren in wissenschaftlichen Publikationen hinterlassen müssen (Kruse 2006 a, 172). Neben der These, dass der Messprozess sich auf die gemessenen Einheiten auswirkt (zu dieser Reaktivität vgl. Espeland/Sauder 2007, 3ff), muss noch eine implizit mitgeführte Entprofessionalisierungsthese in die Diskussion eingebracht werden. Sie weist auf die Spannung hin, die entsteht, wenn das tacit knowledge der wissenschaftlichen Profession expliziert und damit tendenziell kontrollierbar gemacht werden soll. In der Folge kann man einen paradoxen Machtverlust der wissenschaftlichen Profession in der Wissenschaft (und insbesondere bei ihrer Reproduktion auf Personalebene) konstatieren. Forschung und Lehre werden durch einen Satz formaler, aber nur lose gekoppelter Regeln gebunden. Werden die Professionen zurückgedrängt und können sie Lehre und Forschung nicht miteinander verbinden, beschleunigt dies eine Entkopplung von Lehre und Forschung, die in Deutschland ansatzweise bereits an den exzellenten Universitäten zu beobachten ist. Auf dem Gebiet des Schreibens wird das traditionelle Lehr- und Lernmodell dann herausgefordert, es findet sich aber bisher noch kein Ersatz. Es ist zu erwarten, dass die Standards der Wissenschaftlichkeit ausgebaut werden und die Professionsausbildung in die späteren Phasen des Studiums verschoben wird, vermutlich in die Zeit der Promotion. Schreiben wird wichtiger, findet allerdings erst deutlich später in der Ausbildung statt.

Kompliziert werden diese Überlegungen auch durch die Einbeziehung immer neuer Umwelten: Bei der Staatsabhängigkeit fielen Umweltbezug und Abhängigkeit in eins. Nun muss die externe Kontrolle sich nicht nur zum Staat, sondern auch zu anderen Stakeholdern verhalten, weshalb die Vergleichskriterien komplexer, widersprüchlicher und damit insgesamt problematischer werden. Wie diese Erwartungen verhandelt oder absorbiert werden, ist ein noch offenes Problem für die Universität, das die Zukunft des wissenschaftlichen Schreibens mit prägen wird.

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  1. Eine kürzere Version dieses Beitrag wurde auf der Tagung „Wissenschaftliches Schreiben in den Geisteswissenschaften“ am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig im September 2013 vorgestellt; eine Publikation aller Vorträge als Themenschwerpunkt ist im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) für 2014 geplant (Hrsg.: Walter Erhart und Hans-Ulrich Treichel). Ich danke den Organisatoren, Walter Erhart und Hans-Ulrich Treichel, für die Einladung und den Teilnehmern für die spannende Diskussion. Ich danke außerdem Regine Paul (Bielefeld) für hilfreiche Kommentare zu einer früheren Version des Textes.
  2. Vgl. dazu auch die ausführlichere Darstellung im BBC 4 Podcast Nr. 15, „Early writing tablet“, auf www.bbc.co.uk/podcasts/series/ahow/all [27.1.2014]. Diesen Hinweis verdanke ich Regine Paul.
  3. Gleichheit bezieht sich einerseits auf die Personengruppen (MA-/BA-Studenten oder Doktoranden), anderseits, und eng damit zusammenhängend, auf die Textformen. Beispielsweise lässt sich eine Hausarbeit nicht mit einer Doktorarbeit vergleichen.
  4. Hier werden Listen als jene Schriftform relevant, die individuelles Verhalten dokumentiert und begründet. Erst in der Moderne wird das wissenschaftliche Schreiben als Beleg für relevanten Wissenserwerb genommen und in die Listen eingetragen.
  5. Strathern (1997) beschreibt die historische Ironie, die darin liegt, dass diese Form der schriftlichen Kontrolle an Universitäten entwickelt wurde, von dort in die Wirtschaft ausstrahlte und nun, ökonomisch überformt, wieder an den Universitäten eingeführt wird.

Kategorien: Wissenschaft Methoden / Forschung Gruppen / Organisationen / Netzwerke

Michael Huber

Professor Dr. Michael Huber lehrt Soziologie an der Universität Bielefeld. Seine Forschungsinteressen umfassen Soziologie der Regulierung, Organisations- und Hochschulforschung.

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