Nikolas Kill, Julian Müller, Wibke Liebhart, Hannes Krämer, David Schultz | Veranstaltungsbericht |

Bielefelder Splitter IV: Donnerstag

Bericht vom 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bielefeld

Verbünden, schlichten, ermitteln

Bereits drei Tage lang fragten Soziolog:innen auf dem Bielefelder Kongress nach Polarisierungen der Gesellschaft. Am Donnerstagnachmittag war es dann an der Zeit, den Befund der sozialen Spaltung selbst zum Reflexionsobjekt zu machen. Lars Alberth (Lüneburg) und Fran Osrecki (Berlin) hatten zur Ad-hoc-Gruppe „Soziale Spaltung als Zeitdiagnose“ geladen, um sowohl Formen als auch Funktionen dieser Gegenwartsdiagnosen herauszuarbeiten. Verhandelt wurde dabei letztlich auch die Frage, welche Rolle der Soziologie angesichts politischer Konflikte zukommen.

In einem Vortrag mit dem Titel „Subjektivierung der Zeitdiagnose“ ging Sina Farzin (München) der Frage nach, wie sich Zeitdiagnosen sozialer Spaltung im außerwissenschaftlichen Diskurs etablieren. Sie unterschied dabei zwischen „klassischen“ und an literarischen Genres angelehnten Formen solcher Befunde. „Klassische Zeitdiagnosen“ stellen Farzin zufolge ein „Grenzwissen“ dar, das mit der Autorität eines Fachwissens arbeitet und sich gleichzeitig als anschlussfähig an öffentliche Diskurse erweist, sodass es in den Feuilletons dankbare Abnehmer:innen findet (als Idealtyp dürfe Ulrich Becks Risikogesellschaft gelten). Sie zeichnen sich durch die Rhetorik eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels aus – wie man sie in der jüngeren Vergangenheit beispielsweise in den Zeitdiagnosen von Oliver Nachtwey (Die Abstiegsgesellschaft) und Andreas Reckwitz (Die Gesellschaft der Singularitäten) vorfinde.

Hinzu kommen seit einigen Jahren biografische beziehungsweise ethnografische Studien, die subjektive Wahrnehmungen sozialer Spaltung in den Vordergrund stellen und damit auf großes öffentliches Interesse stoßen. Farzin bezog sich vor allem auf Didier Eribons Rückkehr nach Reims. Diese subjektive Form der Zeitdiagnose orientiere sich am Genre der Autobiografie und beziehe sich auf eine Erfahrung, die in gewissem Maße auch als kollektiv gelten könne: Farzin las Eribons Aufstiegsgeschichte vor dem Hintergrund der Bildungsexpansion. Die Sprache der Subjektivität, mit der Leser:innen sich eher identifizieren oder die sie zumindest besser nachvollziehen können, werde hier mit einer politischen Momentaufnahme verwoben. Zudem biete sich diese Form der Zeitdiagnose für neue Vermittlungspraktiken an, wie die Adaption von Eribons Buch für Film und Theater nahelege. Farzin argumentierte, dass diese zwei Formen der Zeitdiagnose – eine klassische und eine subjektiv-narrative – sich gegenseitig verstärken und zum Erfolg der Zeitdiagnose der sozialen Spaltung beitragen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang – wie in der Diskussion nach dem Vortrag hervorgehoben wurde – die Frage, unter welchen Umständen Werke, und insbesondere die erwähnten Autosoziobiografien, als Zeitdiagnosen rezipiert werden. Wie Farzin anmerkte, erschien Rückkehr nach Reims bereits 2009 in Frankreich und wurde dort (beziehungsweise zum damaligen Zeitpunkt) nicht als Zeitdiagnose gelesen, während sie nach dem Aufstieg des rechtsextremen Front National sowie der AfD und nach dem Erscheinen der Übersetzung im Jahr 2016 in Deutschland als solche rezipiert worden ist. Wie verhalten sich also Inhalt, Form und Rezeptionskontext zueinander, wenn der zeitdiagnostische Charakter eines Werks verhandelt wird, und welche Rolle spielen dabei Ereignisse und Entwicklungen, die das Selbstbild (von Teilen) der Gesellschaft trüben oder sogar erschüttern?

Julia Reuter (Köln) richtete in ihrem Vortrag den Blick auf eine andere Form der Gegenwartsbeobachtung, nämlich derjenigen der „Zeitdiagnose von unten“. Hier stünden Selbstzeugnisse und Erfahrungsberichte jener im Vordergrund, die selbst von sozialer, räumlicher und/oder symbolischer Ausgrenzung betroffen sind. Als Wegbereiter für dieses Genre gilt das Autorenkollektiv um Pierre Bourdieu mit der Studie Das Elend der Welt. Durch verstehende Interviews würden Krisenerfahrungen in den Worten der Protagonist:innen wiedergegeben und so eine lebensnahe Kritik an der Leistungsgesellschaft und ihren Verheißungen formuliert. Der meist große Umfang und das Interviewformat der Studien erschwere Leser:innen jedoch oft den Zugang, wie in der anschließenden Diskussion betont wurde. Außerdem wohne ihnen eine narrative Spannung inne, wie Nils Kumkar (Bremen) anmerkte: Anstatt in ihrem Namen zu sprechen, wollen Soziolog:innen die Protagonisten selbst zu Wort kommen lassen, sind jedoch als Autor:innen in gewissem Maße zu ersterem gezwungen.

Neben verschiedenen Formen der soziologischen Zeitdiagnose wurden in der Paneldiskussion auch gesellschaftliche Funktionen der Diagnosen sozialer Spaltung diskutiert. Isabel Kusche (Bamberg) schlug in ihrem Vortrag mit Blick auf die Rolle von „Filterblasen“ beziehungsweise „Echokammern“ im politischen Diskurs einen „wissenssoziologischen Perspektivenwechsel“ vor. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sei die Diskrepanz zwischen der öffentlichkeitswirksam vorgetragenen Sorge politischer Akteure, das Wahlverhalten lasse sich auf Social-Media-Plattformen manipulieren, und dem aktuellen Stand empirischer Forschung, die in dieser Hinsicht zunehmend Entwarnung gibt. Aus ihrer Analyse von Parlamentsdebatten und Reden politischer Akteure gehe hervor, dass auf Facebook und Co. gedeihende „Filterblasen“ gerne als Ursache einer angeblich polarisierten Diskurskultur gewertet werden oder auch als Erklärung für den Aufstieg der AfD herhalten müssen, weil sie, so Kusches These, trotz anderslautender Forschungsergebnisse einen anschlussfähigen Deutungsrahmen in der politischen Kommunikation bieten. Trotz Anzeichen dafür, dass Teile der Wählerschaft für etablierte politische Akteure nicht mehr zu erreichen seien oder bestehende demokratische Prozesse sogar grundsätzlich ablehnen könnten, ermöglicht die Diskursfigur der „Filterblasen“ ein Weitermachen wie bisher. Und genau darin liege der Wert dieses „Wissens um ein vermeidbares Nichtwissen“.

Die Sitzung wäre auf einem Soziologie-Kongress wohl fehl am Platz, würde sie sich nicht auch auf der Metaebene bewegen und die Funktion(en) spaltungsbezogener Zeitdiagnosen innerhalb des eigenen wissenschaftlichen Feldes beleuchten. Dazu luden Uwe Schimank und Nils Kumkar (beide Bremen) in einem Vortrag mit dem Titel „Die Polarisierung der Soziologie“ ein, in dem sie eine Typologie ebenjener soziologischen Zeitdiagnosen präsentierten. Sie gingen dabei von der Beobachtung aus, dass die Soziologie „Spaltung“ und „Polarisierung“ meist als bereits etablierte Semantiken in der Selbstbeschreibung politischer Konflikte vorfindet und sich zu dieser Beschreibung als Tatsachenbehauptung verhält.

Schimank und Kumkar machten drei mögliche Figuren soziologischer Stellungnahme aus: Soziologie könne sich zu gesellschaftlichen Polarisierungsbehauptungen entweder als Verbündete, als Schlichterin oder als Ermittlerin verhalten. Als Verbündete schlage sie sich entschieden auf eine Seite des Konflikts und stelle ihre Expertise ausschließlich einem der Lager zur Verfügung. Als Prototyp für diese Art der Stellungnahme wurde Karl Marx genannt, als ihr gegenwärtiger, melancholischer Vertreter Stephan Lessenich, der eine Polarisierung zwischen dem Westen als „Externalisierungsgesellschaft“ und dem Globalen Süden ausmache, in der es nur ein Bündnis mit Letzterem geben kann, wenngleich keine großen Erfolgsaussichten bestehen. Eine zweite Figur der soziologischen Stellungnahme ist die der Schlichterin. In diesem Fall teile sie zwar die Feststellung einer sozialen Polarisierung, anstatt sich aber auf eine Seite zu schlagen, bemühe sie sich, Verständigungs- und Kompromissmöglichkeiten zwischen beiden Lagern auszuloten, um zur Überwindung des Konflikts beizutragen. Als gegenwärtige Vertreter dieser Figur wurden Arlie Russell Hochschild und Andreas Reckwitz genannt. Drittens kann die Soziologie als Ermittlerin auftreten. In diesem Fall fechte sie die Polarisierungsbehauptung an oder relativiere die ihr beigemessene Bedeutung und attestiere der Gesellschaft somit Phantomschmerzen oder versichere beiden Lagern, die Schmerzen würden bald abklingen. Dadurch vertrete sie die radikalste Variante soziologischer Aufklärung im Sinne einer „Irritation gesellschaftlicher Selbstbilder“. Popkulturell betrachtet könnte man die Typologie also als Dreigespann verstehen: Angesichts einer gespaltenen Gesellschaft könne die Soziologie entweder als Robin Hood im Kampf für soziale Gerechtigkeit, als Yoda auf Versöhnungsmission oder als nüchtern, aber akribisch ermittelnder Sherlock Holmes auftreten.

Man durfte sich fragen, ob Schimank und Kumkar sich gerade als Chefermittler einer sich als polarisiert begreifenden Gesellschaft in Stellung brachten. Das maßten sie sich jedoch nicht an. Sie verwiesen stattdessen auf Armin Nassehi und seine Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung. Die präsentierte Typologie hatte dennoch ein wenig den Anschein einer impliziten Hierarchisierung soziologischer Stellungnahmen – mit der Figur der Ermittlerin als einziger, die von Voreingenommenheit und politischem Eifer ungetrübt beobachtet und analysiert. Bei allem Respekt für Robin Hood und Yoda: Wer möchte da nicht Sherlock Holmes sein? Aber ist eine Soziologie als über der Gesellschaft und ihren Konflikten schwebende Ermittlerin überhaupt denkbar?

Die beiden Bremer Soziologen betonten, dass ihre Typologie nicht als Hierarchie gedacht sei, die verschiedenen Denkfiguren unterschieden sich zwar im Typus, aber nicht im Grad ihrer Wissenschaftlichkeit. In einem letzten Schritt hoben Schimank und Kumkar die Produktivität des Widerstreits der verschiedenen Stellungnahmen hervor – für die Soziologie als Wissenschaft wie als reflexives Organ der Gesellschaft. Sie argumentierten, dass der Wettbewerb zwischen verschiedenen Theorieangeboten sowohl dazu führe, dass die einzelnen Theorien eine „höhere Eigenkomplexität“ entwickeln, als auch dazu, dass die Soziologie je nach sozialer Konjunktur ein passendes Deutungsangebot parat hat. Letzten Endes produziere die Soziologie systematisch aus sich selbst heraus alle drei Positionen, was wiederum dazu führe, dass sie „sachadäquater“ werde und besser zur Artikulierung politischer Konflikte beitragen kann. Das klang schon mehr nach Yoda, der sich auf Friedensmission in die DGS-Galaxie aufmacht.

Die Auffassung des produktiven Widerstreits innerhalb der Soziologie, der letztlich dazu beitrage, dass sie ihren Gegenstand sachgetreuer abbilde, wirft jedoch eine weitere Frage auf: Wie lässt sich die Trennschärfe einer Zeitdiagnose ermitteln, besser gesagt: von wo aus? In ihren Auseinandersetzungen mit der Rezeption der Reckwitz‘schen Gegenwartsdiagnose der gespaltenen Mittelschicht – veröffentlicht im Leviathan[1] und im Merkur[2] – argumentieren Schimank und Kumkar, dass sie nicht gesellschaftliche Wirklichkeit zum Gegenstand habe, sondern eher gesellschaftliche Selbstbeobachtung. Ausgehend von dieser Beobachtung verteidigen sie überzeugend die These, dass eine erfolgreiche Zeitdiagnose immer auch ideologisch wirkt in dem Sinn, dass sie „standpunktgebundene Sichtweisen und Bewertungen bestätigen muss, um wirken zu können“[3]. An welchen Maßstäben aber lässt sich dann messen, ob eine Zeitdiagnose der Gegenwart gerecht wird und inwiefern die Soziologie ihren Gegenstand „sachadäquat“ abbildet?

Auch ohne abschließende Antworten auf diese Fragen zeichnete sich die Paneldiskussion durch anspruchsvolle Vorträge, innovative Ansätze und rege Diskussionen aus. Vorübergehend lässt sich festhalten: Ob Robin Hood, Sherlock Holmes oder doch Yoda, der Soziologie scheinen viele Türen offenzustehen. Sie muss sich nur darüber verständigen, wer sie sein will.

(Nikolas Kill)

[1] Uwe Schimank / Nils Kumkar, Drei-Klassen-Gesellschaft? Bruch? Konfrontation? Eine Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz’ Diagnose der »Spätmoderne«, in: Leviathan 49, (2021), 1, S. 7-32.
[2] Uwe Schimank / Nils Kumkar, Die Mittelschichtsgesellschaft als Projektion: Wie soziologische Zeitdiagnose gesellschaftliche Selbstbilder nachzeichnet und dabei ihren Gegenstand verfehlt, in: Merkur 76 (2022), 1, S. 22-35.

[3] Ebd., S. 22


Kryo-Soziologie. Zum Verhältnis von Kälte und Gesellschaft

Die zahlreichen Meldungen über anhaltende Trockenheit und immer neue Hitzerekorde im Sommer wurden in den letzten Wochen schlagartig abgelöst von den Ängsten vor einem nun anstehenden kalten Winter. Und so ist es derzeit schlichtweg unmöglich, die Temperatur in Innenräumen nicht automatisch auch mit außen-, sicherheits- und energiepolitischen Themen in Verbindung zu bringen. Die Entscheidung von Elena Beregow (München), Veit Braun (Frankfurt a.M.) und Thomas Lemke (Frankfurt a.M.), die Frage nach dem Verhältnis von Temperatur und Gesellschaft in den Mittelpunkt der Ad-hoc-Gruppe „Zwischen heiß und kalt. Perspektiven einer Soziologie des Thermischen“ zu rücken, ist daher ebenso nachvollziehbar wie begrüßenswert. In ihrer Einführung deuteten die Veranstalter:innen sogleich mögliche Ansatzpunkte sowie Implikationen dieses Forschungsvorhabens an. Dass der Klimawandel eine globale Herausforderung ist, mit der wir alle konfrontiert sind, und dass uns bei der Frage nach der Höhe der Raumtemperatur soziale Ungleichheiten begegnen, sind in diesem Zusammenhang nur die offensichtlichsten Beobachtungen. Im drohenden Verlust thermischen Komforts jedenfalls würde die moderne Gesellschaft auch auf ihre eigenen, meist unberücksichtigten außer-sozialen Voraussetzungen gestoßen. Eine davon ist die Erwartbarkeit von konstanten Temperaturen in vielen Bereichen des täglichen Lebens.

Elena Beregow wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass gesellschaftliche Modernisierung nicht selten als Prozess eines allmählichen Abkühlens beschrieben wird. Neben Helmut Lethens klassischer Studie zum heroischen Kältekult männlicher Intellektueller der Zwischenkriegszeit erwähnte sie freilich auch Max Weber, der den Prozess der Rationalisierung bekanntlich auch als affektive Temperierung beschrieben und den Kapitalismus als ein gigantisches Triebwerk begriffen hat, das so lange laufe, „bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“. Im weiteren Verlauf plädierte Beregow allerdings für eine Entmetaphorisierung des Thermischen. Nicht so sehr das Erkalten von Persönlichkeit oder Gesellschaft in einem übertragenen Sinne interessiere sie, vielmehr gelte es, konkrete Thermokulturen in den Blick zu nehmen, also jene vielfältigen kulturellen Programme, bei denen Wärme und Kälte eine Rolle spielen: Man denke hierbei nicht nur an Smart Homes oder an medizinisch-technische Entwicklungen zur Optimierung des Lebens durch die Kontrolle von Temperaturen, sondern auch an thermopolitische Techniken der Überwachung, etwa mithilfe von Infrarotkameras.

Veit Braun setzte sich in seinem Vortrag mit Biobanken, genauer mit Kryobanken wie Frozen Ark auseinander, die im Dienste der Forschung und des Artenschutzes die DNA überlebensfähiger Spezies bei unter -140° konservieren. Welche Funktion derartige Kryobanken haben, ist dabei alles andere als eindeutig. Es handelt sich sehr wohl um Banken, die gefrorene Objekte wie Optionen lagern, an denen sich auch ein gewisser Marktwert ablesen lässt; daneben sind Biobanken aber auch Versicherungen, die Rücklagen bilden für den Fall des Artensterbens; sie sind weiterhin Datenbanken, die das gesammelte Material als potenzielle Information behandeln; und sie sind Archive, die schlicht Dokumente verwahren. Der Vortrag konnte eindrucksvoll nachzeichnen, wie sich diese Funktionen bisweilen überlagern und wie mit jeder dieser Funktionen auch je unterschiedliche Zeitbezüge verbunden sind. Biobanken müssen schließlich nicht nur eine Vergangenheit konservieren, sondern auch eine Zukunft imaginieren, aus der heraus eine antizipierte Vergangenheit überhaupt bewahrenswert erscheint. Im weiteren Verlauf des Vortrags gab Braun Einblicke in die Ergebnisse seiner ethnografischen Forschung und ging dabei vor allem auf die konkreten Objekte in Kryobanken, etwa Laborgefrierschränke und Kryo-Reagenzgläser, sowie die damit verbundenen Ordnungspraktiken ein.

Im Vortrag von Robert Seyfert (Kiel) ging es anschließend um die Kühlung von Datenzentren, ein zuletzt immer häufiger thematisiertes Problem. Angesichts steigender Temperaturen und sinkender Wasserspiegel kommt es immer wieder zu einem Mangel an Kühlwasser, um der Überhitzung von Computersystemen entgegenzuwirken. Immerhin knapp 40 % der verbrauchten Energie werden in solchen Datenzentren alleine für die Kühlung eingesetzt. Seyfert sprach an dieser Stelle von thermischer Resilienz und unterschied dabei drei Formen, wie Datenzentren prinzipiell auf veränderte Umweltbedingungen reagieren können: Resilienz könne kompensatorisch, souverän oder adaptiv sein. Im ersten Fall würde die Temperatur in einem konkreten Datenzentrum auf andere Weise konstant gehalten, im zweiten Fall müsse das Datenzentrum an einen anderen Ort verlagert werden, und im dritten Fall müsse eine höhere Temperatur im Datenzentrum in Kauf genommen werden. Die grundsätzliche Entscheidung Seyferts, spezifische Formen von Resilienz zu unterscheiden, wurde allgemein positiv aufgenommen. Diskutiert wurde jedoch die Trennschärfe der vorgeschlagenen Unterscheidung und die damit einhergehende Begriffswahl. Ob Resilienz nicht per se adaptiv sei und ob man im Falle souveräner Resilienz – das Versenken von Servern im Meer wurde hierfür als Beispiel angeführt – überhaupt noch von ‚Resilienz‘ sprechen könne, waren berechtigte Rückfragen.

Thomas Lemke wiederum beschäftigte sich mit der wachsenden Bedeutung von Kryotechnologien, vor allem biologisch-medizinischen Forschungen im Niedrigtemperaturbereich, an denen sich seiner Meinung nach das Aufkommen eines neuen biopolitischen Regimes andeute. Durch die mit diesen Technologien verbundene Hoffnung, Zellen und Organe zu konservieren, komme es zu einer Rekonfiguration gängiger Zeitkonzepte und zu einer immer stärkeren Umstellung auf Antizipation. Im Anschluss an die Arbeiten von Friedrich/Höhne sowie von Kowal/Radin griff er an dieser Stelle auf den Begriff der „Kryopolitik“ zurück. Diese sei durch den immerwährenden Aufschub des Todes gekennzeichnet und richte sich somit auf Formen des Lebens jenseits des Lebens, wie wir es kennen. Lemke sprach in diesem Zusammenhang von „suspendiertem Leben“, das weder vollständig lebendig noch endgültig tot sei. Bei genauerem Hinsehen zeige sich daran eine Politik der Suspension, die individuelle Entscheidungen immer häufiger in eine unbestimmte Zukunft verlagert. Statt etwa die Vereinbarkeit von Schwangerschaft und Beruf zu erleichtern, richte sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf Technologien, die eben diese Entscheidung hinausschieben.

Der angekündigte Vortrag von Angelika Schwarz (Darmstadt) mit dem vielversprechenden Titel „Ausweitung der Komfortzone. Zur Temperierung des bürgerlichen Interieurs“ musste leider entfallen. Das ist insofern schade, als eine stärkere Berücksichtigung konkreter Architektur diese spannende Veranstaltung sicherlich noch bereichert hätte. In der Architektur ist man nicht nur ganz praktisch und tagtäglich mit vielen der behandelten Themen beschäftigt, auch die klassische Architekturtheorie hat sich immer wieder derartigen Fragen gewidmet. Wer etwa Vitruv zur Hand nimmt, kommt kaum daran vorbei, über den Lichteinfall und die Durchlüftung von Räumen nachzudenken. All das sind Dinge, die das Miteinander rahmen und deren Bedeutung der Soziologie reichlich spät auffallen. Das ist aber keine Kritik an dieser Ad-hoc-Gruppe, deren Verdienst es ist, die Gesellschaft eben nicht automatisch schon als wohltemperiert zu begreifen. Ob allerdings der Begriff des Thermischen wirklich gut gewählt ist, um jene durchaus disparaten gesellschaftlichen Kälte- und Wärme-Phänomene zu beschreiben, die an diesem Nachmittag zur Sprache kamen, müsste weiter diskutiert werden. Womöglich trägt dieser innerhalb der Physik doch etwas anderes bezeichnende Begriff letztlich zu einer Re-Metaphorisierung bei, die in den Vorträgen selbst erfreulicherweise vermieden wurde.

(Julian Müller)


Draußen

Wer am Donnerstag, dem Tag nach der berühmt-berüchtigten Kongressparty, eine Veranstaltung ausrichtet, kommt wohl nicht um einen Kommentar zum Vorabend herum. So auch in der Ad-hoc-Gruppe „Aus der Wohnung, aus der Welt? Aktuelle soziologische Perspektiven der Wohnungslosigkeitsforschung“, die am Donnerstagnachmittag stattfand. Organisator Jan Weckwerth (gemeinsam mit Marco Heinrich, Christian Hinrichs, Frank Sowa und Timo Weishaupt) zeigte sich in seiner Begrüßung erfreut, dass „trotz der Party“ so viele Zuhörer:innen gekommen waren. Neben einem noch wütenden Kater oder bleierner Müdigkeit könnte vor allem das permanente Rauschen des Luftfilters die Aufmerksamkeit der Anwesenden beeinträchtigt haben. Corona-Prävention sorgt mitunter für schlechte Akustik.

Nach den Vorbemerkungen zu Party und Pandemie erklärte Weckwerth (Göttingen) den definitorischen Unterschied zwischen Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Während Erstere jegliche unstete, vorübergehende, unsichere, bisweilen prekäre Unterbringung ohne gesicherten Mietvertrag umfasst, meint Obdachlosigkeit die Menschen, denen das buchstäbliche ‚Dach über dem Kopf‘ fehlt. Institutionelle Hilfen und auch viele sozialarbeiterische Angebote richten sich nur an Personen, die unfreiwillig wohnungslos sind und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Ziel der Ad-hoc-Gruppe war, so Weckwerth, eine stärkere Verankerung der Wohnungs- und Obdachlosigkeitsforschung in der Soziologie, da sie bisher größtenteils in angewandten Wissenschaften wie der Sozialen Arbeit thematisiert würde. Über mangelndes Interesse konnte sich die Ad-hoc-Gruppe wahrlich nicht beschweren. Dies zeigte sich nicht allein an der hohen Zahl der Zuhörer:innen, sondern vor allem an den vielen Nachfragen und positiven Kommentaren in den Diskussionen. So gab es nach fast jedem Vortrag mehr Wortmeldungen als Zeit, weshalb trotz der strengen Moderation von Jan Weckwerth die versprochene Pause zum „kurzen Stoßlüften“ degradiert werden musste.

Alle fünf Vorträge stellten qualitativ-empirische Forschungen zu Wohnungslosigkeit vor – mit je spezifischen Zuschnitten, versteht sich. Somit war der Nachmittag gespickt mit Interviewzitaten aus den Projekten, intoniert von den Vortragenden. Jan Harten (Hamburg), der „Fremd- und Selbstbilder wohnungsloser Forschungspartner:innen unter dem pandemischen Brennglas“ betrachtete, führte seine O-Töne geradezu szenisch ein. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit – er wurde mit „last but definitely not least“ angekündigt – schien dies fast schon strategisch, um die Zuhörer:innen bei der Stange zu halten. Leider gerieten Hartens an die Zitate angeschlossene Interpretationen dabei etwas ins Hintertreffen.

Derlei Stimmen aus dem Feld dienen qualitativ Forschenden bestenfalls nicht nur zur Illustration, sondern sollen methodisch kontrolliert die Theoriegenese begründen. Bei aller Eindrücklichkeit des gesprochenen Worts bleibt jedoch der leise Verdacht, dass die Textstücke eher anekdotischen Wert haben und die Interviews daher besser als explorative field opener fungieren sollten. In der Natur eines Kongresses liegt außerdem, dass hier meist noch laufende Forschungsprojekte zur Diskussion gestellt werden. Die Ergebnispräsentation verbleibt also auf der Ebene der Daten (Interviewtranskripte, Feld- oder Forschungsnotizen), aus denen die (Nachwuchs-)Wissenschaftler:innen Felder-Schemata, Typen, Modelle oder Kategorien gebildet haben. Starke Thesen, konkrete Schlüsse oder ein aussagekräftigtes Fazit bekommt man hingegen selten vorgesetzt – das ist schade, aber angesichts der selektiven Mechanismen des Wissenschaftsbetriebs nur allzu verständlich.

Zwei Referate befassten sich mit der Situation in Berlin: einmal ging es um Verdrängungspraktiken auf dem umkämpften Berliner Wohnungsmarkt, einmal um das Leben auf den mindestens ebenso umkämpften Berliner Straßen. Robert Tiede (Göttingen) untersucht in seiner Dissertation die Vorstufe zur Wohnungslosigkeit, nämlich „Fälle von Kündigungen, Räumungsklagen und drohender Wohnungslosigkeit“. Hierfür führte er Interviews mit Expert:innen (hauptsächlich Anwält:innen) und Mieter:innen, die sich in prekären Mietverhältnissen befinden. In seinem Vortrag beschrieb er die Auswirkungen von Kündigungen und Räumungsklagen auf Mieter:innen, deren Bewältigungsformen sowie den Einfluss von soziodemografischen, biografischen und ökonomischen Faktoren auf ebenjene Auswirkungen und Bewältigungsformen.

Dafür bildete Tiede vier Typen von Mieter:innen (selbstbewusst, flexibel, prekarisiert, existenziell bedroht) und stellte die intuitiv einleuchtende These auf, dass die Auswirkungen und Bewältigungsformen vom sozioökonomischen Status, Bildungsstand und insgesamt der sozialen Position des/der Betroffenen abhängen. So weit, so naheliegend. Tiedes Fazit untermauerte die bekannten Thesen des Feuilletons zum Thema Wohnungsnot: Derzeitige Verdrängungsprozesse sind bis in die Mittelschicht akut, auch oder gerade im Wohnen schlägt sich soziale Ungleichheit nieder.

Wie organisieren wohnungslose Menschen in Berlin ihren Alltag, insbesondere ihre Hygiene und die Befriedigung anderer körperlicher Bedürfnisse? Zur Beantwortung dieser Frage führte auch Andrea Protschky (Dortmund/Utrecht) Einzel-, Gruppen- und Expert:inneninterviews, zusätzlich generierte sie Daten mittels teilnehmender Beobachtung. Ausgangspunkt ihres Promotionsprojekts sind Infrastruktursysteme wie Wasser und Energie, aber auch Kommunikation und Mobilität, an denen man ohne festen Wohnsitz nur schwer bis gar nicht partizipieren kann. Vor allem die beiden erstgenannten Systeme sind eng verknüpft mit dem Körper (Sauberkeit, Wärme), daher untersucht Protschky Wohnungslosigkeit aus einer körpersoziologischen Perspektive und unterscheidet hierfür zwischen normierten und marginalisierten Körpern.

Die Organisation von Körperlichkeit angesichts infrastruktureller Hindernisse oder gar Ausschlüsse hat ihr zufolge verschiedene Dimensionen. Sie ist erstens komplex und (zeit-)aufwendig: Es müssen für verschiedene Bedürfnisse verschiedene Orte aufgesucht werden, die teilweise weit voneinander entfernt sind. Für manche Bedürfnisse gibt es zu bestimmten Tageszeiten oder an Wochenenden keine zugänglichen Orte, also „timen“ wohnungslose Personen oftmals ihre Körperfunktionen. Zweitens bringen sich Wohnungslose durch Improvisationslösungen mitunter in Gefahr, wenn sie versuchen, die infrastrukturellen Ausschlüsse zu kompensieren. Drittens ergeben sich aus dem mangelnden Zugang zu Infrastruktursystemen körperliche Folgen wie Parasiten, schlechte Zähne oder Gewichtsverlust. Daran anschließend lässt sich viertens ein „Kreislauf aus Ausschlüssen“ beobachten: Durch erste infrastrukturelle Hindernisse – beispielsweise wenig Möglichkeiten, sich zu waschen – kommt es bei den Betroffenen zu Formen nonkonformer Körperlichkeit, die wiederum Stigmatisierungen und weitere Ausschlüsse nach sich ziehen, etwa aus öffentlichen Beförderungsmitteln. Als Konsequenz aus ihren Erkenntnissen forderte die Referentin langfristige, rechtlich legitimierte Räume zur Körperpflege.

Eine Schwierigkeit im (qualitativen) Forschungsprozess kam immer wieder zur Sprache, am explizitesten wohl im Vortrag von Marco Heinrich und Frank Sowa (beide Nürnberg) zu Prozessen des Otherings und zur „diskursiven Konstruktion von Wohnungslosigkeit“: Ebenso wie die Öffentlichkeit (re-)produziere auch die Wissenschaft durch ihre Forschung Vorstellungen, Bilder, Klischees und Stigmata zu Wohnungslosigkeit und wohnungslosen Personen. Umso wichtiger sei es, die eigene Forschungsposition und -perspektive zu reflektieren und Wir/Sie-Aussagen sowie Fremdzuschreibungen nach Möglichkeit zu vermeiden.

Wiederholt kam auch die Frage auf, ob und, wenn ja, wie die Forschungsergebnisse an die sogenannten Forschungspartner:innen (also die Interviewten, insbesondere die wohnungslosen Befragten) „zurückgespielt“ würden. Timo Weishaupt, der gemeinsam mit Christian Hinrichs und Jan Weckwerth (alle Göttingen) ihre vergleichende Forschung zum kommunalen Einfluss auf die Entstehung von Wohnungslosigkeit präsentierte, kündigte als Antwort einen Fachtag zum Abschluss des Projekts an, zu dem auch Betroffene eingeladen werden könnten. Andrea Protschky, die diese Nachfrage ebenfalls gestellt bekam, verwies auf ihr politisches Engagement zum Thema Wohnungslosigkeit, in dessen Rahmen sie ihr Wissen anwenden wolle.

Zum Abschluss ergriff noch einmal Frank Sowa das Wort. Er bewarb das Forschungsnetzwerk zu Wohnungslosigkeit und lud die Anwesenden dazu ein, sich auf dessen moderierte Mailingliste einzutragen. Gerade die soziologische Forschung zu diesem Thema – und hier schloss sich der Kreis zu den einleitenden Worten von Jan Weckwerth – müsse umtriebiger sein und sich stärker austauschen. Womöglich, so zumindest die Hoffnung der Organisatoren, legte die Ad-hoc-Gruppe den Grundstein dafür.

(Wibke Liebhart)


Imposante Technologien

Donnerstagnachmittag: In den abgelegenen und schmucklosen Fluren des T-Trakts geht es um nicht weniger als um „imposante Technologien“. Henning Laux und Philipp Zeltner (beide Chemnitz) organisierten eine Ad-hoc-Gruppe mit dem sprechenden Titel „Weltverbesserungstechnologien“. Das macht natürlich neugierig. Gemeint sind damit jene Technologien, die nicht nur auf inkrementelle Veränderung, sondern auf einen disruptiven Wandel zielen, auf die Lösung chronischer Menschheitsprobleme – vom Klimawandel über globale Ungleichheiten bis hin zum Tod. Entsprechende Technologieentwürfe ließen sich heutzutage immer häufiger beobachten, und sie zögen immer mehr potenzielle Lösungen nach sich. Wegen ihrer verheißungsvollen Versprechen, ihrer Lösungsorientierung und ihrer Zukunftsträchtigkeit sind die Technologien unweigerlich Teil der Debatte um Techniksolutionismus, also um die optimistische Hoffnung, mithilfe technischer Innovationen die großen drängenden Probleme der Welt beheben zu können. Nach einer kurzen rahmenden Einführung von Henning Laux loteten vier Vorträge ebenjene Lösungsdimension aus.

Eine erste Weltverbesserungstechnologie stellte Franziska von Verschuer (Frankfurt am Main) in ihrem inhaltlich wie ästhetisch sehr überzeugenden Vortrag „Techno-Solutionismus als Kosmopolitik. Eine Kritik am Beispiel von Verlust und Konservierung natürlicher Ressourcen“ vor: die Konservierung von Saatgut. Anhand des Svalbard Global Seed Vault (SGSV), einem ins ewige Eis der Arktis geschlagenen internationalen Saatgutspeicher, zeigte die Vortragende zwei verschiedene Dimensionen des „Techno-Solutionismus“. Erstens ziele der Saatgutspeicher als Technologie darauf, die Biodiversität aufrecht zu erhalten. Die Technologie evoziere allerdings ein falsches Gefühl der Sicherheit. Denn die Biodiversität reduziere sich maßgeblich wegen schädlicher landwirtschaftlicher Praxis und genau dieses Problem werde mit dem Saatgutspeicher nicht angegangen. Vielmehr sorge er für eine Entpolitisierung des Problems, da ja eine vermeintliche Lösung gefunden sei. Zweitens seien die Praktik der Saatgutspeicherung und ihre Bezüge zur (Agrar-)Welt eben doch immer politisch in dem Sinne, dass dadurch prägende Vorstellungen von Welt geschaffen würden. Natur, wie etwa der Permafrostboden, erscheint als passive Umwelt, als reine Ressource. Damit können die Möglichkeiten ihrer Bearbeitung wiederum schlecht bis gar nicht reflektiert werden.

Im zweiten Vortrag widmeten sich Désirée Janowsky und Martin Winter (beide Darmstadt) der „‚ontologischen Politik‘ von Fleischalternativen“. Sie fragten, wie Produktpräsentationen Fleischalternativen inszenieren und welche Veränderungen dies bewirkt. Die (neuen) Ersatzprodukte seien streng getrennt von aktivistischem Veganismus. Die untersuchten NGOs deuten Fleischalternativen nicht als Akt politischen Konsums, sondern als eine Frage der Lust und des Lebensstils. Die Ersatzprodukte ko-produzieren den Referent:innen zufolge vor allem eine bestimmte Form von „starken Männerkörpern“. Fleisch, oder wie es im Feld heißt: „natürliche Proteine“, sowie Fleischalternativen gelten in diesem Kontext als reine Proteinquelle und werden damit auf einen „Nutritionismus“ (Scrinis) heruntergebrochen. Verschiedene Daten machen außerdem deutlich, dass NGOs einen „Flexitarismus“ fördern, also eine Form flexiblen Vegetariertums, in der durchaus noch Fleischkonsum „erlaubt“ sei. Auch die Fokussierung der NGOs auf Flexitariertum lässt sich als Entpolitisierung verstehen. Sie adressiere weder einen politischen Gestaltungswille noch die Ausbeutung der Tiere oder die Schäden für das Klima, sondern blende all dies systematisch aus.

Im Folgevortrag „Bioökonomie – Die Verschleierung einer Weltverbesserungstechnologie und die Bedeutung von Story-Switching“ fragten Christoph Heckwolf und Marco Schmitt (beide Aachen) nach der Rolle von Biotechnologie bei der Verbesserung der Welt. Mittels eines netzwerkanalytischen Vorgehens identifizierten sie sogenannte „Stories“ (White) und deren Veränderungen im Bereich der Bioökonomie, genauer: hinsichtlich ihrer Förderung in Wissenschaft und Wirtschaft. Die Bioökonomie wolle – im Sinne eines nachhaltigen Wirtschaftens – Ökologie und Ökonomie verbinden. Dabei rücken die technischen Probleme aber immer mehr in den Hintergrund und machen allgemeinen gesellschaftlichen Krisen Platz. Dies führe zu neuen Begründungspflichten für technologische Veränderungen, was vor allem der narrative „Switch“ von Ermöglichung auf Notwendigkeit sichtbar mache. Ein solches rhetorisches Umschalten deutetet laut Aussage der Vortragenden bereits auf das Ende der Weltverbesserungstechnologie hin, die wahrscheinlich eher mittel- als langfristig durch andere Konzepte wie etwa „zirkuläre Ökonomie“ ersetzt werden wird.

Abschließend sorgte eine anders gelagerte Perspektive für eine Verschiebung der bisherigen Einsichten, wie sie die ersten drei Technologien aufgerufen hatten. Robert Dorschel (Cambridge, GB) fragte nach der „professionelle[n] Hinterbühne der Weltverbesserungstechnologien“ und meinte damit den Habitus und Lebensstil einer neuen Mittelklasse der „tech workers“. Anhand von Interviews mit Personen aus der Digitalwirtschaft in Deutschland und den USA konnte Dorschel zeigen, dass deren Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata weder in der Figur des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling) noch im Selbstbild des Kreativen aufgehen. Vielmehr werde hier eine neue Kultur der Subjektivierung sichtbar, die sich durch folgende Merkmale auszeichne: eine Rückkehr der Sozialkritik, eine Anerkennung verschiedener sozialpolitischer Positionen, eine professionelle Kombination aus Technikkompetenz und Empathie sowie einem achtsamen und gewöhnlichen Lebensstil. Auf Basis dessen identifizierte Dorschel kritische Positionen im Feld der Technologieproduzent:innen und kam zum Schluss: Nicht überall wo Weltverbesserung draufstehe, steckten naive Weltverbesser:innen dahinter.

Die Vorträge wie auch die an jede Präsentation anschließenden Diskussionen zum jeweiligen Thema machten sowohl wiederkehrende Aspekte als auch vielfältige thematische Anschlüsse deutlich. Leider blieb vor lauter engagierten Wortmeldungen zwischen den Beiträgen keine Zeit mehr für eine Abschlussdiskussion. Dadurch konnten die sich andeutenden offenen Fragen – nach der Rolle der Soziologie als reiner Ideologiekritikerin, nach der changierenden Gestalt der Solution selbst oder nach den verschiedenen Begriffen von Technologie und Technik – nicht mehr aufgegriffen, geschweige denn zusammengebunden werden. Vielleicht gebe es, so wurde in Aussicht gestellt, eine Fortsetzung des Panels in zwei Jahren. Wer weiß, welche Weltverbesserungstechnologien dann auf dem Programm stehen.

(Hannes Krämer)


Ethnografien (weg von?) der Gewalt

Auch Gewalt ist kein eindeutiger, sondern, wie die allermeisten Phänomene, ein umkämpfter Gegenstand in der Soziologie. Was als Gewalt gilt, ist hoch umstritten, und wie sie angemessen zu erforschen ist, nicht weniger. In der Gewaltforschung der letzten Jahre wurden – besonders in Auseinandersetzung mit Randall Collins‘ 2008 veröffentlichtem Buch Violence: A Micro-Sociological Theory – teils sehr kontroverse theoretische und methodische Debatten über die Analyse von Gewaltphänomenen geführt. Die Ad-hoc-Gruppe zu „Ethnografien der Gewalt“ knüpfte an diese Vorgeschichte an und versammelte unter dem Vorzeichen eines weit gefassten Ethnografiebegriffs fünf Beiträge, die sich mittels qualitativer Zugänge den methodologischen Herausforderungen empirischer Gewaltforschung stellen. So vielfältig die dabei untersuchten Kontexte (des Jugendstrafvollzugs, der stationären Pflege usw.) sind, so vielfältig sind auch die theoretischen Perspektiven, mit denen die Vortragenden ihre jeweiligen Gegenstände in den Blick genommen haben.

Den Anfang machte Johanna Fröhlich (Oldenburg) mit einem Vortrag zur neuen rechten Bewegung. Darin arbeitete sie anhand ethnografischen Materials heraus, wie die Bewegung an eine normative Ordnung anknüpft, deren Prinzipien für gewöhnlich nicht mit (neu)rechtem Denken in Verbindung gebracht werden: nämlich an die moderne Verfahrensordnung der Gewalt (ein Konzept Gesa Lindemanns), welche sehr stark durch die Menschenrechte geprägt ist und das Ausüben von Gewalt einem besonderen Legitimationszwang unterwirft. Auf plausible Weise konnte Fröhlich zeigen, wie sich einige Mitglieder der Bewegung als leidende Opfer einer Mehrheitsgesellschaft erleben und darstellen, die eigennütziges, individualistisches Handeln über das Wohl der völkischen Gemeinschaft stellen und Positionen der neuen Rechten – etwa als rassistisch – ausschließen würde. Über dieses Selbstverständnis als Leidensgemeinschaft gelinge der Bewegung ein Anschluss an die Ordnung der Menschenrechte, wobei im Vortrag leider unthematisiert blieb, wie offen sich die neue Rechte an vielen anderen Stellen von Menschenrechtsnormen abgrenzt. Dadurch wurden mögliche Ambivalenzen des Phänomens ausgeklammert.

Im zweiten Vortrag beschäftigte sich Frederike Brandt (Berlin) mit dem Phänomen sexualisierter Gewalt und genauer mit der Frage, was als solche von den Betroffenen erfahren wird. Dabei definierte sie Gewalt nicht selbst, sondern knüpfte deren Bestimmung an die Erfahrungen von Opfern sexualisierter Gewalt. Verbunden damit ist das methodologische Problem der Beobachtbarkeit und sprachlichen Rekonstruktion von subjektiver Erfahrung, dem Brandt mit einer ethnophänomenologischen Perspektive begegnete – was sich als äußerst fruchtbar erwies. Anhand der Analyse von narrativen Interviews mit weiblichen wie männlichen Opfern sexualisierter Gewalt arbeitete sie fünf Erfahrungstypen sexualisierter Gewalt heraus. Diese reichen etwa von Situationen, die bereits unmittelbar als bedrohlich empfunden werden, bis zu Erfahrungen, die erst im Nachgang einer entsprechenden Situation als bedrohlich qualifiziert werden, da sich im Laufe der Zeit die Situationsdeutung verändert. Daran anschließend wurde ein anregender Fragenhorizont eröffnet, etwa mit Blick auf die Zeitlichkeit von Gewaltdeutungen oder hinsichtlich der Frage, inwiefern die Form der Beziehung, in der die Betroffene zum Täter steht, die Erfahrung von sexualisierter Gewalt beeinflusst.

Während die ersten beiden Beiträge wie auch der letzte Beitrag (siehe unten) der Ad-hoc-Gruppe vornehmlich um die Frage kreisten, was in einem bestimmten Feld überhaupt als Gewalt erlebt und bezeichnet wird und von wem diese ausgeht, verfolgten die folgenden Vorträge – von Don Weenink (Amsterdam) einerseits und von Stephanie Schiller (Hamburg) andererseits – etwas anders gelagerte, aber nicht weniger spannende Probleme.

Am Beispiel der beruflichen Praxis von Sozialarbeiter:innen und Polizeibeamt:innen ging Don Weenink der Frage nach, was in Situationen geschieht, in denen Vertreter:innen dieser Professionen angesichts von drohender Gewalt durch ihre Klient:innen nicht mehr einfach weiterhandeln können. Der Fokus der Analyse lag dabei vor allem auf emotionalen Prozessen aufseiten der Sozialarbeiter:innen und Polizeibeamt:innen, wobei innovative Trigger-Techniken wie Video Elicitation und Body Maps zum Einsatz kamen, um den Befragten Erzählungen über körperlich-emotionale Empfindungen in solchen Bedrohungssituationen zu entlocken. Anschließend führte uns Stephanie Schiller in den Jugendstrafvollzug, den sie als „Gefüge von Gefügen“ analysierte. In ihrem Vortrag zeigte sie den analytischen Mehrwert einer Perspektive, die gewaltsame Vorgänge zwischen Inhaftierten als Gefüge bzw. assemblages (ein Konzept von Gilles Deleuze) in den Blick nimmt. Anhand ihres ethnografischen Materials dokumentierte sie sehr anschaulich die räumlich-soziale Bedeutung von Mangel und Enge im Strafvollzug und entwickelte das Konzept einer in dem Kontext räumlich wie sozial stark ausgeprägten Nähe als Gewaltgefüge.

Den Abschluss machte Jonas Barth (Oldenburg) mit einem Vortrag über „organisierte Gewaltvermeidung in der Pflege“, welcher angesichts öffentlichkeitswirksamer Skandalisierungen von Gewaltvorfällen in Pflegekontexten kontraintuitive empirische Befunde anzubieten hatte. In Abgrenzung zur üblichen Pflegeforschung, die Gewalt als ein illegitimes Phänomen behandelt, fragte Barth danach, welche Rolle Gewalt für die Ordnung der stationären Pflege von Personen mit Demenzerkrankung spielt. Ausgehend von einem reflexiven Gewaltbegriff, der Gewalt als institutionalisierten Sachverhalt begreift, und anhand von anschaulichem ethnografischem Datenmaterial legte er seine These der organsierten Gewaltvermeidung überzeugend dar. Diese Vermeidung äußert sich konkret darin, dass etwa durch das im Feld etablierte Deutungsmuster des „herausfordernden Verhaltens“ oder durch die Verabreichung von Psychopharmaka die Wahrscheinlichkeit verringert wird, dass Pflegekräfte das Verhalten von Menschen mit Demenz als Gewalt deuten und auf Basis dieser Deutung selbst zu Gewalt greifen. Kritisch zu reflektieren ist dabei jedoch die für qualitative Sozialforschung recht unübliche starke Festlegung auf theoretische Prämissen (wie der Relevanz von Gewalt für soziale Ordnung), was die Frage aufwirft, wie theoretisch und normativ unvoreingenommen Gewaltforschung sein kann bzw. sein sollte.

Was in der Ad-hoc-Gruppe insgesamt sichtbar wurde, ist eine Fokusverschiebung, die sich in Teilen der Gewaltforschung bereits seit einigen Jahren abzeichnet: nämlich weg von den Gewaltinteraktionen selbst hin zu den Erfahrungen und Deutungen, die mit Situationen des Antuns und Erleidens einhergehen. Bedauerlicherweise blieb in der Veranstaltung keine Zeit, die von den Vortragenden eingenommenen theoretischen Perspektiven stärker ins Gespräch miteinander zu bringen und danach zu fragen, wie diese sich gegenseitig befruchten und ergänzen könnten. Besonders interessant wären Erkenntnisse darüber, was an der Erfahrungsdimension bzw. am leiblichen Erleben von Gewalt orientierte Zugänge von poststrukturalistischen Positionen, wie sie Stephanie Schiller vertreten hat, lernen können und vice versa. Sicher dürfte sein, dass Gewalt weiterhin ein umstrittener Gegenstand der Soziologie bleiben wird, womöglich umstrittener denn je.

(David Schultz)

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky, Stephanie Kappacher, Wibke Liebhart.

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Nikolas Kill

Nikolas Kill ist Soziologe. Er arbeitete bis Ende Dezember 2023 als Volontär in der Redaktion der Zeitschrift Mittelweg 36 und des Internetportals Soziopolis am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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Julian Müller

Dr. Julian Müller ist derzeit Vertretungsprofessor für Politische Soziologie an der Universität Marburg. Er leitet zudem das Forschungsprojekt „Re/Präsentation. Neue Formen der politischen Ansprache und Fürsprache in der kommenden Gesellschaft“. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen weiterhin u. a. Allgemeine Soziologie, Soziologische Theorie, Kultursoziologie sowie Medien- und Kommunikationstheorien.

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Wibke Liebhart ist Soziologin. Sie arbeitet für das Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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Hannes Krämer ist Professor für Kommunikation in Institutionen und Organisationen an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kommunikation in Arbeits- und Organisationssettings, Kultursoziologie, Praxistheorie und Mikrosoziologie, Grenzforschung, Soziologie der Zukunft sowie Ethnografie.

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David Schultz ist Soziologe und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Umstrittene Gewaltverhältnisse. Die umkämpften Grenzen verbotener, erlaubter und gebotener Gewalt in der Moderne“, gefördert von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Im Rahmen des Projekts verfasst er eine ethnografisch angelegte Promotionsarbeit, die sich mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Problematisierung des Gewaltcharakters von Männlichkeit beschäftigt.

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