Ariane Leendertz | Essay |

Der erschöpfte Staat

Antwort auf die Kommentare von Biebricher, Rieger, Schimank, Streeck

Wahrscheinlich gibt es im Leben jeder Autorin zwei besondere Momente des Glücks: Wenn wir nach Jahren der Arbeit und den vielen, meist dann doch unter Zeitdruck abgeschlossenen Runden des Lektorats das fertige Produkt in den Händen halten. Und wenn das Buch bei seinen Lesern die Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommt, die wir uns wünschen. Das ist hier geschehen, und dafür bedanke ich mich herzlich.

Eine andere Geschichte

Zunächst zur Frage, inwiefern es sich um eine andere Geschichte des Neoliberalismus handelt. Wie Thomas Biebricher bemerkt, haben sich in der Historiographie des Neoliberalismus einige Standardnarrative etabliert, also Konventionen der Forschung, Analyse und Darstellung, die darauf hinauslaufen, dass „die“ Geschichte „des“ Neoliberalismus auf eine bestimmte Weise erzählt wird. Meine „andere“ Geschichte ist das Ergebnis eines anderen Ausgangspunkts, der nicht, wie oft üblich, bei den Anfängen des Neoliberalismus ansetzt und dann seinen „Aufstieg“ nachvollzieht. Tatsächlich ging es mir ursprünglich gar nicht darum, eine Geschichte des Neoliberalismus zu schreiben. Vielmehr interessierte mich, vollkommen unabhängig davon, der theoretische Umbruch, den die Entdeckung der Komplexitätstheorie in den Sozialwissenschaften markierte. Ich wollte aber nicht bei der Wissenschafts- und Theoriegeschichte stehenbleiben, sondern herausfinden, welche Relevanz der theoretische Umbruch jenseits der Wissenschaft hatte, genauer: inwiefern damit politische Konsequenzen verbunden waren.

Vor dem Hintergrund der älteren Forschungen über Technokratie, Social Engineering und Planung war mir rasch klar, dass die Entdeckung von Komplexität für etwas wesentlich Größeres stand: Sie unterminierte die Selbstverständnisse und Grundannahmen, auf denen der „aktive“, der soziale Interventionsstaat gründete. Diese Selbstverständnisse und Annahmen, mit denen spezifische Konzeptionen politisch-administrativen Handelns verbunden waren, umschrieb ich als Regierungsphilosophie des solutionism. Die Verbindung zwischen Komplexitätsdebatte und Neoliberalismus, diese Frage wirft Uwe Schimank auf, ist also keine direkte. Die Erosion des solutionism vollzog sich auf der Ebene der wissenschaftlichen Theorie und der politischen Praxis; und sie bildete eine Voraussetzung für den Aufstieg der neoliberalen Programmatik. Um diesen Zusammenhang geht es.

Solutionism kann man, wie Biebricher anmerkt, in der Tat als eine Form der Gouvernementalität, als eine Rationalität des Regierens begreifen. Diese lässt sich nicht auf die Sozialdemokratie eingrenzen, sondern umfasste in einem breiteren Spektrum technokratische, progressivistische, sozialdemokratische, sozialliberale Elemente und Traditionen. Der neoliberale Ideen- und Politikkomplex richtete sich gegen die Regierungsphilosophie des solutionism und die darin konstitutive Konzeption des Staates als Problemlöser. Der Aufstieg des Neoliberalismus ist ohne die Erschöpfung des solutionism also nicht zu verstehen, seine Erschöpfung auf der wissenschaftlich-theoretischen Ebene und in der politischen Praxis, wie ich am Gegenstand der Urban Policy nachzeichne.

Das ist meine „andere“ Geschichte des Neoliberalismus, die vielleicht noch einen zweiten und dritten Aspekt hat. Ich wollte zeigen, wie sich im Übergang von Jimmy Carter zu Ronald Reagan die wissenschaftlich-theoretischen Grundlagen der Politik verschoben; und wie genau die Regierung Reagan neoliberales Ideengut nicht nur in der Programmatik eines Politikfeldes zur Geltung brachte, sondern wie ihr letztlich ein institutioneller Umbau von Staatlichkeit gelang. Meine Arbeit verknüpft deshalb, und dahinter steht ein wichtiges konzeptionelles Anliegen, Ideen- und Institutionen-, Wissenschaft- und Policy-Geschichte miteinander. Dem liegt die Basisannahme zugrunde, dass wissenschaftliche Theorien und Politik im 20. Jahrhundert auf vielerlei Weise aufeinander bezogen waren, was sich u.a. in der Gestaltung staatlicher Institutionen niederschlug.

Konkurrenz der Konzepte

Mein Buch behandelt dabei die amerikanische Geschichte und ist als Aufschlag für weitere Forschung gedacht. Ein Ausgangspunkt dafür wäre die Beobachtung, dass die neoliberale Transformation in den USA erstens früher einsetzte und zweitens eine größere Breiten- und Tiefenwirkung gehabt zu haben scheint als etwa in Deutschland. Die Widerstandskraft des solutionism war offensichtlich in anderen Ländern stärker als in den USA; neoliberale Kräfte wie Thinktanks und finanzkräftige Netzwerke beispielsweise, die in den USA die politische Durchsetzung neoliberalen Ideenguts maßgeblich vorantrieben, waren in Deutschland weniger radikal und weniger mächtig. Aber auch in den USA wurde der solutionism nicht einfach restlos ersetzt. Die neoliberale Rationalität konkurrierte mit den Selbstverständnissen und Strukturen des solutionism. In bestimmten Bereichen setzte sie sich durch, in anderen weniger. Für die USA wäre zudem noch der religiös fundierte, radikale Konservatismus zu berücksichtigen, wie ihn gegenwärtig etwa Ron DeSantis repräsentiert und dessen Rationalitäten in vielerlei Hinsicht quer zur neoliberalen liegen.

Wir haben es also mit konkurrierenden Selbstverständnissen des Regierens zu tun, die nicht zwingend mit parteipolitischen Positionen kongruent sind und die sich jeweils – und gleichzeitig – in den vielen, historisch gewachsenen staatlichen Institutionen und Programmen manifestieren. Das betrifft auch das Phänomen des „carceral state“, das in der an Foucault angelehnten Forschung neoliberal gedeutet wird, das aber – zumindest für die USA – nicht ohne die moralisch-religiöse Komponente erklärt werden kann.

Sozialdemokratische beziehungsweise sozialliberale Regierungen um Tony Blair, Bill Clinton und Gerhard Schröder griffen im parteipolitischen Wettstreit Ideen und Konzepte aus dem neoliberalen Spektrum auf und verzahnten sie mit sozialdemokratischen oder progressivistischen Zielsetzungen. Bernhard Rieger formuliert mit Bezug auf Großbritannien einen ähnlichen Eindruck, wie ich ihn mit Blick auf die USA habe: Die sich konservativ nennenden Parteien legten in wesentlich stärkerem Maße die Axt an staatliche Institutionen und soziale Strukturen als die „neoliberalen“ Sozialdemokraten. Die Aktivitäten der Regierung Reagan im Feld der Urban Policy brachten ein Zerstörungswerk in Gang, dessen zersetzende Konsequenzen heute etwa in der desolaten Lage des politischen Systems, der politischen Kultur und massiven sozialen Konflikten zu besichtigen sind. Die Akteure um Reagan verfolgten das Ziel, die staatliche Handlungsfähigkeit bewusst zu unterminieren, um dem Wahlvolk zu zeigen, dass auf staatliche Institutionen kein Verlass sei, der Staat soziale Probleme nicht lösen könne und soziale Gerechtigkeit eine sozialistische Schimäre sei. Dass sie damit auch an den Fundamenten des demokratischen Rechtsstaats sägten, der in den USA heute zur Disposition steht, war vermutlich (noch) nicht intendiert.

Geschichtsschreibung ohne Meistererzählung

Wie könnte man schließlich meine Geschichte in eine longue durée der Kapitalismusgeschichte einordnen und/oder gar in die Meistererzählung einer Theorie der kapitalistischen Entwicklung einbetten? In der politischen Ökonomie ist völlig zu Recht vom „neoliberalen Kapitalismus“ als einer spezifischen Phase der Kapitalismusgeschichte die Rede, die seit den 1970er Jahren namentlich in den USA begann. Ob sich die neoliberale Spielart, die seit den 1990er Jahren global wirksam wurde, in anderen kapitalistischen Gesellschaften – alten wie neuen – politisch, institutionell und sozial derart durchschlagend durchgesetzt hat wie in den USA, ist für mich eine ernsthaft gemeinte empirische Frage.

Die Skepsis, die sich in der deutschen Historiographie gegenüber Meistererzählungen entwickelt hat, ist allerdings berechtigt. Die Analyse wird dann in den Rahmen einer Großtheorie oder Großerzählung eingepasst, wie es etwa in modernisierungstheoretischen Arbeiten oder beim „langen Weg nach Westen“ passiert ist. Wenn Neoliberalismus nach Wolfgang Streeck als „politisch-ökonomisches Nachfolgemodell des staatsinterventionistischen Kapitalismus“ definiert wird, muss die kapitalismustheoretisch fundierte historische Meistererzählung aus der Perspektive der politischen Ökonomie geschrieben sein. Bei Streeck determiniert die kapitalistische Logik der Profitmaximierung und Kapitalakkumulation den Lauf der Geschichte; im Zeitalter des Kapitalismus ist die historische Entwicklung durch den ökonomischen, sozialen und politischen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit bestimmt, und sie weist mit sich abwechselnden Phasen der Krise und Stabilisierung zyklische Gesetzmäßigkeiten auf. Das ist die kapitalismustheoretische Meistererzählung. Offen bleibt für mich, welchen Platz gegenüber dieser alles durchdringenden strukturellen agency des Kapitalismus, zu der es überdies kein „Außen“ zu geben scheint, Ideen als Triebkräfte der historischen Entwicklung haben.

Meine Arbeit beschreibt zwar eine Reihe von Entwicklungen, die den Übergang zum „neoliberalen Kapitalismus“ in den USA kennzeichneten und ermöglichten. Aber sie akzentuiert die politische Relevanz von Ideen, die abgelöst von ökonomischen und sozialen Interessen und Machtkonstellationen als eine Kraft mit eigener Logik und agency betrachtet werden. Dabei kommt, da liegt Biebricher ganz richtig, der idealistische Ansatz der Ideengeschichte durch, so wie bei Streeck der materialistische Primat der politischen Ökonomie. Hier stoßen unterschiedliche geschichtstheoretische Prämissen aufeinander. Sowohl die Ideen- als auch die Theoriegeschichte, der Natur- ebenso wie der Geistes- und Sozialwissenschaften, weisen eigene Dynamiken und Logiken auf, die nicht ohne Weiteres mit den Logiken der kapitalistischen Entwicklung synchronisiert werden können oder durch diese determiniert sind. Politische Machtkämpfe wiederum drehen sich nicht nur um Verteilungsfragen und die Durchsetzung der materiellen Interessen bestimmter Gruppen. Sie sind gleichzeitig Kämpfe um die Macht, unterschiedliche Vorstellungen gesellschaftlicher Ordnung („Ideen“), unterschiedliche individuelle und normative Überzeugungen durchzusetzen – und diese können durchaus jenseits der kapitalistischen Logik liegen.

Die Policy-Forschung ist hierfür ein gutes Beispiel: Ihre Denkfiguren und Zielsetzungen bewegten sich außerhalb des kapitalismustheoretischen Denkrahmens. Streeck vermutet, dass das Versäumnis, Gesellschaft in Klassen zu denken, zu ihrem Scheitern beitrug. Ich würde das anders formulieren: Die Policy-Forschung scheiterte, weil ihr im Kern technokratisches Politikmodell in der pluralistischen demokratischen Gesellschaft nicht funktionieren konnte. Pluralistisch ist eine offenere Formulierung als kapitalistisch, denn die pluralistische Gesellschaft ist nicht allein von Klassengegensätzen geprägt. Man kann meine Darstellung gerne als Fallstudie für den Übergang zum neoliberalen Kapitalismus lesen und framen. Ich verstehe sie keinesfalls im Widerspruch dazu jedoch als eine Geschichte der anhaltenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung über die Gestaltung der Beziehungen zwischen Wirtschaft, Staat, Gesellschaft und Individuen. Diese Perspektive erlaubt es, Phänomene und Entwicklungen zu integrieren, die man mit einem polit-ökonomischen kapitalismustheoretischen Rahmen vielleicht übergangen hätte.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Geschichte Gesellschaft Politik Politische Ökonomie Sozialpolitik Staat / Nation Wirtschaft

Ariane Leendertz

Ariane Leendertz ist Zeithistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München.

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