Michael Hagner | Rezension |

Die alten Leiden der neuen Universalgelehrten

Rezension zu „Giganten der Gelehrsamkeit. Die Geschichte der Universalgenies“ von Peter Burke

Abbildung Buchcover Giganten der Gelehrsamkeit von Peter Burke

Peter Burke:
Giganten der Gelehrsamkeit. Die Geschichte der Universalgenies
Deutschland
Berlin 2021: Klaus Wagenbach
320 S., 29,00 EUR
ISBN 978-3-8031-3702-9

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten unserer Zeit, dass sich die technologisch am weitesten entwickelten Gesellschaften zwar als Wissensgesellschaften verstehen, gleichzeitig jedoch von einer Krise des Wissens die Rede ist, die für diese Gesellschaften eine zunehmende Bedrohung darstellt. Wie sollen die beiden Befunde zusammengehen? Wenn Wissen doch, wie es in Sonntagsreden und TED-Talks, Parteiprogrammen und Regierungserklärungen proklamiert wird, über das Fortbestehen der zivilisierten Welt mitentscheidet, darf es mit ihm eigentlich nicht immer weiter bergab gehen.

Die Auflösung dieses Widerspruchs liegt darin, dass mit Wissen jeweils sehr unterschiedliche Dinge gemeint sind. Im einen Fall geht es um die Mutation des Wissens zur Ware oder auch zur Ressource, damit innovative ökonomische und gesellschaftliche Effekte erreicht werden können. Das allerdings funktioniert nur, wenn Wissen in den entsprechenden digitalen Umwelten zirkuliert. Kein Wunder also, dass von staatlicher und unternehmerischer Seite alles darangesetzt wird, den gesamten menschlichen Umgang mit Wissen digital zu organisieren.

Im anderen Fall wird Wissen ebenfalls als Ressource verstanden, aber in der Weise, die es einer möglichst großen Zahl von Menschen erlaubt, Sachverhalte besser einzuschätzen, Differenzierungen vorzunehmen und überhaupt kritisches Denken einzuüben – allesamt Aspekte, auf denen liberal-demokratische Gesellschaften aufbauen. Auch dieses Wissen benötigt entsprechende Umwelten, doch während das Internet zunächst als Riesenschritt zu einer finalen Demokratisierung des Wissens gefeiert wurde, ist inzwischen nicht mehr zu übersehen, dass die fabelhafte digitale Verfügbarkeit des Wissens zwar ein schnelles Abgreifen von Information befördert, Genauigkeit und Nuancierung des Urteils sowie kritische Reflektion jedoch in Rückstand geraten. Kaum zufällig ist die Lesefähigkeit, die trotz der Ergebnisse des Programme for International Student Assessment (PISA) lange Zeit niemanden so recht interessiert hat, in den letzten Jahren zum privilegierten Kandidaten geworden, um den Gesundheitszustand des Wissens zu untersuchen.

Die im Gange befindliche technologische Medienrevolution, die sich immer deutlicher als Durchsetzung eines digitalen Plattformkapitalismus erweist, hat also zu einem veritablen Schisma in Bezug auf das Wissen geführt, das von den einen als Chance, von den anderen als Krise wahrgenommen wird. Nach Überzeugung der Letzteren hat diese Krise keine neuen Helden des Wissens hervorgebracht, geschweige denn Universalgelehrte, die mit dem Wissen der Welt zu jonglieren vermögen. Im Silicon Valley hingegen dürfte man die entstandenen Wissensverhältnisse etwas anders sehen. Tech-Gurus wie Elon Musk, Peter Thiel oder die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin würden sich vielleicht nicht den Mantel des deutschen Universalgelehrten umhängen, aber gewiss den englischen polymath als ihren Vorläufer betrachten, dessen Interessen, Studien und Wissen vielfältige Bereiche umfasst – wenn ihr historisches Interesse denn hinter ihre eigene Lebenszeit zurückreichen würde.

Die eben angeführte Definition des polymath geht auf den Hamburger Humanisten Johann von Wowern zurück, der 1603 einen Traktat „De polymathia“ veröffentlichte.[1] Niemand wird mehr, wie Wowern es noch für selbstverständlich gehalten hatte, sämtliche Bereiche des Wissens mit größter Leichtigkeit durchpflügen. Stellt man jedoch in Rechnung, dass sich jemand wie Musk in so unterschiedlichen Bereichen wie Elektrofahrzeuge, Besiedelung des Mars, Kryptowährungen, Mensch-Maschine-Interfaces und Kryonik finanziell und intellektuell engagiert, wird er damit noch nicht zum Wiedergänger eines Leonardo oder Leibniz. Allerdings ließe sich dieses Phänomen durchaus unter der Fragestellung diskutieren, ob nicht die Polymathie unter dem Regime des Wissens als digitaler Ware in neuer Weise aufscheint, wie befremdlich auch immer uns eine solche Perspektive vorkommen mag.

In seiner Geschichte des Universalgenies, die im englischen Original The Polymath. A Cultural History from Leonardo da Vinci to Susan Sontag heißt, erwähnt Peter Burke die beiden Google-Gründer und Musk ausdrücklich, um sie sogleich aus seiner Geschichte auszuschließen, weil es sich bei ihnen um Unternehmer und nicht um Akademiker handle. Dieser Ausschluss ist schon deswegen bedauerlich, weil auch im 20. Jahrhundert so unterschiedliche Entrepreneure wie Walther Rathenau, Vannevar Bush (den Burke immerhin kurz erwähnt) oder Buckminster Fuller mehrere Bereiche des Wissens durchkämmt haben. Bedenkt man zudem, dass das Silicon Valley sich Vergleiche mit dem antiken Athen oder dem Florenz der Renaissance nicht nur gern gefallen lässt, sondern sie gleich zum Geschäftsmodell macht, dann ist Burkes Selbstbeschränkung fatal, denn angesichts der gegenwärtigen Krise des Wissens, die er ebenfalls konstatiert, gerät er von vornherein in eine defensive Position, welche die Geschichte des Universalgelehrten als eine Verlustgeschichte betrachten muss.

Der Umstand, dass der Universalgelehrte eine – vielleicht – aussterbende Spezies darstellt, scheint Burke zu der initialen These verleitet zu haben, die Geschichte habe diese Ausnahmeerscheinung unter den Gelehrten notorisch schlecht behandelt. Er wurde entweder der Vergessenheit anheimgegeben oder in eine bestimmte Schublade gesteckt, die nicht der Vielfältigkeit seiner Leistungen und Interessen entspricht. Aber stimmt diese Einschätzung überhaupt? Man könnte die Gegenthese formulieren und behaupten, dass die Geschichte der Universalgenies, der gelehrten Monstrositäten, Eigenbrödler und singulären Erscheinungen, das Salz in der Suppe der Wissensgeschichte darstellt. Giganten der Gelehrsamkeit wie Leonardo, Pico de la Mirandola, Bacon, Descartes, Newton, Leibniz, Diderot, Goethe, Alexander von Humboldt oder Darwin sind gerade wegen ihrer Vielseitigkeit immer wieder gerühmt worden.

Sicherlich ist Differenzierung sinnvoll. Descartes ist häufig nur als Philosoph, Newton nur als Physiker wahrgenommen worden. Aber dieses Bild ist durch die Wissenschaftsgeschichte der letzten Jahrzehnte gründlich revidiert worden. Descartes’ Beiträge zu Mathematik, Optik, Physiologie oder Meteorologie sind inzwischen ebenso geläufig wie die Tatsache, dass Newtons theologische und alchemistische Interessen ebenso ausgeprägt waren wie seine physikalischen. Die historisch unterschiedlichen Perspektiven auf die Figur des Universalgelehrten, welche die Vielseitigkeit mal herausstreichen, mal in den Hintergrund rücken, oder die universellen Interessen mal als Oberflächlichkeit, mal als fruchtbare, bis dahin nicht gesehene Verbindung unterschiedlicher Wissensbereiche deuten, könnten ein faszinierendes Kapitel der Wissensgeschichte darstellen. Sie würde nicht zuletzt die Mythologie des Universalgelehrten offenlegen, dessen phänomenales Wissen im hagiografischen Überschwang nicht selten übertrieben wurde.

Burke sieht all diese Punkte, verfolgt sie aber nicht weiter. Stattdessen hat er sich für eine Kollektivbiografie von ungefähr 500 Personen der europäischen Tradition zwischen dem 15. und dem 21. Jahrhundert entschieden. Angesichts dieser Fülle müssen die Kriterien geräumig genug sein, damit alle Personen von Leonardo bis Susan Sontag und von Amos Comenius bis Judith Butler unter dem Schirm des Universalgelehrten Platz haben. Am Ende läuft es auf Isaiah Berlins berühmte Unterscheidung zwischen dem Fuchs, der vieles weiß, und dem Igel, der nur eine Sache weiß, die aber richtig, hinaus. Burke bietet noch weitere Differenzierungen an, die jedoch nicht zur Schärfung der historisch variablen persona des Universalgelehrten führen, sondern nur Anlass für einen endlosen Zeitvertreib bieten. Es dürfte keinen einzigen Leser dieses Buches geben, der nicht bestimmte Gelehrte in Burkes Kohorte vermisst, sich bei anderen fragt, was sie in ihr zu suchen haben, und wieder andere in die falsche Kategorie gesteckt sieht.

Die Entscheidung für eine Prosopografie ist noch aus einem anderen Grund recht unglücklich. Burke verheddert sich damit nämlich unbeabsichtigt im Irrgarten eines Genres, das sich vor 100 Jahren großer Beliebtheit erfreute – der Pathografie. Der völlig verfehlte Erklärungsanspruch der psychiatrischen Kulturgeschichte machte die Ausnahmeerscheinungen zu Kranken: bei dem italienischen Psychiater und Anthropologen Cesare Lombroso als Ausdruck einer biologischen Degeneration, bei Wilhelm Lange-Eichbaum als Resultat einer unglücklichen pathologischen Lebensgeschichte. Damit keine Missverständnisse entstehen: Burke ist weit davon entfernt, Universalgenie und Geisteskrankheit in einen kausalen Zusammenhang zu bringen. Die Ähnlichkeit besteht in der prosopografischen Vorgehensweise. Lange-Eichbaum beispielsweise bezieht ungefähr 200 präsumtive Genies in seine Untersuchung ein, und was er als biografische ‚Belege‘ für seine Diagnosen anführt, basiert vielfach auf Gerüchten, Klatsch, Tratsch, Übertreibungen und Verzerrungen, die einer kritischen Quellenkritik nicht standhalten, geschweige denn, dass mit ihnen eine pathografische Erklärung für die entsprechende Geniearbeit gelingt. Burkes Quellenarbeit ist zweifellos seriöser, aber auch er stützt sich auf Anekdoten, Stereotype und Verklärungen, ohne sich der begründeten Vermutung zu stellen, dass die historische Figur des Universalgelehrten ohne die Ergiebigkeit des gossip womöglich gar nicht existieren würde.

Und wer sich einmal auf Gruppenbildungen einlässt, landet dann auch bei den entsprechenden Zusammenstellungen. Als „Intelligenztalent“ bezeichnet Lange-Eichbaum die Fähigkeit, „sich auf zahlreichen Gebieten sofort zurechtzufinden“ und über Urteilskraft zu verfügen. Als Beispiele dienen ihm Aristoteles, Cäsar, Leibniz, Voltaire und Schopenhauer.[2] Burke wiederum erfindet die Kategorie des „seriellen Universalgelehrten“ (S. 177), der einen Wissensbereich nach dem anderen durchdringt, was auch im 20. Jahrhundert noch möglich war, sodass sich in dieser Gruppe Figuren wie Pavel Florenskij, Michael Polanyi, Joseph Needham, Gregory Bateson, Herbert Simon und Michel de Certeau wiederfinden. Außerordentliche Gelehrte zweifellos, aber man fühlt sich doch ein wenig an Borges’ berühmte Klassifikation der Tiere erinnert: darunter „gezähmte“ und „die den Wasserkrug zerbrochen haben“, „Milchschweine“ und „die von weitem wie Fliegen aussehen“.[3] Burke erwähnt Borges’ Essay sogar als Beispiel für dessen „libidinöse Beziehung zu Enzyklopädien“ (S. 160), vergisst aber hinzuzufügen, dass die von Borges so eindringlich demonstrierte Kontingenz der Typisierung auf seine eigene zurückschlägt.

Ähnliche Schwierigkeiten werden offensichtlich, wenn Burke sich auf die Suche nach den psychologischen Eigenschaften der Universalgelehrten macht und dabei das Erwartbare findet: Neugier, Konzentrationsvermögen, Gedächtnis, rasches Auffassungsvermögen, Vorstellungskraft, Rastlosigkeit, Zeitökonomie und so weiter. Gewiss, all diese Eigenschaften werden schon eine Rolle spielen, doch man ist perplex, wenn es ein Kulturhistoriker sui generis unterlässt, die historische Variabilität dieser Kategorien, die zum Teil bestens erforscht sind, für die Wandlungen der Physiognomik des Universalgelehrten fruchtbar zu machen. Unbestreitbar bleibt allerdings Burkes Feststellung, dass die jeweiligen Umwelten für das Gedeihen oder Verkümmern von Universalgelehrten ausschlaggebend sind. Womit wir wieder bei der gegenwärtigen Krise des Wissens wären, die die Nischen für Universalgelehrte zuzuschütten droht.

Tatsächlich sind es drei Krisen, die für die neuere Geschichte des Wissens und somit auch für den Universalgelehrten konstitutiv sind: die erste in der Mitte des 17. Jahrhunderts mit ihrem enormen Anstieg der Wissensproduktion, die sich in der Gründung von wissenschaftlichen Gesellschaften und Zeitschriften sowie einer wundersamen Vermehrung von Büchern manifestierte; die zweite in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit ihrer Ausdifferenzierung von Disziplinen und Spezialisierungen, die das Gesicht der modernen Universitäten prägen sollte. Der Typus des Universalgelehrten hat sich in diesen Krisen neu zusammengesetzt, freilich ist er keineswegs verschwunden. Was folgt daraus für die gegenwärtige (dritte) Krise?

Der Pessimist könnte in Abwandlung von Brechts Karthago-Gleichnis sagen: Nach der ersten Krise waren die Universalgelehrten noch mächtig, nach der zweiten waren sie noch vorhanden, nach der dritten waren sie nicht mehr aufzufinden. Der Optimist könnte auf die allgemein kaum bestrittene Annahme verweisen, dass auch in Zukunft Gelehrte gebraucht werden, die sich in mehreren Wissensbereichen bewegen, um neue, überraschende Fragen zu formulieren; die sich im Transfer der Fragestellungen, Hypothesen und Methoden von einen Bereich in den anderen als Pioniere erweisen; und die Zusammenhänge herstellen, die der Spezialist nicht sehen kann. Wenn, ja wenn diese Aufgabe nicht von raffinierten Algorithmen übernommen wird. Doch um in dieser Frage weiterzukommen, müsste man – siehe oben – den durch die digitale Revolution ziemlich kompliziert gewordenen Status des Wissens ins Auge fassen. Für diese noch zu schreibende Kulturgeschichte eignen sich am ehesten diejenigen, die sich vom Vorgehen der Universalgelehrten das eine oder andere angeeignet haben.

  1. Johann von Wowern, De Polymathia Tractatio. Integri Operis de studiis Veterum, Hamburg 1603. Dort heißt es auf S. 16 f.: „Perfectam Polymathian intelligo [!], notitiam variarum rerum, ex omni genere studiorum collectam, latissime sese effundentem. Vagantur enim libero & effreni cursu per omnes disciplinarum campos, quatenus eas humanum ingenium indefessa industria adsequi potest.“
  2. Wilhelm Lange-Eichbaum, Genie – Irrsinn und Ruhm, München 1928, S. 101 f.
  3. Jorge Luis Borges, Die analytische Sprache John Wilkins‘, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 5.II: Essays 1952–1979, übers. von Karl August Horst, Curt Meyer-Clason und Gisbert Haefs, mit einem Nachw. von Michael Krüger, München 1981, S. 109–113, hier S. 112.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Digitalisierung Medien Sozialgeschichte Wissenschaft

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Michael Hagner

Michael Hagner studierte Medizin und Philosophie und ist seit 2003 Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Sein neues Buch "Foucaults Pendel und wir. Anlässlich einer Installation von Gerhard Richter" ist im März 2021 im Verlag der Buchhandlung Walther König erschienen.

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