Patrick Hönig | Rezension |

Die Logik der Exklusion

Rezension zu „The Crimmigrant Other. Migration and Penal Power“ von Katja Franko

Katja Franko:
The Crimmigrant Other. Migration and Penal Power
Großbritannien
Abingdon 2019: Routledge
S. 238, £ 120,00
ISBN 9781138545977

The Crimmigrant Other, die Figur der von der Gesellschaft abgespaltenen und als Gefahr für die öffentliche Sicherheit wahrgenommenen Migrant*in, verstört, weil sie unvereinbar ist mit dem Menschenbild, das der Genfer Flüchtlingskonvention zugrunde liegt, oder dem Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration. Sie passt nicht zu einer Migrationspolitik, die sich humanitären Prinzipien verpflichtet fühlt oder utilitaristischen Regeln folgt, das heißt Migrant*innen als wirtschaftliches, soziales oder kulturelles Kapital begreift. Warum also sollte man die diskursive Verknüpfung von Migration und kriminellem Milieu dadurch befördern, dass man die Figur der Krimigrant*in zum Gegenstand eines Buches macht? Die Antwort ist einfach: um sie analytisch in ihre menschenverachtenden Bestandteile zu zerlegen. Zu weit hat sich die rhetorische Verrohung bereits ausgebreitet. Der Begriff „Krimigranten“ ist ein Hashtag bei Twitter und Instagram und „crimmigration“ findet sich als Eintrag bei Wikionary, dem Online-Wörterbuch der Wiki-Familie.

Der analytischen Aufgabe stellt sich Katja Franko, Professorin im Fachbereich Kriminologie und Rechtssoziologie der juristischen Fakultät an der Universität zu Oslo. Seit vielen Jahren untersucht sie die Schnittstelle von Migration und Kriminologie. Die Ergebnisse ihrer Forschungen hat sie im vorliegenden Band zusammengetragen. Die Studie bricht mit den hierzulande üblichen Perspektiven. Denn allzu oft ist Deutschland der alleinige Referenzpunkt hiesiger Migrationsforschung. Franko legt den Fokus ihrer Untersuchung dagegen auf die Verhältnisse in Norwegen, ein Land, das zwar dem Schengen-Abkommen, aber weder der Europäischen noch der Währungsunion beigetreten ist. So ermöglicht sie den Leser*innen eine Binnensicht auf die rechtliche Ausgestaltung der Reisefreiheit in Europa und eine Außensicht auf die EU und Frontex, die europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache.

Im ersten Kapitel erläutert Franko die Mechanismen, die ihrer Meinung nach Migrant*innen zum Objekt staatlicher Gewalt machen. Im Einzelnen sind dies (1) die Erfassung der Migrant*in mit ihren biometrischen Merkmalen und biografischen Daten, wenn nötig auch gegen ihren Willen (S. 21−31); (2) die Zuschreibung eines Status, der nicht über ihre Schutzbedürftigkeit eine Aussage trifft, sondern über die Konformität ihres Aufenthaltes mit dem Gesetz (S. 31−40); und (3) ein wissenschaftlich verbrämtes und medial befeuertes Spektakel zur sozialen Produktion der Krimigrant*in, die abgeschoben werden muss, weil sie sich nicht an Recht und Gesetz hält (S. 40−50). In den Kapiteln 2 bis 4 liefert Franko Material, das die von ihr behauptete Übertragung pönalisierender Muster auf das Migrationsrecht belegen soll. Unter Rückgriff auf Interviews, die sie in Norwegen mit politischen und behördlichen Entscheidungsträger*innen führte, schildert sie, allerdings sehr knapp, den Polizeialltag (S. 62−67), sie erläutert die Praxis der Abschiebehaft (S. 6773) und beschreibt den sich immer wieder Bahn brechenden Rassismus, Stichwort: racial profiling (S. 80−83). Die üblichen Verdächtigen, glaubt sie, werden so lange durchleuchtet, bis man ihnen einen Gesetzesverstoß nachweisen kann (S. 94−98). Auch die verschiedenen Maßnahmen zur Kontrolle der Außengrenzen werden nach Ansicht der Autorin zunehmend von einer Verbrechensrhetorik gerahmt: Man rede über die Machenschaften der Menschenhändler und Schmuggler, um die Not der Schutzsuchenden nicht an sich heranlassen zu müssen (S. 136−142). Nicht immer aber gelinge es den an einer Abschiebung beteiligten Beamt*innen, die Härte ihrer Einsätze vor sich selbst zu rechtfertigen, was ernste Gewissenskonflikte zur Folge habe (S. 152−160). Im letzten Kapitel schließlich gibt Franko einen düsteren Ausblick auf die möglichen gesellschaftlichen Folgen der Krimigration. Die Beschwörung der Gefahren, die angeblich durch die Aufnahme Geflüchteter entstünden, könne zu einer Selbstermächtigung der Exekutive führen, wie man dies sonst nur aus Kriegszeiten kenne – auf Kosten des Rechtsstaats und der Demokratie (S. 176). Folgt man dieser Argumentation, bedroht eine Politik, die Schutzsuchende systematisch ausgrenzt, den Bestand des Gesellschaftsvertrags insgesamt.

Zur Untermauerung ihrer Thesen macht Franko die in den USA zur New Penology entstandenen Arbeiten für den europäischen Migrationsdiskurs fruchtbar. Das erscheint insofern plausibel, als die Synthese von criminal und immigration aus den USA stammt. Der Begriff der Crimmigration tauchte dort Mitte der 2000er-Jahre auf, als traditionell einwanderungsfreundliche Grundpositionen aufgegeben wurden und der US-Kongress damit begann, den migrationspolitischen Kurs mithilfe des Strafrechts zu ändern.[1] Am Werk waren dieselben politischen Kräfte, die schon in den 1990er-Jahren die New Penology begründet hatten, eine Denkschule, die das Konzept der Resozialisation von Straftätern für gescheitert hält und stattdessen auf Kontrolle, Verwahrung und Ausgrenzung setzt.[2] Die New Penology ist auch in Europa nicht ohne Einfluss geblieben. Zunehmend wird der Resozialisierungsgedanke durch eine Lust am Strafen ersetzt.[3] Franko zeigt, dass die Logik der New Penology nicht nur im neoliberal entkernten Staat funktioniert, sondern auch in Gesellschaften, die stärker wohlfahrtsstaatlich ausgerichtet sind. Die Sprachbilder, die sie in ihren Interviews mit Polizist*innen und Verwaltungsangestellten gesammelt hat, treffen die Leser*innen mit Wucht. Da ist die Rede vom Sozialstaat als „Honigtopf“, aus dem jede*r sich nach Lust und Laune bedienen könne; einen Mitarbeiter des Justizministeriums zitiert Franko mit der Aussage, bei all dem Geld, das im Umlauf sei, lohnten sich Verbrechen in Norwegen mehr als anderswo (S. 105). In solchen Aussagen kommt etwas zum Vorschein, das Zygmunt Baumann „moralische Panik“ nennt, die „Angst, dass ein Übel das Wohl der Gesellschaft bedroht“.[4]

Außerdem macht Frankos Buch deutlich, dass die Kriminalisierung unkontrollierter Mobilität ein Schlüssel ist zum Verständnis der Gewalt, die Geflüchtete in den Aufnahmeländern erfahren. Diese Gewalt äußert sich nicht nur in der Ausübung körperlichen Zwangs, sondern auch in der Schaffung von Strukturen, die es Behörden ermöglichen, konkrete Gefahren für Leib und Leben zu ignorieren. Die Folgen der Weigerung, politische Verantwortung für humanitäre Notlagen zu übernehmen, sind jeden Tag im Mittelmeer zu beobachten, sie zeigen sich aber auch im nationalen Kontext. Deutsche Behörden etwa halten auch während der COVID-19-Pandemie an der Unterbringung von Asylbewerber*innen in Sammelunterkünften fest, obwohl sich ein tragfähiges Hygienekonzept dort nicht realisieren lässt. Wenn es dann zu Infektionen kommt und die Bewohner*innen sich an die verhängte Quarantäne nicht halten, heißt es von Behördenseite, es gebe „Klienten, die gewisse Mittel brauchen, um sich wohlzufühlen“,[5] eine Anspielung auf Beschaffungskriminalität. So werden Menschen, die sich aus berechtigter Sorge um ihre Gesundheit von einem behördlich verschuldeten Infektionsherd entfernen, kriminelle Motive unterstellt.

Bei aller politischen Relevanz bleibt das Buch aber eine mit heißer Nadel gestrickte Momentaufnahme. Manches Zitat amtierender Staats- und Regierungschefs wird schon bald nicht mehr als eine historische Fußnote sein und gelegentlich geraten Formulierungen im Bemühen um Pointierung allzu plakativ. Erkenntnisgewinne entstehen nicht, indem Vorurteile wiederholt werden; Franko erliegt der Versuchung jedoch ein ums andere Mal. Weiterhin erschließt sich das Argumentationsmuster der Autorin aus den Kapitelüberschriften nur bedingt und wie die Verschiebung des Diskurses politische Realitäten entstehen lässt, bleibt ebenfalls im Dunkeln. Ausführungen zur Krimigrationspraxis in einzelnen europäischen Ländern wechseln sich oft unvermittelt mit einer Analyse der EU-Migrationspolitik ab, was die Leser*innen zuweilen verwirren mag. Auch geht die Beschreibung des Ist-Zustands norwegischer und europäischer Migrationspolitik auf Kosten der Analyse. So hätte man sich eine Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Arbeiten zu kognitiven Deutungsrahmen und ihrer Entstehung gewünscht, denn auf Fakten beruhen Parolen wie „Das Boot ist voll“ nachweislich nicht.[6] Auch zur Geschichte des Begriffs der „Krimigration“ findet sich im Buch nichts, obwohl sich die US-amerikanischen Verhältnisse von den europäischen durchaus unterscheiden.

Trotz der genannten Defizite erklärt das Buch überzeugend, was mit einer Zusammenführung der Diskurse über Migration und Kriminalität bezweckt wird, nämlich der Erhalt von Privilegien für eine über Nationalität bestimmte Gruppe, die auf Basis einer Idee universeller Gerechtigkeit nicht zu rechtfertigen wären. Gleich zu Beginn des Buches, in der Danksagung, erfährt die Leserin, dass Franko die Ungleichbehandlung, über die sie schreibt, am eigenen Leib erfahren hat. Als sie zu ihrem Mann nach Norwegen zog, wurde ihr schlagartig klar, was es heißt, von der Entscheidung einer Behörde abhängig zu sein. Während die Norweger*innen, die einen Pass beantragen oder abholen wollten, in einem hellen Raum, ausgestattet mit einem künstlichen Wasserfall, Platz nahmen, ließ man sie und ihren Mann stundenlang auf einem dunklen Flur sitzen, um dann die Schutzwürdigkeit ihrer Ehe in einer peniblen Befragung festzustellen. Der Kontrast habe ihre „soziologische Neugier“ geweckt, schreibt die Autorin. Dies ist ein Glücksfall für die Leserschaft auch hierzulande, denn ihre Arbeit stellt zur Erschließung juristischen Neulands eine empirische Grundlage bereit.

  1. Juliet Stumpf, The Crimmigration Crisis. Immigrants, Crime, and Sovereign Power, in: American University Law Review 56 (2006), 2, S. 367−419, hier S. 376 f.
  2. Vgl. kritisch dazu Malcolm M. Feeley / Jonathan Simon, The New Penology. Notes on the Emerging Strategy of Corrections and its Implications, in: Criminology 30 (1992), 4, S. 449−474.
  3. Franziska Dübgen, Theorien der Strafe zur Einführung, Hamburg 2016; Didier Fassin, Der Wille zum Strafen, übers. von Christine Pries, Berlin 2018.
  4. Zygmunt Baumann, Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, übers. von Michael Bischoff, Berlin 2018, S. 7.
  5. Antje Hildebrandt, Die Angst vor dem Coronavirus in Asylbewerberheimen [20.7.2020], in: Cicero, 20.3.2020.
  6. Elisabeth Wehling, Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, Berlin 2019, S. 167−179.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Sicherheit Rassismus / Diskriminierung Migration / Flucht / Integration

Patrick Hönig

Dr. Patrick Hönig, LL.M., hat in Köln, Paris und New York Rechtswissenschaften studiert. Die Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit liegen in den Bereichen der Konfliktforschung und der Menschenrechte. Derzeit arbeitet er für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur an einem Forschungsprojekt zur erzwungenen Migration in der Region der Großen Seen Afrikas.

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Empfehlungen

Florian Wagner

Ausnahmezustand oder Agency?

Rezension zu „Praktiken der (Im-)Mobilisierung. Lager, Sammelunterkünfte und Ankerzentren im Kontext von Asylregimen“ von Julia Devlin, Tanja Evers und Simon Goebel (Hg.)

Artikel lesen

Ludger Pries

Weder Bilanz noch Vorschlag

Rezension zu „Die Asyllotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg“ von Ruud Koopmans

Artikel lesen

Mechthild Bereswill

Schluss mit „Das war eben damals so“

Rezension zu „Rassismus begreifen. Vom Trümmerhaufen der Geschichte zu neuen Wegen“ von Susan Arndt

Artikel lesen

Newsletter