Stefan Kühl | Essay |

Die „Verorganisierung“ des Islamismus

Was man aus der Bewegungsforschung über den Islamischen Staat lernen kann

Die[1] Selbstbezeichnung „Islamischer Staat“, die sich die Islamisten in Syrien und im Irak gegeben haben, prägt die aktuelle Diskussion. Alle Welt schaut auf ein dschihadistisches Staatsbildungsprojekt, dessen Werte auch für Islamisten aus anderen Teilen der Welt interessant zu sein scheinen, sodass sich auch Muslime außerhalb Syriens und des Irak radikalisieren. Bei der Diskussion über die Staatlichkeit des Dschihadismus wird jedoch ein Aspekt übersehen, der für die Bekämpfung des islamistischen Terrors in Europa zentraler ist: Die zunehmende „Verorganisierung“ der islamistischen Bewegung.

Der Islamismus als typische soziale Bewegung

Aus soziologischer Perspektive ist der Islamismus zunächst einmal nichts anderes als ein typischer Fall einer sozialen Bewegung.[2] Politische wie religiöse Gruppierungen orientieren sich an Werten, die sich zur Mobilisierung von Bevölkerungsteilen eignen. Mal sind das Ideale wie Frieden, Umweltschutz oder Gleichberechtigung; es können aber auch Werte wie Rassenreinheit, nationale Identität oder die weltweite Durchsetzung des „wahren“ islamischen oder auch christlichen Glaubens zugrunde liegen.[3]

Im Gegensatz zu Organisationen machen Bewegungen es den Beobachtern schwer, den Kreis ihrer Mitglieder genau zu definieren. Während in Verwaltungen, Unternehmen oder Armeen leicht zu erkennen ist, wer dort Mitglied ist, kann bei der Friedensbewegung, der Frauenbewegung, der evangelikalen Bewegung oder eben der islamistischen Bewegung schwerer bestimmt werden, wer dazugehört und wer nicht. Man kann zwar grob zwischen Aktivisten und Sympathisanten unterscheiden, aber es ist nicht nur für Sicherheitskräfte, sondern oft auch für die jeweilige Bewegung selbst nur schwer zu sagen, wo genau die Grenze zwischen diesen beiden Gruppen verläuft.[4]

Die mobilisierenden Werte allein erzeugen noch keine starke Bindung; diese entsteht in Bewegungen oftmals erst, wenn sich Gruppen durch persönliche Kontakte bilden. Wir wissen aus Studien über die Friedensbewegung, wie wichtig solche häufig durch die „gemeinsame Sache“ initiierten Freundeskreise waren, um eine hohe Sichtbarkeit der jeweiligen Bewegung zu erreichen. Die Rote-Armee-Fraktion – darauf hat der Soziologe Friedhelm Neidhardt hingewiesen – muss maßgeblich auch als eine aus Paaren und Freundeskreise zusammengesetzte Gruppe verstanden werden, die sich, anders als die Studentenbewegung selbst, politisch radikalisierte.[5] Und auch bei einer ganzen Reihe islamistischer Terroranschläge ist deutlich geworden, wie stark die Umsetzung von Aufträgen, die ja im Fall von Selbstmordattentaten mit weitgehenden Folgen für die weitere Lebensplanung der Attentäter verbunden sind, von persönlich und familiär verdichteter Erwartungsbildung abhängt.[6]

Aus dieser Perspektive mögen sich die islamistische Bewegung, die Bewegung der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ oder auch die sowohl gegen den Islamismus als auch gegen Pegida protestierende antirassistische Bewegung in ihren Ideologien voneinander unterscheiden, von ihrer Struktur her sind sie sich nicht unähnlich. Wenn in Köln die mit rechtsextremen Parteien wie der NPD oder Pro NRW verbundenen Hooligans auf gewaltbereite Islamisten treffen und gleichzeitig antirassistische Initiativen zu Gegendemonstrationen aufrufen, dann beziehen alle drei Bewegungen ihre Identität in einem hohen Maße aus der gegenseitigen Abneigung. Aber in der Art und Weise, wie sie diese für ihre Sache mobilisieren, wie sie Konflikte inszenieren und wie sie Proteste organisieren, unterscheiden sie sich nicht grundlegend.

Welche Erkenntnisse kann man gewinnen, wenn man den Islamismus als soziale Bewegung begreift?

Effekte der Organisationsbildung

Ähnlich wie bei anderen Bewegungen kann man auch bei der islamistischen Bewegung eine zunehmende „Verorganisierung“ beobachten.[7] Der erste Schritt in diese Richtung wurde durch externe militärische oder finanzielle Unterstützung erforderlich. Für die Lieferung von Waffen und Geld braucht man Adressen, und darüber verfügen nur Organisationen. Man konnte eine solche „Verorganisierung“ in Afghanistan beobachten, als die USA während des sowjetisch-afghanischen Krieges (1979–1989) Islamisten militärisch unterstützten und so letztlich die Ausgestaltung der Al-Qaida-Organisation beförderten. Ähnliches geschieht jetzt auch im Fall der islamistischen Bewegung, die allein schon deswegen eine Organisation braucht, um die Geldzahlungen aus Saudi-Arabien und Katar sowie aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und Kuwait empfangen und verteilen zu können.[8] Ein typischer Fall einer „Kontaktinfektion“, wie man sie auch in Asien, Afrika und Lateinamerika beobachten kann – nämlich wenn Organisationen sich bilden, weil Entwicklungshilfe eine Adresse finden soll.[9]

Die zweite Entwicklung, die die Ausbildung von Organisationen befördert, ist die Konkurrenz innerhalb der Bewegungen. So führten in der 68er-Bewegung Flügelkämpfe zur Entstehung immer neuer kommunistischer Splitterorganisationen, die sich im Lauf der Auseinandersetzungen stabilisierten. Entsprechend kann man bei den Auseinandersetzungen in Syrien oder Afghanistan beobachten, dass der Konflikt zwischen Al-Qaida und dem IS die Organisationsbildung in der islamistischen Bewegung erheblich befördert. Schließlich müssen sich Aktivisten und Sympathisanten dazu bekennen, welchem Flügel der Bewegung sie sich zugehörig fühlen, und diese Flügel fangen dann an, Mitgliederverzeichnisse anzulegen.

Der dritte Faktor, der die Ausbildung einer islamistischen Organisation vorantreibt, ist der Kontakt der eher in kleinen Grüppchen organisierten europäischen Islamisten mit einer schlagkräftigen Organisation im Irak. Wir wissen inzwischen, dass ehemalige Offiziere des irakischen Geheimdienstes und der Streitkräfte sowie ehemalige Funktionäre der Baath-Partei Saddam Husseins das Rückgrat des IS bilden. Nachdem die von den USA geführten Truppen nach dem Sturz von Saddam Hussein die bestehenden staatlichen Strukturen im Irak zerschlagen hatten, nutzten die ehemaligen Profiteure des irakischen Regimes den Islamismus, um ihren Widerstand zu formieren. Dank seiner Erfahrungen in Parteiarbeit, Verwaltung und Armee war dieser Personenkreis sehr schnell in der Lage, eine handlungsfähige Organisation aufzubauen, in die Rekruten aus anderen Ländern integriert werden konnten.

Das vierte – und im Fall der islamistischen Bewegung zentrale – Motiv für die Organisationsbildung war die anstehende Gründung eines islamistischen Protostaates in Ostsyrien und im West-Irak.[10] Auch wenn es der Ideologie von Bewegungen widerspricht, können Staaten nicht ohne Organisationen auskommen. In dem vom IS kontrollierten Gebiet haben sich deshalb schnell eigene Organisationen für die innere Sicherheit, für die Rechtsprechung, für die soziale Hilfe und für die Erziehung konstituiert. Es ist bereits von deutlich erkennbaren Bürokratisierungseffekten in dem vom IS kontrollierten Gebiet die Rede.[11]

Die ungewollten Nebenfolgen der Organisationsbildung

Inzwischen kann man erste ungewollte Nebenfolgen der Organisationswerdung beobachten. Der Zweck der Vereinigung – die Durchsetzung des Islams mit Hilfe des Dschihad – hat allein nicht mehr genug Strahlkraft, um Nachwuchs zu rekrutieren. Obschon die Propaganda-Videos des IS immer noch die Aufopferung für die islamische Sache in den Mittelpunkt stellen, scheinen für die IS-Rekruten inzwischen andere Motive immer wichtiger zu werden. Und die Anführer kommen ihnen entgegen: Das Bedürfnis nach Action muss nicht mehr durch die bei vielen IS-Kämpfern beliebten Videospiele befriedigt werden, man kann nun auch mit Pick-ups durch die Straßen fahren und sich bei der Folterung von vermeintlich Ungläubigen selbst verwirklichen. Den IS-Kämpfern werden Wohnungen, Bezahlung und Frauen in Aussicht gestellt.[12] Mit dem Islam hat das nicht mehr viel zu tun, gleichwohl müssen Bewegungsorganisationen solche Gegensätze zwischen den eigenen Zwecken und den Motiven ihrer Mitglieder dulden, häufig sogar fördern.

Man kann das Changieren zwischen Bewegung, Organisation und Gruppe als eine Stärke des Islamismus sehen. Meine These ist freilich eine andere: Der Islamismus gerät immer mehr in das vom Soziologen Friedhelm Neidhardt herausgearbeitete Dilemma sozialer Bewegungen. Entwickelt er sich nicht zu einer Organisation, läuft er Gefahr, zersplittert oder überrollt zu werden, weil sich besetzte Gebiete in der Form einer Bewegung nicht halten lassen.[13] Werden Bewegungen jedoch immer organisationsförmiger, verlieren sie nicht nur die für ihre Mitglieder ursprünglich attraktive Eigenart, sondern sie lassen sich auch vergleichsweise gut bekämpfen. Schließlich haben sie eine ‒ wenn auch nicht immer leicht feststellbare ‒ Adresse.

Dieser Beitrag ist Teil eines Soziopolis-Schwerpunkts zum Thema "[3][39]=39tschwerpunktterrorismus" target="_blank">Terrorismus". Weitere Texte erscheinen in Kürze.

  1. Eine Kurzfassung dieses Textes ist unter dem Titel „Terror mit Adresse“ in der Süddeutschen Zeitung vom 24.11.2015 erschienen.
  2. Dieses Essay ist Teil eines größeren Forschungsvorhabens zum Formenwechsel und der Verknüpfung zwischen Gruppen, Organisationen, Bewegungen und Familien. Ich danke meinen Bielefelder Kollegen Tobias Hauffe, Thomas Hoebel, Tabea Koepp und Barbara Kuchler für die Kommentierung einer früheren Fassung dieses Textes. Er kann in Kürze im Webforum sozialtheoristen.de direkt kommentiert und diskutiert werden.
  3. Die Feststellung von Strukturgleichheit bei Bewegungen mag außerhalb der Soziologie provokant wirken, weil sich Bewegungen in ihrer Identität häufig ja gerade durch den Konflikt mit anderen Bewegungen stabilisieren. Für mich ist die wissenschaftliche Gleichbehandlung von Bewegungen unabhängig von ihrer Wertausrichtung notwendig, um die Differenz zwischen Selbstbeschreibungen von Bewegungen und Fremdbeschreibungen von Bewegungen durch die Wissenschaft aufrechtzuerhalten.
  4. Zu dieser Bestimmung von Bewegung – nicht wie bei Niklas Luhmann anhand der Protestkommunikation, sondern der Wertkommunikation ‒ siehe Friedhelm Neidhardt, Einige Ideen zu einer allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen, in: Stefan Hradil (Hrsg.), Sozialstruktur im Umbruch, Opladen 1985, S. 193–204; und Stefan Kühl, Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen. Zur Soziologie mitgliedschaftsbasierter sozialer Systeme zwischen Interaktion und Gesellschaft, in: Bettina Heintz / Hartmann Tyrell (Hrsg.), Interaktion ‒ Organisation ‒ Gesellschaft revisited. Sonderband der Zeitschrift für Soziologie, Stuttgart 2015, S. 65–85. Eine Diskussion über die Konsequenzen der Fokussierung von Wertkommunikation steht in der Bewegungsforschung noch aus. Ein Vorteil der Umstellung ist, dass sich religiöse und politische Bewegungen über die gleiche Kommunikationsform erfassen lassen.
  5. Siehe für dieses Argument früh schon Renate Mayntz / Rolf Ziegler, Soziologie der Organisation, in: René König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 9, 2. Aufl. Stuttgart 1977, S. 1–141, hier S. 34, und Otthein Rammstedt, Soziale Bewegung, Frankfurt am Main 1978, S. 134.
  6. Friedhelm Neidhardt, Soziale Bedingungen terroristischen Handelns, in: Wanda von Baeyer-Katte (Hrsg.), Gruppenprozesse. Analysen des Terrorismus, Opladen 1982, S. 318–393.
  7. Für eine Diskussion des Verhältnisses zwischen kleinen und großen Systemen aus der Perspektive der relationalen Soziologie siehe John Levi Martin / Monica Lee, Wie entstehen große soziale Strukturen?, in: Jan Fuhse / Sophie Mützel (Hrsg.), Relationale Soziologie. Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, S. 117–136. Den Hinweis verdanke ich Thomas Hoebel. Einschlägig zu Strukturbegrenzung kleiner Systeme siehe Hans Geser, Kleine Sozialsysteme: Strukturmerkmale und Leistungskapazitäten. Versuch einer theoretischen Integration, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32 (1980), S. 205–239.
  8. Diese „Verorganisierung“ von sozialen Bewegungen ist besonders durch den Resource Mobilization Approach in der Bewegungsforschung thematisiert worden. Siehe Gerald F. Davis et al. (Hrsg.), Social Movements and Organization Theory, Cambridge / New York 2005. Aber die Grundlagen zu diesen Überlegungen findet man schon bei Moissei Jakowlewitsch Ostrogorski, Democracy and the Organization of Political Parties, London 1902; und Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1911.
  9. Zum soziologischen Konzept der Adressierbarkeit siehe beispielhaft Rudolf Stichweh, Adresse und Lokalisierung in einem globalen Kommunikationssystem, in: Ders. (Hrsg.), Weltgesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 220–231; oder Veronika Tacke, Netzwerk und Adresse, in: Soziale Systeme 6, S. 291–320.
  10. Siehe dazu Stefan Kühl, Organizations in World Society. On the Role of Foreign Aid in the Diffusion of Organizations, in: Boris Holzer / Fatima Kastner / Tobias Werron (Hrsg.), From Globalization to World Society, London 2015, S. 258–278.
  11. Siehe zur Ausbildung islamistischer Protostaaten den Überblick bei Brynjar Lia, Understanding Jihadi Proto-States, in: Perspectives on Terrorism 9 (2015), 4, S. 31–41.
  12. Siehe Michael Weiss / Hassan Hassan, ISIS. Inside the Army of Terror, New York 2015.
  13. Zu solchen Zweck-Motiv-Trennungen in Gewaltorganisationen siehe Stefan Kühl, Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014.
  14. Siehe dazu Friedhelm Neidhardt, Einige Ideen zu einer allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen, S. 202.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Christina Müller.

Kategorien: Gewalt

Stefan Kühl

Professor Dr. Stefan Kühl ist Soziologe und Historiker. Er ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und arbeitet als Organisationsberater der Firma Metaplan für Unternehmen, Verwaltungen, Ministerien und Nichtregierungsorganisationen.

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