Hermann-Josef Große Kracht | Rezension |

Eine andere, bäuerliche Welt ist möglich!

Rezension zu „Ökonomien der Gabe. Frühsozialismus, Katholische Soziallehre und Solidarisches Wirtschaften“ von Andreas Exner

Andreas Exner:
Ökonomien der Gabe. Frühsozialismus, Katholische Soziallehre und Solidarisches Wirtschaften
Österreich / Deutschland
Wien / Berlin 2021: Mandelbaum
557 S., 29,00 EUR
ISBN 978-3-85476-895-1

Die Notwendigkeit einer tiefgreifenden sozial-ökologischen Transformation findet angesichts von Klimawandel, Ressourcenknappheit und Artensterben immer mehr Fürsprecher. Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaftsweise werden intensiv erörtert, etwa in den Debatten um Degrowth, Commons und Nachhaltigkeit. Dabei geht es nicht zuletzt auch um die Frage nach den moralischen Quellen eines solchen fundamentalen Wandels.

Hier setzt das mit großem Aplomb und missionarischem Anspruch auftretende Buch von Andreas Exner an, dessen Abfassung mit einem Schasching-Fellowship der Katholischen Sozialakademie Österreichs gefördert wurde. Exner, seines Zeichens Öko-Aktivist, Politikwissenschaftler und gegenwärtig operativer Leiter des Zentrums für nachhaltige Gesellschaftstransformation der Universität Graz, tritt sehr dezidiert auf: Wirtschaftswachstum und Kapitalverwertungsinteressen, Märkte und Lohnarbeitsverhältnisse, all das müsse überwunden werden. Soviel Radikalität wird längst nicht allen gefallen, aber auch jene, die Exner nicht folgen können oder wollen, sollten das Buch nicht gleich zur Seite legen. Denn Exner hat ein enorm kenntnisreiches Werk vorgelegt, voller Anregungen und gespickt mit einer Vielzahl historisch-systematischer Erörterungen und Vergewisserungen. Exner schlägt wichtige Schneisen in unübersichtliche ideengeschichtliche Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und lässt höchst unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen. Die Liste der behandelten Autoren reicht von Otto Bauer, Franz Oppenheimer, Karl Polanyi, und Marcel Mauss bis hin zu William Connolly, Raimon Panikkar und dem Sufi-Gelehrten Mahmoud Mohamed Taha. Das Buch bietet differenzierte Einblicke in das globale Genossenschaftswesen und präsentiert seine Erkenntnisse in einer klaren und wunderbar gut zu lesenden Sprache, die die Beschäftigung mit diesem Buch zu einem echten Genuss werden lässt.

Exner erzählt uns eine apodiktische Geschichte: Es habe in der Vergangenheit einmal eine gute und dem Menschen gemäße Arbeits- und Sozialform gegeben, die in der europäischen Moderne weitgehend, wenn auch nicht vollständig, unter die Räder geraten sei: die bäuerliche Wirtschaftsweise. Diese gründe sich auf Subsistenz und Suffizienz, auf Reziprozität und soziale Gemeinschaft, während Märkte nur eine untergeordnete Rolle spielten. In ihr gehe es um die Autonomie der Produktion ohne abhängige Lohnarbeit und ohne Akkumulationsmotive, um Gemeingüter statt Privateigentum, um eine „Welt der limitierten Güter“ (S. 90) mit dem Ziel des Selbsterhalts, ohne wachsende materielle und kulturelle Bedarfe. Seit langer Zeit aber stehe diese bäuerliche Wirtschaftsweise unter der Hegemonie ihrer großen Feindin, der kapitalistischen Wirtschaftsform. Diese nötige die Menschen dazu, möglichst viele Waren zu konsumieren, möglichst viel Erwerbsarbeit zu leisten und ihr Erspartes im Interesse höchstmöglicher Gewinne anzulegen. Das aber führe zum ungehemmten Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Menschheit, zur Fremdbestimmung und zu permanenten Finanzmarktkrisen. Deshalb müsse diese Wirtschaftsweise heute ebenso dringend wie vollständig ersetzt werden durch eine Produktionsweise, die wieder von sozialen Beziehungen ausgeht und „nicht von Waren und Märkten, Preisen, Angebot und Nachfrage, Löhnen und Gewinnen; nicht von rationaler Wahl, Normen und Institutionen; nicht von Klassenkampf, Kapital und Staat“ (S. 233). Und so endet Exners große Rettungs- und Erlösungsgeschichte mit dem Ruf nach einer Rückkehr zur „Welt der limitierten Güter in den verfallen geglaubten Gehöften und Einfriedungen der bäuerlichen Wirtschaftsweise“ (S. 442).

Einen großen Teil seines Buches widmet Exner einer gründlichen Bestandsaufnahme heutiger Formen eines bäuerlichen Antikapitalismus, die er auf den in den 1980er-Jahren von dem chilenischen Philosophen Luis Razeto Migliaro geprägten Begriff einer „Solidarischen Ökonomie“ (economía solidaria) bringt. Man erfährt hier viel über alternative Arbeits- und Wirtschaftsweisen in der Landwirtschaft, über Genossenschafts- und Selbstverwaltungsbewegungen in Brasilien, Barcelona und dem Baskenland, über die 1991 gegründete internationale Bauernorganisation La Vía Campesina und noch etliches mehr. Exners besondere Sympathie gilt dabei der mexikanischen Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN), die am Neujahrstag 1994 mit einem bewaffneten Aufstand und der Ansage „Eine andere Welt ist möglich!“ auf die Bühne der Weltöffentlichkeit trat und heute in bestimmten Teilen des Bundesstaates Chiapas eine autonome soziale Infrastruktur in den Feldern von Arbeit und Produktion, Bildung und Gesundheit, Justiz und öffentlicher Gewalt trägt und verwaltet.

Hinter all diesen Bewegungen stünden, so Exner, die erstmals prominent von Marcel Mauss erforschten „Praktiken der Gabe“ (S. 15), die sich durch die vier Modalitäten des nützlichen Eigeninteresses, der sinnlichen Freude, der moralischen Verpflichtung und der unkalkulierbaren Spontaneität auszeichneten. Exner geht aber über Mauss deutlich hinaus, denn während dieser die Notwendigkeit von Märkten durchaus anerkannte (vgl. S. 240), fordert jener den bedingungslosen Bruch mit dem Bestehenden: Internationale Institutionen und Willensbildungsprozesse auf UN- und EU-Ebene, nationale Regierungen und staatliche Administrationen aller Art, politische Parteien und etablierte Öffentlichkeiten, Gewerkschaften und Unternehmerverbände – ihnen allen traut Exner schlechterdings nichts zu. Selbiges gilt auch für die allermeisten NGOs, die ihm zu politiknah agieren. Soziale Bewegungen und Initiativen wie Attac, Occupy oder Fridays for Future kommen bei ihm nicht vor. Kein Wunder, ermöglichen doch Finanzmarktregulierungen oder eine deutliche Reduzierung von CO2-Emissionen noch lange nicht den von ihm geforderten grundlegenden Systemwechsel. Mit Exner müsste man in Anlehnung an Che Guevara wohl die Parole ausgeben: „Schaffen wir zwei, drei, viele Gehöfte und Einfriedungen“.

Exner geht es aber nicht primär um bereits bestehende Erneuerungsbewegungen zur Durchsetzung einer antikapitalistischen, agrarisch-handwerklichen Wirtschaftsweise. Wesentlich wichtiger ist ihm die Suche nach den moralischen Traditionen, die solche Aufbrüche inspiriert haben und auch in Zukunft noch kraftvoll inspirieren könnten. Und hier wartet er mit einer geradezu verwegenen These auf: Die katholische Kirche sei ein großer „Zufluss der Solidarischen Ökonomie“ (S. 295), da sie „in ihrer Soziallehre das bäuerliche Ethos des Mittelalters aufbewahrt“ (S. 295 f.) und „die moralische Ökonomie der bäuerlichen Wirtschaftsweise kanonisiert“ (S. 224) habe. So habe die seit dem späten 19. Jahrhundert in den verschiedenen Sozialenzykliken der Päpste – von Rerum novarum (Leo XIII.; 1891) bis Laudato Si' (Franziskus; 2015) – ausgearbeitete katholische Soziallehre nicht zuletzt „das frühsozialistische Moment einer umfassenden gesellschaftlichen Transformation aufbewahrt und aktualisiert“ (S. 45). Zudem sei sie „stark vom humanistischen Sozialismus beeinflusst“ (S. 26) und habe vor allem „die ethischen und politischen Aspekte der Gabe als Grundlage Solidarischer Ökonomien im Verlauf der Jahrzehnte ihrer Entwicklung ausformuliert“ (S. 16). In diesem Rahmen habe sie „die Genossenschaftsbewegung inspiriert, die Menschenrechte geprägt, den fairen Handel vorbereitet, die neuen Alternativökonomien vorangetrieben und die Globalisierungskritik mit angestoßen“ (S. 26). Vor diesem Hintergrund ist Exner überzeugt: Zusammen mit der von Marcel Mauss entwickelten „säkularen Theorie der Gabe“ kann die katholische Soziallehre „eine Perspektive auf eine alternative Moderne“ freilegen, die in der Lage ist, „an die Stelle der Großen Erzählung der Moderne [zu] treten, die heute vor unseren Augen scheitert“ (S. 27).

Auf eine solche Interpretation der katholischen Soziallehre und ihres Transformationspotenzials ist vor Exner noch niemand gekommen – und das nicht ohne Grund, denn sie ist mehr Wille und Vorstellung als Realität. Auch Exner kann seine Deutung nicht mit einschlägigen Zitaten oder aussagekräftigen Belegen stützen. Dass die Welt einmal an der katholischen Soziallehre genesen könnte und diese zur geistigen Grundlage der alternativen Großerzählung einer sozial-ökologisch transformierten Welt der Menschenwürde, der Nachhaltigkeit und der Gerechtigkeit avanciert, wird selbst der hoffnungsfrohe Papst Franziskus nicht für möglich halten. Ohne Frage verfügt die katholische Soziallehre über eine hohe antikapitalistische Strahlkraft und über echte Schnittstellen mit humanistischen Sozialismen; die Genossenschaftsbewegung und die Menschenrechte sind in weiten Bereichen aber nicht im Einklang mit ihr, sondern im Gegensatz zu ihr entstanden. Vor allem aber lässt sie sich normativ keineswegs auf eine agrarisch-vorindustrielle Wirtschaftsweise verpflichten. Im Gegenteil: Sie ist ganz und gar ein Kind der industriekapitalistischen Moderne und hat mit einer bäuerlichen Wirtschaftsweise und limitierten Gütern nichts am Hut.

Exner legt zur katholischen Soziallehre ein langes, kontextuell sehr differenziert angelegtes Kapitel vor (S. 49–221), das Maßstäbe setzt. Vergleichbares ist andernorts meines Wissens nicht zu finden. Die in dieses Kapitel eingebetteten Ausführungen zum Frühsozialismus (S. 77–83) bleiben allerdings enttäuschend knapp. Über Charles Fourier, Louis Blanc oder Robert Owen erfährt man fast nichts. Pierre Leroux, der wohl am stärksten christlich geprägte Frühsozialist, wird gar nicht erst erwähnt. Und dass sich im Frühsozialismus „die Romantik mit dem bäuerlichen Milieu und seiner Rationalität der limitierten Güter“ (S. 151) verbunden habe, wird man bezweifeln dürfen. Schließlich gehörten die französischen Bauern, wie Exner selbst einräumt (vgl. S. 126), nie zu den Trägerschichten sozialer Revolutionen. Diese gingen eher von städtischen Unterschichten aus, die politisch-soziale Anspruchs- und Teilhaberechte einforderten und an limitierten Gütern herzlich wenig Interesse hatten.

Auch die katholische Soziallehre distanzierte sich schon früh von den antimodernistischen Attitüden der Romantik und deren Mittelalter-Idealen, um eine moderne Kapitalismuskritik auf dem Boden der Industriegesellschaft zu entwickeln. Das Institut der Lohnarbeit wurde dabei ebenso wie das Recht auf Privateigentum schon in der Enzyklika Rerum novarum anerkannt; und Quadragesimo anno (Pius XI.; 1931) verurteilte zwar die Klassengesellschaft als sozial ungerecht, erkannte aber die moderne, auf Kapital- und Technikeinsatz beruhende kapitalistische Wirtschaftsweise ausdrücklich als legitim und notwendig an. Nur sollte die von ihr hervorgebrachte neue Güterfülle eben nicht den Kapitalbesitzern, sondern vor allem der Lohnarbeiterschaft zufließen. Nostalgische Schwärmereien über eine wie auch immer geartete ,gute alte Zeit‘ finden sich in den Texten der päpstlichen Sozialverkündigung jedenfalls nur selten.

Zuzustimmen ist Exner jedoch, wenn er betont, dass die katholische Soziallehre „im Verlauf von etwas mehr als einem Jahrhundert von einer Bastion des Privateigentums zu einer Avantgarde der Kapitalismuskritik geworden“ (S. 194) sei. Zumindest Papst Franziskus wird man als einen aufrechten Antikapitalisten betrachten dürfen, wobei aber auch er nicht einzig auf bäuerliche Wirtschaftsweisen und limitierte Güter setzt und keineswegs für eine vollständige Abschaffung von Markt und Wettbewerb eintritt. Und ob er sein Lehrschreiben Laudato Si' in Duktus, Stil und Sprache tatsächlich, wie Exner insinuiert, „in die Nähe der Programmatik und Ausdrucksweise der EZLN, der zapatistischen, solidarökonomischen Bewegung“ (S. 207), rücken wollte, müsste man ihn wohl selber fragen.

Doch wie dem auch sei: Exner hat ein wichtiges, streitbares Buch geschrieben, das mit einer Fülle interessanter Ansichten und Vorschläge aufwartet und zur kritischen Auseinandersetzung mit überkommenen Positionen herausfordert. Auch wer sich den starken Thesen und Wertungen des Autors nicht anschließen kann und dessen Vision einer Rückkehr zur Welt der bäuerlichen Gehöfte im Blick auf die notwendige sozial-ökologische Transformation nicht für zielführend, sondern eher für kontraproduktiv hält, wer sie nicht charmant, sondern gruselig findet, sollte an dem Buch nicht vorbeigehen. Ihm ist gerade auch wegen seiner mutigen Verwegenheit eine breite Leserschaft zu wünschen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Arbeit / Industrie Geschichte der Sozialwissenschaften Kapitalismus / Postkapitalismus Lebensformen Ökologie / Nachhaltigkeit Politische Theorie und Ideengeschichte

Hermann-Josef Große Kracht

Hermann-Josef Große Kracht ist katholischer Theologe und Sozialwissenschaftler. Er arbeitet als außerplanmäßiger Professor am Institut für Theologie und Sozialethik der TU Darmstadt und beschäftigt sich unter anderem mit Fragen von Religion und Politik.

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