Theodor W. Adorno | Jubiläum |

Arbeitstitel: Musiksoziologie

Bisher unveröffentlichter Entwurf eines Vortragsmanuskripts zu den Typen musikalischen Hörens

[1] Wie damals, als ich im RIAS über die Situation des zeitgenössischen Romans zu sprechen hatte, möchte ich auch heute, in einem halbstündigen Referat über Musiksoziologie, darauf verzichten, auch nur im Umriß etwas über den Gesamtkomplex zu sagen, und mich stattdessen auf eine spezifische Fragestellung konzentrieren, deren Behandlung einiges Licht auf das Ganze werfen mag. Ich möchte eine Reihe typischer Verhaltensweisen des musikalischen Hörens besprechen, die sich meiner Beobachtung auskristallisierten. Da diese Typen gedeutet werden, im Sinn einer Konzeption der gegenwärtigen Gesellschaft, so ist damit die Schwierigkeit eines Vergleichs mit früheren Situationen gesetzt. Ohne die Beziehung auf solche müßte das gegenwärtig Charakteristische verfließen; die Beziehung selbst aber ist aus ihren vielen Gründen problematisch, vor allem auch deshalb, weil, wie übrigens in ungezählten Sektoren der materialen Soziologie, irgend vergleichbare Forschungsdaten nicht vorliegen. Das wird dann, insofern die Physiognomik jener Typen kritisch sich verhält, gern dazu benutzt, die Kritik zu entschärfen mit der Begründung, früher sei es vermutlich auch nicht besser gewesen. Im Gegenteil, die Mittel der mechanischen Massenreproduktion von Musik hätten ungezählte Menschen in eine Beziehung zur Musik gerückt, die früher nicht bestanden hätte, und das Hörniveau hätte dadurch, nach Begriffen statistischer Allgemeinheit sich gehoben. Ohne auf die Beziehung zwischen dem Hören lebendig musizierter und mechanisch wiedergegebener Musik einzugehen – ein Verhältnis, das keineswegs bloß die einfache quantitative Vermehrung der Hörmöglichkeiten einschließt, sondern die Sache selbst ebenso wie das Verhalten des Hörenden berührt –, möchte ich ausdrücklich sagen, daß ich keine quantitativen Behauptungen über die Verteilung der Hörtypen aufstelle, sondern sie lediglich als qualitativ bezeichnende Profile denke, an denen etwas wie die gegenwärtige Beschaffenheit des musikalischen Hörens, dessen soziale und psychologische Differenzierung und möglicherweise Determiniertheit aufgehen kann. Wann immer der Form nach affirmative Aussagen in quantitativen Begriffen unvermeidlich sind, sollen sie als Hypothesen und nicht als bündige Behauptungen angesehen werden. Überdies ist die Typologie, wie eine jegliche, bloß idealtypisch zu verstehen, die zahllosen Übergänge bleiben ausgeschaltet, freilich nicht ohne jeden theoretischen Rechtsgrund, da, wenn die zugrunde liegenden Erwägungen zutreffen, doch die Typen, oder wenigstens einige von ihnen, doch plastischer voneinander sich absetzen dürften, als es einer wissenschaftlichen Gesinnung wahrscheinlich dünkt, die gewohnt ist, ihre Gruppen lediglich nach Einteilung des empirischen Materials und nicht nach dem wesentlichen Sinn der unter Typen gebrachten Phänomene zu bilden. Immerhin sollte es möglich sein, wenngleich mit unvermeidlicher Vergröberung, für die einzelnen Typen so handfeste Merkmale anzugeben, daß zu Recht oder Unrecht ihre Annahme überprüft, gegebenenfalls die Verteilung festgestellt und auch einiges an sozialen und sozialpsychologischen Korrelationen ausgemacht werden kann. Insofern enthalten die Ideen über musikalisches Hören die Möglichkeit empirischer Untersuchungen zur Musiksoziologie, welche die soziologische Erkenntnis orientieren am Verhältnis der Gesellschaft, also des Inbegriffs der Hörer oder Nichthörer von Musik, zur Musik als der Sache selbst. Denn das Prinzip, das die Konstruktion der Typen leitet, bezieht sich nicht, wie es bei bloß subjektiv gerichteten empirischen Erhebungen der Fall zu sein pflegt, bloß auf Geschmack, Vorlieben, Abneigungen und Gewohnheiten der Hörenden, sondern auf die Angemessenheit oder Unangemessenheit des Hörens ans Gehörte, wobei vorausgesetzt ist, daß Werke eine[sic] in sich objektiv Strukturiertes und Sinnvolles sind, das der Analyse offen ist, und das in verschiedenen Graden der Richtigkeit wahrgenommen und erfahren werden kann. Die Typen wollen, ohne allzu streng daran sich zu binden und ohne Vollständigkeit zu beanspruchen, ein Kontinuum abstecken, das von der vollen Adäquanz des Hörens, wie sie dem entwickelten Bewußtsein der fortgeschrittensten Berufsmusiker entspricht, bis zu gänzlichem Unverständnis und völliger Indifferenz reicht, und stellt zugleich den Versuch dar, über die Signifikanz der sich heraushebenden Typen einige Mutmaßungen auszusprechen.

Angesichts der nahezu prohibitiebven [sic] Schwierigkeit, wissenschaftlich des subjektiven Gehalts musikalischer Erfahrung, über die äußerlichsten Indizes hinaus, sich zu versichern – denn das Experiment kann allenfalls Intensitätsgrade der Reaktion, kaum jedoch deren Qualität erreichen. Die Introspektion ist überaus ungewiß, und die Verbalisierung des musikalisch Erlebten stößt bei den meisten Menschen auf unüberwindliche Hindernisse – scheint die Differenzierung der musikalischen Erfahrung mit Rücksicht auf die spezifische Beschaffenheit des Gegenstandes, an der das Verhalten ablesbar wird, die fruchtbarste Methode, in der Musiksoziologie, soweit sie die Menschen und nicht die Musik an sich behandelt, über Trivialität und Äußerlichkeit hinauszugelangen. Die Frage nach den Kriterien der Erkenntnis des musikalischen Gegenstandes darf dabei außer Betracht bleiben, da der Begriff des Experten selbst der gesellschaftlichen wie der innermusikalischen Problematik unterliegt, wäre jedenfalls die communis oppinio [sic] eines sachverständigen Gremiums keine ausreichende Grundlage, sondern die Deutung des musikalischen Gehalts entscheidet sich in der inneren Zusammensetzung der Werke und in eins damit kraft der Theorie, welche mit deren Erfahrung sich verbindet.

Das voll adäquate Hören ließe sich, mit einem Wort, das nicht zu Unrecht auch Widerstand erweckt, das des Experten nennen – gemeint[sic] ist der Typus des voll bewußten Hörers, dem tendenziell nichts entgeht, und der zugleich, als Sachverständiger, in jedem Augenblick über das Gehörte Rechenschaft sich ablegt. Während dieser Typus dem Verlauf auch verwickelter Musik spontan folgt, hört er das aufeinanderfolgende[sic], vergangene, gegenwärtige und zukünftige Augenblicke so zusammen, daß ein Sinnzusammenhang sich bildet, und ist auch fähig, Verwicklungen des Gleichzeitigen, also Komplexe, Harmonik und Vielstimmigkeit distinkt wahrzunehmen. Man könnte diese voll adäquate Verhaltensweise als strukturelles Hören bezeichnen; hinzu tritt, als für den Experten bezeichnend, daß unmittelbar kritisch, also im Horizont der Frage nach musikalischer Logik gehört wird, und daß die einzelnen Elemente des Gehörten sogleich als technische gegenwärtig sind, und daß die Stellung zum Sinnzusammenhang wesentlich verbunden ist mit der technologischen Wahrnehmung. Dieser Typus dürfte heute wesentlich auf den Kreis der Berufsmusiker beschränkt sein, ohne daß diese alle jenem Typus genügten; sehr viele Reproduzierende werden sogar den Forderungen, die von diesem Typus des strukturellen und analytischen Hörens ausgehen, sich widersetzen. Quantitativ dürfte er kaum in Betracht kommen und bezeichnet lediglich den Grenzwert, zu dem hin die Abstände der anderen Typen zu formulieren wären. Man wird dazu neigen, die Beschränktheit dieses Typus auf die Professionellen als Resultat des gesellschaftlichen Entfremdungsprozesses zwischen dem objektiven Geist und den Individuen zu erklären. Vorsicht jedoch ist geboten. Seit uns Äußerungen von Musikern überliefert sind, wissen wir, daß sie das volle Verständnis ihrer Arbeiten meist nur ihresgleichen zuschreiben, und die in der Sache, nämlich den Kompositionen, liegenden zunehmenden Komplizierungen werden notwendig den Kreis relativ auf die wachsende Zahl der überhaupt Musik Hörenden jedenfalls verkleinern.

Das Hören des musikalischen Experten entspricht der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, und die Vorstellung, aus allen Hörern Experten zu machen, hätte etwas naiv Utopisitisches, wenn nicht gar etwas Inhumanes, indem sie unreflektiert die Hörer dem Gebot des Gehörten unterwirft, ohne auf die zugleich unwiderrufliche und auch wiederum problematische Tatsache der ästhetischen Vergegenständlichung sich zu besinnen. Es wäre, im Bann des arbeitsteiligen Zustands, zumindest notwendig, dem Typus des Expertenhörens den des adäquaten oder guten Zuhörers entgegenstellen. Auch er ist fähig, übers musikalisch Einzelne hinaus zu hören, Zusammenhänge mitzuvollziehen, begründete und nicht bloß nach Prestigekategorien oder geschmacklicher Willkür zu urteilen, ohne daß er doch der technischen und strukturellen Implikationen sich bewußt wäre. Dieser Typus versteht Musik etwa so, wie man die eigene Sprache versteht, auch wenn man von ihrer Grammatik und Syntax nichts oder weniges weiß. Es wäre der Typus des naiven Mitvollzugs der immanenten musikalischen Logik. Dieser Typus setzt eine gewisse Homogeneität[sic] der musikalischen Kultur und darüber hinaus eine gewisse Geschlossenheit des Gesamtzustandes, oder wenigstens der auf die Kunstwerke reagierenden Gruppen voraus. Es wird etwas Ähnliches bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein gegeben haben, und zwar hauptsächlich in höfischen und aristokratischen Zirkeln. Noch Chopin hat in einem Brief freilich sich darüber beklagt, daß eben diese Gesellschaft durch ihre Lebensform zu zerstreut sei, um so zur Musik sich zu verhalten, wie sie es vermöchte, während er dem Bürgertum vorwirft, daß es stattdessen nur Sinn für die erstaunliche, gewissermaßen circensische Leistung – heute würde man sagen: die show – habe. Bei Proust erscheinen Figuren, die diesem Typus zurechnen, in der Sphäre Guermantes, so der Baron Charlus. Soweit historische Mutmaßungen erlaubt sind, ist dieser Typus wiederum proportional zur anwachsenden Zahl der Musikhörer überhaupt genommen mit der immer weiter sich durchsetzenden Verbürgerlichung der Gesellschaft, des Tausch- und Leistungsprinzips stets seltener geworden und droht zu verschwinden; der gegenwärtige Zustand ist einer der Polarisierung nach den Extremen der Typologie hin, und der gute Hörer im Sinne des Dilettanten oder Amateurs hohen Stils tritt immer mehr zurück. Daran ist selbstverständlich auch der Verfall der musikalischen Initiative des Nichtprofessionellen durch die Mittel der mechanischen Reproduktion beteiligt. Am ehesten dürfte er noch in Gegenden großer musikalischer Tradition überleben, in denen etwas wie eine aristokratische Gesellschaft sich noch erhalten hat, wie in sehr kleinen Kreisen in Wien oder in Sizilien. Außerdem gibt es, ebenfalls lokal determiniert, einzelne Berufsgruppen, in denen durch amateurhaftes Musizieren auf hohem Niveau jene Art des Hörens bewahrt wird oder bis vor kurzem wurde. Ich nenne die Gruppe der Ärzte, insbesondere in Wien. Die eigentümliche Stellung, die sie dabei einnehmen, verdiente studiert zu werden: man könnte von dort wesentliche Aufschlüsse zur Bildungssoziologie des Musikalischen gewinnen. Im mittleren Bürgertum dürfte dieser Typus schon kaum mehr sich finden, außer bei polemischen Einzelgängern, die bereits zu den Experten rechnen, mit denen im übrigen die Hörer dieses Typus weit besser sich verstanden, als heute die sogenannten Gebildeten mit der avancierten Produktion.

Soziologisch hat das Erbe dieses Typus als des maßgebenden unter den Opern- und Konzertbesuchern, ein dritter, der eigentlich bürgerliche angetreten. Man mag ihn den Bildungshörer oder Bildungs-Konsumenten nennen. Er hört viel, und unter Umständen sehr viel, ist informiert, sammelt etwa Schallplatten, respektiert Musik als Kulturgut, vielfach als etwas, was man um des sozialen Prestiges willen kennen muß. Dies Gefühl reicht von einer ernsthaften Verpflichtung bis zum vulgären Snobismus. Das spontane und unmittelbare Verhältnis zur Musik, die Fähigkeit des strukturellen Mitvollzugs, wird ersetzt dadurch, daß man soviel wie nur möglich über Musik, vor allem auch über Interpretation und Interpretieren an Kenntnissen anhortet. Dieser Typus verfügt in gewissem Sinn oft über einige Kenntnis der Literatur, aber derart, daß er die Themen zumal berühmter und immer wiederholter Musikwerke summen, das Vernommene sogleich identifizieren kann. Die Hörstruktur ist atomistisch: es wird auf bestimmte Momente, vermeintlich schöne Melodien, große Augenblicke gewartet. Das gesamte Verhältnis dieses Typus zur Musik hat etwas Fetischistisches, es wird konsumiert nach dem Maßstab der öffentlichen Geltung des Konsumierten, und die Freude daran, sich selbst als dazugehörig auszuweisen, überwiegt die an Musik als einem Kunstwerk. Vor ein oder zwei Generationen pflegte dieser Typus als Wagnerianer sich zu qualifizieren; heute wird er eher die Neigung haben, auf Wagner zu schimpfen. Er kennt die Namen und Ehescheidungen aller Dirigenten und kann Stunden damit verbringen, mehr oder minder nichtige Gespräche über die Meriten Giesekings im Vergleich zu Backhaus zu führen. Wenn er einen Geiger hört, interessiert ihn, was er dessen Ton nennt, wenn nicht gar die Geige; beim Sänger die Stimme; beim Pianisten, wie das Klavier gestimmt ist. Er ist der Mann der Würdigung. Das einzige, worauf dieser Typus primär anspricht, ist die exorbitante, gewissermaßen meßbare Leistung, also etwa halsbrecherische Virtuosität, ganz im Sinn des show-Ideals, das schon vor hundert Jahren Chopin an jenen Ladies konstatierte, die sein Spiel mit “like water“ zu belobigen pflegten. Ihm imponiert bereits Technik, das Mittel, als Selbstzweck; insofern bereitet dieser Typus Formen des heute verbreiteten Massenhörens vor. Allerdings gebärdet er sich massenfeindlich und elitär. Er ist sehr weit verbreitet im oberen und gehobenen Bürgertum, strahlt aber in Deutschland aus bis ins kleine und dürfte den Stamm des traditionellen und traditionalistischen Publikums abgeben; vielfach mit reaktionär-elitärem kulturkonservativem Bewußtsein. Stets fast ist er feindlich der exponierten neuen Musik; man beweist sich sein zugeleich[sic] kulturerhaltendes und diskriminierendes Niveau dadurch, daß man gemeinsam auf das angeblich unverständliche Zeug schimpft. Konformismus, Konventionalität und Autoritätsgebundenheit dürften den Sozialcharakter dieses Typus weiterhin definieren. Quantitaiv[sic] dürfte auch dieser Typus, (Zu diesem Typus muß verdinglichtes Bewußtsein vorkommen; bei dem vorhergehenden, wie das adlige junge Mädchen bei seiner Gouvernante das b-moll-Scherzo von Chopin spielen lernt, und Aufgeschlossenheit für die Moderne. Musikalischer Kulturkonsument.) selbst in Ländern großer musikalischer Tradition wie Deutschland und Österreich, abermals recht unerheblich sein, wenn auch merkbar größer als der der Repräsentanten des zweiten Typus, doch handelt es sich um eine Schlüsselgruppe, von der weitgehend das abhängt, was man das offizielle Musikleben nennen mag. Nicht nur dürften sich aus ihr die Stammabonnenten der großen Konzertgesellschaften und der Opernhäuser rekrutieren; nicht nur jene, die zu Feststätten wie Salzburg und Bayreuth strömen, sondern von ihr dürfte auch die Gestaltung der Programme und Spielpläne sehr abhängigen und dadurch wiederum die verdinglichende Lenkung jenes Geschmacks, der dem kulturindustriellen sich superior fühlt, während freilich die Übergänge zum gehobenen Amusement fließend sind, und immer mehr der von diesem Typus verwalteten musikalischen Kulturgüter in solche des manipulierten Konsums sich verwandeln.

                                    

                       

                                      Quelle: Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt a. M.

Anzuschließen wäre an den Typus des Kulturkonsumenten einer, der ebenfalls nicht von der spezifischen Beschaffenheit des Gehörten sondern dem eigenen Bedürfnis sich bestimmen läßt: der des emotionalen Hörers. Sein Verhältnis zur Musik ist weniger verdinglicht als das des Kulturkonsumenten, dafür aber noch weiter weg vom Vernommenen: es wird ihm wesentlich zu einer Auslösung sonst verdrängter oder von zivilisatorischen Normen gebändigter Triebregungen, vielfach sogar zu einer Domäne der Irrationalität, die den in den Betrieb rationaler Selbsterhaltung unerbittlich Eingespannten überhaupt noch gestattet, irgend etwas zu fühlen, das oft genug kaum mehr etwas mit der Gestalt des Gehörten zu tun hat, obwohl zu vermuten ist, daß dieser Typus besonders stark auf grob emotional getönte Musik – etwa Tschaikowsky – anspricht. Die Übergänge zum Kulturkonsumenten sind fließend, da in dessen Arsenal die Berufung auf die Gefühlswerte echter Musik selten fehlt. Der emotionale Hörer scheint – wegen des Bannes, der vom musikalischen Kulturrespekt ausgeht – in Deutschland nicht sehr charakteristisch zu sein. Eher ist er in angelsächsischen Ländern zu finden, wo der zivilisatorischen[sic] Druck zum Ausweichen in unkontrollierbar inwendige Gefühltsbereiche[sic] nötigt; vielleicht herrscht er auch in hinter der technologischen Entwicklung zurückgebliebenen, zumal slawischen Ländern noch vor. Die in der Sowjetunion tolerierte zeitgenössische Produktion scheint auf diesen Typus besonders zugeschnitten zu sein; jedenfalls ist sein musikalisches Ich-Ideal dem imago des heftig zwischen Aufwallung und Melancholie hin- und herpendelnden Slawen nachgebildet.

Wie musikalisch, so ist dieser Typus wohl auch dem Gesamthabitus nach naiv. Die Unmittelbarkeit seines Reagierens verschränkt sich mit der Entfremdung von der Sache, auf die er reagiert, und ist dadurch von vornherein leicht manipulierbar: in der musikalischen Produktion der Kulturindustrie wird auch auf den emotionalen Typus gezielt, und die Gattung des synthetischen Volkslieds, wie sie in Deutschland und Österreich etwa seit den frühen dreißiger Jahren aufkam, rechnet mit ihm.

Nach Kategorien der sozialen Gruppierung wäre dieser Typus wohl schwer einzugliedern, doch dürfte er zur Identifikation mit Leiden, einer gewissen Wärme neigen und weniger starr und selbstzufrieden sein als der Kulturkonsument, mag immer er auch nach Begriffen des etablierten Geschmacks unter diesem rangieren. Doch gilt das nur unter Vorbehalt: denkbar durchaus, daß zu diesem Hörtypus gerade auch Personen verhärteten Wesens gehören, die in einem Bereich, der für ihr Leben konsequenzlos bleibt, Kompensation für das suchen, was sie sonst sich versagen müssen. Diese Möglichkeit ist in Tolstois Kreutzersonate visiert. Der Typus ist in sich differenziert; man wird etwa solche ihm subsumieren, die durch Musik, welcher Art auch immer, zu bildhaften Vorstellungen angeregt hat[sic] werden, und solche, deren musikalische Erlebnisse dem vagen Tagtraum sich nähern; schließlich auch den im engeren Verstande sinnlichen Hörer, der auch auf den isolierten Klangreiz kulinarisch anspricht. Ob diesen Differenzierungen der musikalischen Reaktionsweise wiederum Differenzierungen der Gesamtperson, schließlich auch soziologische zuzuordnen sind, bliebe zu ermitteln. Man darf bei diesem Typus die besondere Wirksamkeit einer eingeschliffenen Ideologie der offiziellen musikalischen Kultur vermuten, des Antiintellektualismus. Bewußtes Hören wird mit kaltem und äußerlich reflektierendem Verhalten zur Musik von ihm verwechselt, und der emotionale Typus setzt daher Versuchen, ihn zu strukturellem Hören zu veranlassen, heftige Widerstände entgegen – heftigere vielleicht als der Kulturkonsument, der der Bildung zuliebe am Ende auch dazu bereit wäre. Vielleicht wäre dieser Typus in Deutschland in solchen Kreisen des gehobenen Kleinbürgertums aufzusuchen, in denen die Tabus, die dem Ungehemmten sich überlassen, des Gefühls, in der herrschenden Schicht und auch bei den physisch Arbeitenden auferlegt sind, noch nicht ganz sich durchgesetzt [haben.]

Zum emotionalen Hörer hat zumindest in Deutschland ein krasser Gegentypus sich ausgebildet: der, welcher, anstatt in Musik vor dem zivilisatorischen Gefühlsverbot, dem mimetischen Tabu, auszuweichen, es sich zueignet und geradezu zur Norm der eigenen musikalischen Verhaltensweise erkürt; der sehr tief liegende Gegensatz zwischen mathematischer und dynamischer Zeiterfahrung in der Musik[2] spielt dabei hinein. Der in Rede stehende Typus hat zumindest zum Ideal eine Art von statisch-musikalischem Hören. Er steht in deutlichem Gegensatz zum offiziellen Musikleben und weiß wohl, wie ausgehöhlt und scheinhaft es ist; aber er treibt nicht darüber hinaus, sondern flüchtet dahinter zurück in Perioden, die er vom vorherrschenden Warencharakter, der Verdinglichung, geschützt wähnt, während gleichzeitig sein eigens[sic] Verhalten kraft seiner Starrheit eben der Verdinglichung Tribut zollt, der er opponiert. Es ist ein wesentlich reaktiver Typus: man könnte ihn den des Ressentiment-Hörers taufen. Ihm gehören jene Liebhaber Bachs an, gegen welche ich diesen einmal verteidigt habe; aber vor allem auch diejenigen, die sich auf vor-Bachische Musik kaprizieren; in Deutschland standen bis in jüngste Zeit fast alle, die irgend der Jugendbewegung angehört hatten, im Bann dieses Typus, und jetzt erst beginnt eine Änderung sich abzuzeichnen. Der Typus des Ressentiment-Hörers, im Protest gegen den Musikbetrieb scheinbar nonkonformistisch, sympathisiert dabei meist mit Ordnungen und Kollektiven um ihrer selbst willen und zeigt in seinem Geschmack wie, vermutlich, in seiner Gesamttendenz autoritätsgebundene Züge. Man kann diesen Typus recht unmittelbar beobachten, wenn man etwa die stur sektenhaften Gesichter sich ansieht, die in sogenannten Bachstunden und Abendmusiken sich konzentrieren. Vielfach verfügen sie in ihrer Sondersphäre über Kenntnis und – kraft ihrer Schulung in aktivem Musizieren – auch über ein gewisses Verständnis; doch ist alles wie verborgen, mit Weltanschauung verkoppelt, und, fast möchte man sagen: organisch pervertiert. Während sie gegen das Warenhören ein aktives vertreten und sich als Bewegung fühlen, ist ihre eigene Verhaltensweise präformiert ebenso durch die Zielsetzungen ihrer Bünde und deren vielfach kraß reaktionäre Ideologie, vor allem aber auch durch den Historismus.

[Nachträglicher Einschub: Die voll gesellschaftliche Dechiffrierung steht bis heute noch aus; ihre Richtung ist anzuzeigen. Der Typus rekrutiert sich vielfach aus dem gehobenen Kleinbürgertum, das seinen sozialen Abstieg vor Augen hat. Die seit Jahrzehnten zunehmende Abhängigkeit jener Schicht hat mit der Möglichkeit, sich selbst im äußern bestimmende und dadurch auch inwendig sich entfaltende Individuen zu werden, ihnen genommen und dadurch auch die Erfahrung der großen Musik beeinträchtigt, die durchs Individuum und seine Freiheit, keineswegs erst seit Beethoven, vermittelt ist. Sie halten aber zugleich, angesichts der Proletarisierung inmitten der bürgerlichen Welt, an der Ideologie des sozial Gehobenen fest, des Elitären, der inneren “Werte“ (dazu vielleicht Hinweis auf “Student und Politik“). Ihr Bewußtsein, und seine [sic] Stellung zur Musik, ist die Resultante[sic] aus ihrer sozialen Lage und ihrer Ideologie. Die Pointe ist, daß sie die Kollektivität, zu der sie verurteilt sind und in der sie sich zu verlieren fürchten, sich und anderen zugleich als höher denn die Individuation, als seinsverbunden, sinnhaft, human und was noch alles vorspiegeln. Dazu hilft ihnen, daß sie den vorindividuellen Zustand, wie ihn die Musikantenmusik ebenso wie das meiste aus dem sogenannten Barock vortäuscht, für den realen, post-individuellen ihrer eigenen Kollektivierung unterschieben und diese dadurch die Aura des Heilen und Unverdorbenen zu verleihen sich einbilden. Die erzwungene Regression wird, nach der Ideologie der inneren Werte, ungefälscht in etwas Besseres als das, woran sie verhindert sind, formal vergleichbar der faschistischen Manipulation, die das Zwangskollektiv der atomisierten mit den Insignien naturwüchsig-vorkapitalistischer Volksgemeinschaft bekleidet.]

Der Begriff der Werktreue, den sie dem bürgerlichen Ideal musikalischer showmanship entgegenhalten, wird zum Selbstzweck; es geht ihnen nicht so sehr darum, den Sinn der Werke adäquat darzustellen und zu erfahren als eifernd darüber zu wachen, daß in keiner Regung von dem abgewichen wird, was sie für die Aufführungspraxis vergangener Zeiten halten. Tendiert der emotionale Typus zu kitschigem Rubato, so der Ressentiment-Hörer zu einer von Strenge, welche die mechnaische[sic] Unterdrückung des eigenen Impulses für geborgen in der Gemeinschaft nimmt. Auffallend ist, wie wenig bei diesem Typus, trotz aller Schulung und auch allem genuinen Interesse, der Sinn für qualitative Differnezen[sic] innerhalb der von ihm bevorzugten Literatur entwickelt ist; die vorherrschende Ideologie hat den Sinn für die Nuancen verkümmern lassen. Die psychologischen und gesellschaftlichen Implikationen liegen auf der Hand; doch muß man auch hier vor Kurzschlüssen sich hüten: gerade der sektenhafte Charakter, der diesen Typus wesentlich konstituiert, hat ihn vielfach in Konflikte mit dem Nationalsozialismus gebracht, während andererseits die Musik der Hitlerjugend vieles aus seiner Sphäre absorbierte. Über die Verbreitung des Ressentiment-Hörers ist schwer etwas auszumachen; kraft seiner Organisiertheit und Publizität, und seiner vielfachen Verbindung mit pädagogischen Instanzen, ist er jedenfalls eine Schlüsselgruppe, doch steht unter Zweifel, ob er nicht über seine Organisationen hinaus, gar zu viele Repräsentanten hat, ob er nicht selbst als wesentlich organisatorisch produziert und reproduziert aufzufassen wäre.

Man begegnet in der Zeitschriftenliteratur des Ressentiment-typus[sic] häufig Erörterungen über den Jazz. Während dieser im Kreis von Barockverehrern vorweg als zersetzende[sic] verdächtig war, zeichnen sich zunehmend Sympathien ab, die mit der Domestizierung des Jazz, die in Amerika längst vollzogen und in Deutschland nur eine Frage der Zeit ist, zusammenhängen mögen. Der Typus des Jazz-Experten und Jazz-fans[sic] – beides ist nicht so radikal verschieden, wie die Jazz-Experten sich schmeicheln – ist dem Ressentiment-Hörer verwandt im Habitus der “rezipierten Häresie“, des gesellschaftlich kanalisierten und harmlos gewordenen Protests gegen die offizielle Kultur, dem Bedürfnis nach musikalischer Spontaneität, die dem vorgezeichnet Immergleichen sich entgegensetzt, und dem sektenhaften Charakter, der zumal in Deutschland so sehr zur Weltanschauung geworden ist, daß jedes kritische Wort über den Jazz in seiner jeweils als fortgeschritten verehrten Gestalt als Frevel geahndet wird. Mit dem Ressentiment-Typus teilt der des Jazz-Hörers auch die Aversion gegen das klassisch-romantische Musikideal; von der Vorklassik freilich will er wenig wissen und ist von dem s[a]kralen Gestus, dem asketisch Geweihten frei. Dennoch ist auch er reaktiv und beschränkt: ebenso weil er aus berechtigtem Widerwillen gegen den Kulturschwindel das spezifisch ästhetische Verhalten am liebsten durch ein technifiziert-sportliches ersetzen möchte, wie weil er, in Unkenntnis über die ernsthafte moderne zeitgenössische Produktion, sich selbst als kühn und aventgardistisch[sic] versteht, während noch seine äußersten Wagnisse seit fünfzig Jahren von der ernsten Musik überboten und zur Konsequenz gebracht wurden, während er andererseits in entscheidenden Momenten wie der erweitert-impressionistischen Harmonik, der äußerst simplen und standardisierten Formgestaltung gänzlich nach der Schablone hört. Die Improvisation, auf welche die Jazz-Journalisten so viel sich zugute tun, sind nicht nur in Wahrheit vielfach probiert, sondern durch die Einpassung ins standardisierte Schema vorweg bescheidensten Umfangs. Die unbestrittene Vorherrschaft der Zählzeit, der alle synkopischen Künstler parieren müssen; die Unfähigkeit, Musik im eigentlichen Sinn dynamisch zu denken, verleiht auch diesem Hörtypus den Charakter des Autoritätsgebundenen. Nur freilich hat er bei ihm eher die Gestalt des im Freudischen Sinn ödipalen Charakters: Aufmucken gegen den Vater, dem die Bereitschaft, jenem sich zu unterwerfen, schon innewohnt. Dem Bewußtsein nach ist der Typus eher progressiv und weniger muffig; er findet sich selbstverständlich am meisten in der Jugend, wird wohl auch vom Teenager-Geschäft gezüchtet und ausgebeutet. Er reicht von wirklich technisch Sachverständigen bis zu den gröhlenden[sic] Adepten des Elvis Presley; charakteristisch dabei, daß auch solche, die sich eifrig anstrengen, den nach ihrer Ansicht reinen Jazz vom kommerzeiell[sic] verschandelten abzuheben, nicht umhin können, kommerzielle bandleaders in den Bezirk ihrer Verehrung aufzunehmen. An die kommerzielle Musik gekettet, und von der Avantgarde getrennt, ist der Jazzbereich allein schon durch das vorherrschende Ausgangsmaterial, die Schlager. Zur Physiognomik gehört hinzu die Unfähigkeit, über Musikalisches in genauen musikalischen Begriffen Rechenschaft zu geben – eine Unfähigkeit, die sich vergebens mit der Schwierigkeit rationalisiert, jenes Geheimnisvolle, das Jazz sei, dingfest zu machen, nachdem längst die Notation ernster Musik unvergleichlich viel diffizilerer Schwankungen hat fixieren können. Man wird schwer daran vorbeisehen können, daß in diesem Typus die Entfremdung von der verschandelten musikalischen Kultur in ein vorkünstlerisch Barbarisches zurückschlägt, das umsonst als Aufbruch von Urgefühlen sich stilisiert. Trotz der Ungebärdigkeit der Jazz-fans[sic] ist das Potential, das sie verkörpern, eines von kollektiver Regression. Auch dieser Typus dürfte, selbst wenn man die dazu zählt, die ihm selber als Mitläufer gelten, numerisch nicht gar so groß sein, aber er dürfte sich ausdehnen und wohl auch mit dem des Ressentiment-Hörers in nicht zu fernen Zeiten verschmelzen.

Quantitativ der erheblichste aller Typen dürfte derjenige sein, der Musik als Unterhaltung hört und nichts weiter. Dächte man lediglich an statistische Kriterien und nicht an das Gewicht, das einzelne Gruppen in der Gesellschaft und im Musikleben einnehmen, so wäre dieser Typus der allein relevante, und selbst nach den vollzogenen Einschränkungen kann es fraglich erscheinen, ob angesichts seiner Präponderanz die Entwicklung einer weit darüber hinausgreifenden Typologie für die Soziologie sich lohnt, anders wäre es freilich für ein Denken, dem Musik nicht bloß als ein für anderes, eine soziale Funktion, sondern auch als etwas an sich gilt, und die geneigt ist, am Ende die gegenwärtige soziale Problematik der Musik gerade mit dem in Zusammenhang zu bringen, was ihre Sozialisierung scheint. Der Typus des Unterhaltungshörers ist der, welcher der Kulturindustrie entspricht, wobei offen bleibt, wieweit diese, nach ihrer eigenen Ideologie, ihm sich anpaßt und wieweit sie ihn erst hervorbringt. Vielleicht ist die Frage überhaupt falsch gestellt, weil beide abhängen von dem Stand der Gesellschaft, in die sie verflochten sind. Sozial dürfte der Typus des Unterhaltungshörers dem viel bemerkten, freilich durchaus nur subjektiv und nicht objektiv gesellschaftlich zu deutenden Phänomen der Neutralisierung, der Herstellung eines nivellierten Bewußtseins entsprechen. Der Unterhaltungstypus ist vorbereitet durch den des Kulturkonsumenten, durch den Mangel an spezifischer Beziehung zur Sache; Musik wird nicht als Sinnzusammenhang sondern als Reizquelle wahrgenommen. Elemente des emotionalen Hörens wie des sportlichen des Jazzhörens spielen hinein, doch ist all das plattgewalzt unter dem Bedürfnis nach Musik als einem zerstreuenden Komfort, bei dem möglicherweise nicht einmal mehr die atomistischen Reize goutiert, der überhaupt kaum mehr in einem irgend fasslichen Sinn auch nur genossen wird. Die Struktur dieser Art des Hörens dürfte der des Rauchens ähneln, und sich eher durch das Unbehagen beim Abschalten des Radioapparates definieren als durch den seis[sic] auch noch so bescheidenen Lustgewinn, solange er läuft. Die Gruppe derjenigen, die, wie man es oft genannt hat, von Radiomusik sich berieseln lassen, ohne nur recht hinzuhören, ist wohl ein Extrem; beleuchtet aber den Gesamtbereich. Die sehr große Zahl derer, die dem Typus des Unterhaltungshörers zugehören, rechtfertigt die Annahme, daß er sich in sich weitgehend differenziert. Man könnte sich eine Skala vorstellen, die von dem, der nicht arbeiten kann, ohne daß das Radio dudelt, über den, der Zeit totschlägt und Einsamkeit paralysiert durch ein Hören, das ihm die Illusion des bei was auch immer Dabeiseins vermittelt, reicht über die Liebhaber von Potpourris und Operettenmelodien bis zu der vermutlich nicht zu unterschätzenden Gruppe genuin Muskalischer die durch ihren Ausschluss von der allgemeinen Bildung und vollends der musikalischen und durch ihre Stellung im Arbeitsprozeß von der wirklichen Musik ausgeschlossen sind und sich mit Stapelware abspeisen lassen. Unter sogenannten Volksmusikern in provinziellen Gegenden wird man solchen Menschen gar nicht so selten begegnen. Meist jedoch sind die Repräsentanten dieses Typus passiv und wehren sich heftig gegen die Anstrengung, die Kunstwerke ihnen zumuten; in Wien etwa erhalten die Radiogesellschaften aus dieser Gruppe Briefe, die gegen die Sendung dessen protestieren, was ihnen, mit einem schauerlichen Ausdruck, opus-Musik heißt und die auf der Bevorzugung der “chromatischen“ – nämlich der Ziehharmonika – bestehen. Wenn der Kulturkonsument über die leichte Musik die Nase rümpft, so ist es die Sorge des Unterhaltungshörers, daß man ihm nur ja nichts zumute, was über seinen Horizont gehe; er ist ein entschlossener, seiner selbst bewußter lowbrow, der aus seiner Durchschnittlichkeit womöglich eine Tugend macht, und zahlt gleichsam der musikalischen Kultur die Schuld heim, die sie gesellschaftlich auf sich geladen hat, indem sie ihn von ihrer Erfahrung ausschloß. Die spezifische Hörweise ist die der Zerstreuung und Dekonzentration, möglicherweise unterbrochen von jähen Augenblicken der Aufmerksamkeit und des Wiedererkennens; diese Hörstruktur wäre durchaus der experimentellen Analyse zugänglich. Schwer fällt es, den Unterhaltungshörer einer bestimmten sozialen Gruppe zuzuordnen. Die eigentliche Bildungsschicht dürfte in Deutschland zumindest der eigenen Ideologie nach von ihm sich distanzieren, ohne daß ausgemacht wäre, ob die Mehrheit ihrer Angehörigen tatschlich so viel anders hört. In Amerika fehlen derlei Hemmungen, auch in Europa dürften sie verschwinden. Eine gewisse soziale Differenzierung innerhalb der Unterhaltungshörer ist nach ihrem Lieblingsmaterial zu erwarten. So könnten etwa Leute mit gehobenem sozialen Anspruch an der gehobenem[sic] Unterhaltung sich delektieren, Jugendliche außerhalb des Jazzkults an den Schlagern, ländliche Bevölkerungsteile an der Volksmusik, mit der man sie überflutet. In Amerika hat das Radio Research die gespenstische Feststellung getroffen, daß die von der Kulturindustrie hergestellte, künstliche Cowboy- und Hill Billy-Musik besonders beliebt ist in Gegenden, wo wirkliche Cowboys und Hill Billies wohnen. Der Unterhaltungshörer wird adäquat nur im Zusammenhang mit den Massenmedien, vor allem Radio und Film, zu beschreiben sein, nach deren Angebot er sich richtet. Psychologisch ist ihm eigentümlich die Ich-Schwäche, die Bereitschaft zum Mitmachen, wie sie ähnlich den weiteren Umkreis der Jazz-fans[sic] definiert, der selbstverständlich in den Typus des Unterhaltungshörers übergeht, Kritik an der Sache ist ihm so fremd wie die Anstrengung um dieser willen. Er ist prinzipiell konformistisch, skeptisch bloß gegen das, was ihn zur Selbstbesinnung nötigt; bereit, sich mit seiner eigenen Einschätzung als Kunden zu solidarisieren; naiv eingeschworen auf die Fassade der Gesellschaft, so wie sie in den Illustrierten ihm sich präsentiert. Ohne daß dieser Typus ein besonderes politisches Potential darstellt, wäre er bereit, wie musikalisch wo so wohl auch in der Realität einer jeglichen Herrschaft sich anzubequemen, wofern sie seinen Konsumentenstandard nicht gar zu sehr herabdrückt.

Ein Wort schließlich wäre zu sagen über den Typus des musikalisch Gleichgültigen, Unmusikalischen und Antimusikalischen. Bei ihm dürfte es sich nicht, wie das bürgerliche convenu es vorstellt, um einen Mangel ursprünglicher Anlage handeln sondern um Prozesse während der frühen Kindheit. Die Hypothese sei gewagt, daß bei diesem Typus es durchwegs um Defekte sich handelt, die durch brutale Autorität in frühen Phasen hervorgebracht worden sind. Kinder besonders strenger Väter scheinen häufig sogar unfähig zu sein, auch nur das Notenlesen zu lernen – übrigens die Voraussetzung einer menschenwürdigen musikalischen Bildung heute. Dieser Typus geht offenbar mit einer überwertig, man könnte sagen: pathisch realistischen Gesinnung zusammen: ich habe ihn unter extremen technischen Spezialbegabungen beobachten können. Es würde aber auch nicht überraschen, wenn er, reaktiv, vielfach in Gruppen sich fände, die von der Teilhabe an der bürgerlichen Kultur durchs Bildungsprivileg und die ökonomische Lage ausgeschlossen sind, also im Proletariat gleichsam als Antwort aufs Phänomen der Entmenschlichung und zugleich als dessen Bekräftigung, was überhaupt gesellschaftlich amusisch im engeren und weiteren Sinn bedeutet, ist noch nicht studiert, vermöchte aber wahrscheinlich sehr überraschende Zusammenhänge aufzudecken.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nur eben noch versuchen, den Entwurf, den ich Ihnen vorgetragen habe, und der nicht mehr zu sein beansprucht als ein Entwurf, vor Mißdeutungen zu beschützen, wie sie mit der Abwehr des Gesagten sich vereinen mögen. Es ist weder meine Absicht, diejenigen, welche zu den negativ bestimmten Hörtypen zählen, herabzuwürdigen, noch das Bild der Realität zu verzerren, indem aus der fragwürdigen Verfassung des musikalischen Hörens heute ein Urteil über den Weltzustand abgeleitet würde. Sich geistig so zu gebärden, als wären die Menschen dazu da, menschlich richtig zu hören, wäre ein grotesker Nachhall des Ästhetizismus, so wie freilich umgekehrt die Thesen[sic], die Musik sei für die Menschen da, unter dem Schein der Humanität nur das Denken in Tauschkategorien befördert, das alles Seiende bloß als Mittel für anderes kennt und, indem es die Wahrheit der Sache entwürdigt, die Menschen selber trifft, denen sie nach dem Munde redet. Der herrschende Zustand, den die kritische Typologie visiert, ist nicht die Schuld derer, die so und nicht anders hören, und nicht einmal erst die des Systems, das ihren geistigen Zustand reproduziert, um ihn besser ausschlachten zu können, sondern gründet in den Gesteinsschichten der Gesellschaft selber, in der Trennung geistiger und körperlicher Arbeit, in der hoher und niedriger Kunst, die daran anschließt, in der sozialisierten Halbbildung; schließlich darin, daß ein richtiges Bewußtsein in einer falschen Welt nicht möglich ist, und daß das falsche Bewußtsein auch auf die gesellschaftlichen Reaktionsweisen der Musik gegenüber sich erstreckt. Wahrscheinlich sind auch die sozialen Differenzierungen innerhalb des Entwurfs von nicht gar zu großem Gewicht, wenn, wie man so sagt, die Typen, oder viele von ihnen, schräg durch die Gesellschaft schneiden, so zeigt sich daran, daß in den Unzulänglichkeiten eines jeglichen das gespaltene Ganze sich widerspiegelt, daß ein jeder eher einer in sich antagonistischen Totalität als Ausdruck einer besonderen sozialen Spielart ist. Vollends verfehlt wäre es, die Typen, und die Vormacht des Unterhaltungshörers, mit dem unter den Massen so populären Begriff der Vermassung zusammenzubringen. Es zeigt in diesem Typus, gleichgültig, was an ihm das alte und was das neue Falsche ist, nicht so sehr ein Aufstand der Massen wider die Kultur an sich an, als daß diese ihnen vorenthalten wird und daß sie zugleich unter der Last der Versagungen, die ihnen vom unmäßigen Bau der Zivilisation auferlegt werden, hilflos aufbegehren. In diesem Aufbegehren steckt ebenso das Potential eines Besseren wie [in] fast jeglichen[m] der Typen auch, seins noch so sehr in verzerrter Gestalt, Sehnsucht und Möglichkeit eines menschenwürdigen Verhaltens zur Musik, zur Kunst überhaupt zeigt. Zu dem Zustand aber gehört es hinzu, daß ein jeder die Freiheit hat, zur Musik sich zu verhalten wie er will. Keinem aus den beängstigend und ohnmächtig sich mühenden Millionen kann zugemutet werden, etwas von Musik zu verstehen oder auch nur für sie sich zu interessieren, und in der Freiheit, die ihn davon dispensiert, steckt auch etwas von der Möglichkeit eines menschenwürdigen Zustands, in dem Kultur nicht länger Zwang ist, und in dem einmal mehr an Wahrheit sein kann, wenn man friedlich in den Himmel singt, als wenn man seis[sic] auch noch so richtig der Eroica folgt. Aber gleichzeitig ist der Zustand, und die Verflechtung der sogenannten kulturellen Bewußtseinsformen, mit den tragenden und ökonomischen, derart, daß das Versagen vor der Kultur zu Schlüssen nötigt über das Versagen der Kultur vor den Menschen und über das, was die Welt aus ihnen gemacht hat. Der Widerspruch zwischen der Freiheit, die ein jeder in seiner Stellung zu künstlerischen Dingen hat, und den düstern Diagnosen, die aus dem Gebrauch folgen, der von dieser Freiheit gemacht wird – dieser Wiederspruch[sic] ist einer der Realität und nicht erst des Bewußtseins, das sie analysiert, um zu ihrer Veränderung ein wie immer auch Geringeres beizutragen.

  1. Dieser Text ist der aus dem Jahr 1961 stammende Erstentwurf eines Vortrags, den Adorno im gleichen Jahr an der Funk-Universität des RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) hielt. Er diente als Grundlage für die Vorlesung, die 1962 unter dem Titel „Typen musikalischen Verhaltens“ in dem Band „Einleitung in die Musiksoziologie“ veröffentlicht wurde. Die Veröffentlichung auf Soziopolis erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und des Suhrkamp Verlages. Besonderer Dank gilt Michael Schwarz, der uns auf das Manuskript aufmerksam machte.
  2. Cf. Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt am Main 1959, S. …..

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Philipp Tolios.

Kategorien: Kritische Theorie

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