Hannah Schmidt-Ott | Jubiläum |

"Der Wert eines Gedanken mißt sich an seiner Distanz von der Kontinuität des Bekannten"

Vor 50 Jahren starb Theodor W. Adorno. Einleitung zum Schwerpunkt

In seinem Text „Der Traum von der Ich-Ferne. Adornos literarische Aufsätze“ hat Jan Philipp Reemtsma das Werk Adornos nach den bearbeiteten Themen aufgeschlüsselt. Dabei stellen die Schriften, die musikologische Fragestellungen behandeln, mit rund 4000 Seiten das Gros des Textkörpers. Danach folgen die Arbeiten zu philosophischen Fragen (ca. 2600 Seiten) und die soziologischen Schriften (1500 Seiten). Der Werkteil, der sich mit Literatur beschäftigt, ist mit 800 Seiten der kleinste.[1]

Das Werk Adornos mutet also durchaus divers an. Zusammengehalten wird es jedoch durch einen politischen Impetus, der die Kritik an den bestehenden Verhältnissen zum Kern jeder seiner Arbeiten macht – sei es als Musiktheoretiker, Komponist, Philosoph oder Soziologe. So schreibt Adorno in dem offenen Brief zum siebzigsten Geburtstag seines Freundes Max Horkheimer, der 1965 in der Zeit erschien: „Ich […] war, nach Herkunft und früher Entwicklung, Künstler, Musiker, doch beseelt von einem Drang zur Rechenschaft über die Kunst und ihre Möglichkeit heute, in dem auch Objektives sich anmelden wollte, die Ahnung von der Unzulänglichkeit naiv ästhetischen Verhaltens angesichts der gesellschaftlichen Tendenz.“[2]

Damit schneidet Adorno die beiden Themen an, die auch für die Auseinandersetzung tragend sein sollten, zu der ein anstehendes Jubiläum auffordert: Werden und Werk des zu Porträtierenden. Dabei muss die Frage nach dem Werden, also die nach der Ausbildung des subjektiven Geistes, nicht zuletzt im Hinblick auf die objektiven Bedingungen gestellt werden. Adorno wurde 1903, das heißt im ausklingenden langen 19. Jahrhundert geboren. Diese, wenn auch vergehende, Hochzeit des Bürgertums schlug sich biografisch in Gestalt einer klassisch bürgerlichen Kindheit und Jugend nieder, die der aufwachsende Theodor Wiesengrund im Schutzraum einer musikalisch versierten, gebildeten und ihren einzigen Sohn behütenden Familie verbrachte. Das Familienleben bildete den Nährboden, auf dem Adornos Subjektivität, seine Empfindsamkeit und Rezeptivität, sein Sinn für Ausdruck und Form, also sein Geist, gedeihen konnten. Für unseren Schwerpunkt anlässlich des 50. Todestags von Adorno erörtert Magnus Klaue in einem Essays mit dem Titel „Der Schriftsteller und der Kaufmann“, inwiefern sich dieser biografische Hintergrund von dem Max Horkheimers unterscheidet und wie diese Besonderheiten und das jeweilige intellektuelle Wirken miteinander verwoben sind.

                                      

                        Quelle: Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt a. M. - Fo 056

Adornos Umfeld ermöglichte ihm einen Zugang zur Kunst, den zugleich das feinfühlige Interesse an dem prägte, was im Briefzitat als die „gesellschaftliche Tendenz“ angesprochen wird. Mit dem durch den Ersten Weltkrieg hereinbrechenden Zeitalter der Extreme musste Adorno zwangsläufig in Konflikt geraten. So war der Adorno der zwanziger Jahre radikal links eingestellt und stand dem historischen Materialismus nahe. Der Aufstieg der Nationalsozialisten und die Erfahrung des Holocaust zwangen ihn jedoch, die Vorstellung einer sich mit Notwendigkeit einstellenden Revolution und der damit einhergehenden Emanzipation der menschlichen Gattung von illegitimer Herrschaft aufzugeben. Das Bürgertum der Vorkriegszeit, und damit Adornos eigene Kinderstube, blieb der letzte positive Bezugspunkt einer Gesellschaftskritik, die vor dem Hintergrund der Verbrechen des Nationalsozialismus und der konsumistischen Lebensweise des Spätkapitalismus, in der alles zur Ware geworden war, radikale Negativität anmahnte. Das materialistische Bilderverbot untersagte jede konkrete Utopie einer anderen, besseren Gesellschaft. Und der Verzicht auf abbildendes Denken sollte auch erkenntnistheoretisch relevant werden: „Bewußtsein, das zwischen sich und das, was es denkt, ein Drittes, Bilder schöbe, reproduzierte unvermerkt den Idealismus; ein Corpus von Vorstellungen substituierte den Gegenstand der Erkenntnis, und die subjektive Willkür solcher Vorstellungen ist die der Verordnenden“.[3] In seinem Essay „Leiden und Erkennen (bei Adorno)“ legt Raymond Geuss dar, wie Adorno Erkenntnis eben nicht als Kenntnisnahme, sondern als dialektischen Prozess des Deutens fasst, der dem Ziel verschrieben ist, emphatische Wahrheiten über Sachverhalte aufzufinden.

                                    

                Quelle: Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt a. M. - Fo 010, Foto: May

Adornos Changieren zwischen verschiedenen Disziplinen thematisiert auch Gabriele Gemls Essay mit dem Titel „Dissonierende Sozialforschung“. Sie geht der Frage nach, welcher Teil von Adornos Werk eigentlich als „Soziologie der Musik“ bezeichnet werden kann, mithin dem keineswegs trivialen Problem, was Adorno unter einer Soziologie der Musik verstanden wissen wollte. Dafür schildert sie die verschiedenen Weisen, in denen Adornos Texte Musik, Gesellschaft und Kritik miteinander in Beziehung gesetzt hat.

Nie wollte Adorno als ein Musiksoziologe missdeutet werden, der womöglich bereits vorgeformte gesellschaftstheoretische Kategorien nur an das musikalische Material heranträgt, um ihm aussagefähige Befunde abzuzwingen. Seine Ambition lag ganz im Gegenteil darin, eben solche Kategorien aus dem Material und der Form eines Kunstwerks zu gewinnen.[4] Aus diesem Ehrgeiz seiner Analysen sind auch die Idealtypen hervorgegangen, die Adorno in seinem Vorlesungstext „Typen musikalischen Verhaltens“ präsentiert. Wir freuen uns diesen bisher unveröffentlichten Erstentwurf desjenigen Textes publizieren zu können, der später in Adornos Aufsatzband „Einleitung in die Musiksoziologie“ eingegangen ist. Gerade weil er noch deutliche Züge eines Entwurfes trägt, zeichnet ihn eine besondere Zugänglichkeit aus.

Der gerade erschienene, unmittelbar auf große Aufmerksamkeit stoßende Essay „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ basiert auf einem Vortrag, den Adorno 1967 an der Wiener Universität gehalten hat und der angesichts der gegenwärtigen politischen Situation ausgesprochen aktuell anmutet. Thomas Lux und Martin Mettin prüfen in ihrer Rezension kritisch, ob sich Adornos analytisches Besteck, seine Befunde und seine Empfehlung auf eine Situation, wie sie sich jetzt im Kontext des gesellschaftlichen Rechtsrucks und des steilen Aufstiegs der AfD darstellt, anwenden lassen.

                                         

                      Quelle: Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt a. M. - Fo 097

Gerade mit Blick auf die Ehrungen zum 50. Todestags Theodor W. Adornos wäre freilich zu hoffen, dass sich etwaige Reaktualisierungen seiner Arbeit weder auf seine Analyse des Rechtsradikalismus beschränken, noch darauf, die in Frankfurt beheimatete Tradition der Kritischen Theorie nur fortzuschreiben. Was in vielleicht eher esoterisch anmutenden Lesezirkeln in sowie außerhalb der Universität konserviert wurde und wird, darf trotz des Zeitkerns, den jede Theorie besitzt, auch weiterhin beanspruchen, sowohl in den Musik-, Literatur- und Kulturwissenschaften wie in der Philosophie und Soziologie von Belang zu sein – als ein Modell materialer Analyse, das die Auseinandersetzung mit ihren Gegenständen mit einer hellsichtigen Kritik der Gesellschaft verbindet, die sozial hergestellte Verhältnisse nach wie vor unter dem täuschenden Schein sichtbar macht, sie seien zweite Natur.

  1. Jan Philipp Reemtsma, Der Traum von der Ich-Ferne. Adornos literarische Aufsätze, in: Axel Honneth (Hg.), Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt am Main 2005, S. 318–362, hier: S. 319.
  2. Theodor W. Adorno, Offener Brief an Max Horkheimer, https://www.zeit.de/1965/07/offener-brief-an-max-horkheimer (30.07.2019)
  3. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 2000, S. 204 f.
  4. Detlev Claussen, Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt am Main 2003, S. 158.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Kritische Theorie

Hannah Schmidt-Ott

Hannah Schmidt-Ott ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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