Herbert Oberbeck | Nachruf |

Martin Baethge

Ein Nachruf

Das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) und die Universität Göttingen müssen Abschied nehmen von Martin Baethge (1939–2018), der am 4. Januar völlig überraschend verstorben ist. Martin Baethge hat in beiden Institutionen als Forscher wie als Lehrer das Profil der Göttinger Soziologie über den langen Zeitraum von gut fünf Jahrzehnten maßgeblich mitgeprägt. Als Hochschullehrer stand und focht er für die Integration von Forschung und Lehre und lebte dieses Konzept exemplarisch vor: Forschend in den Disziplinen der Arbeits‑ und Bildungssoziologie mit national und international breit anerkannten und rezipierten Befunden, lehrend unter Einbezug seiner Forschungsergebnisse und -praxis mit höchstem Elan und großem Erfolg. Er hat angehenden Sozialwissenschaftlerlnnen wie zukünftigen Lehrkräften an Gymnasien exzellente fachliche und soziale Kompetenzen sowie klare Orientierungsmaßstäbe für die Beurteilung gesellschaftlicher (Fehl-)Entwicklungen vermittelt.

Als Forscher war Martin Baethge bis zuletzt tätig und erfuhr für sein konstruktives, begrifflich präzises und innovatives Denken höchste Wertschätzung innerhalb der Wissenschaftszunft sowie weit darüber hinaus. Seine Forschungsarbeiten und seine Impulse für den Auf- und Ausbau eines leistungsstarken, gleichermaßen auf wissenschaftliche Arbeit wie auf politische Wirkung ausgerichteten Forschungsinstituts folgten der Maxime einer empirisch exzellenten Diagnosefähigkeit für gesellschaftliche Strukturmerkmale und Umbrüche sowie dem Aufklärungsanspruch einer kritischen Soziologie, verortet im konflikttheoretischen Strang der Sozialwissenschaft und damit im Widerstreit zu System- und Modernisierungstheorie.

Mit seiner ersten großen Veröffentlichung, der Dissertationsschrift Ausbildung und Herrschaft. Unternehmerinteressen in der Bildungspolitik,[1] legte Martin Baethge offen, wie in konkreten historischen Situationen in Deutschland Wirtschaftsinteressen in politische Herrschaft umgesetzt und damit die Grundsätze einer auf Chancengleichheit und Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen ausgerichteten demokratischen Ordnung unterlaufen wurden. Mit seinen bildungssoziologischen Arbeiten – in den letzten zwei Jahrzehnten fest verankert im Forschungsverbund der nationalen Bildungsberichterstattung – ging es Martin Baethge um die empirische Nachzeichnung von Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit. Auf der Basis immer wieder neu erarbeiteter empirischer Befunde setzte er sich gemeinsam mit gesellschaftlichen Reformkräften für eine Modernisierung und Demokratisierung des Bildungssystems ein. So sehr dabei in den 1970er-Jahren und auch später noch Erfolge zu verzeichnen waren, so sehr sind bis heute grundlegende strukturelle Defizite wie eine kaum vorhandene Flexibilität im Übergang zwischen dem dualen und dem akademischen Berufsbildungssystem nicht überwunden worden. In den Arbeiten von Martin Baethge finden sich gut durchdachte Vorschläge zur Veränderung solcher für Wirtschaft und Gesellschaft entwicklungshemmenden institutionellen Defizite.

Eine Demokratisierung des Bildungssystems war für Martin Baethge ohne eine Demokratisierung des Wirtschaftssystems und der dort vorherrschenden Arbeitskonzepte nicht vorstellbar. Es war insofern nur konsequent, dass er sein Forschungsinteresse über bildungssoziologische Arbeiten hinaus auch auf Fragen zur Zukunft der Arbeit richtete. Horst Kern und Michael Schumann hatten mit zwei empirischen Arbeiten in den 1960er- und frühen 1980er-Jahren die Umbrüche industrieller (Fach-)Arbeit durch technologische Neuerungen und innovative Organisationskonzepte vermessen.[2] Das Überdauernde dieser beiden industriesoziologischen Klassiker lag für Martin Baethge in ihrer Verbindung einer schlüssigen Deutung der Dynamik technischer und organisatorischer Rationalisierungsprozesse in der industriellen Produktion mit einer gesellschaftlichen Reformperspektive, die auf eine humanere Arbeitswelt mit erweiterten Partizipationschancen der abhängig Beschäftigten zielt. Die hier genannten Stichworte markierten von Anbeginn an die zentralen Ziele des SOFI: Mit Forschung nicht im akademischen Elfenbeinturm zu verharren, sondern mit den vielfältigen Instrumenten einer theoretisch fundierten empirischen Sozialforschung neue gesellschaftliche Probleme aufzudecken und Handlungsperspektiven für deren Lösung aufzuzeigen. Wieweit es auch Martin Baethge und mir in unserer Studie zu Rationalisierungsprozessen und beruflichen Perspektiven von kaufmännisch-verwaltenden Angestellten gelungen ist,[3] zentrale Umbrüche in diesem quantitativ immer bedeutsameren Bereich gesellschaftlicher Arbeit zu erfassen und zu deuten, darüber mögen auch weiterhin die Fachkolleglnnen befinden. Eine unserer Thesen, die Durchsetzung einer neuen „systemischen Rationalisierungslogik", die nicht nur auf innerbetriebliche Arbeitsprozesse, sondern auch auf die Veränderung von Marktvorgängen und interaktiven Kundenbeziehungen abzielt, stand in den Rezeptionen des Buches Zukunft der Angestellten im Vordergrund. Mit der in den letzten Jahren angelaufenen neuen Digitalisierungswelle von Produktions- und Dienstleistungsarbeit dürfte diese Analyse- und Interpretationsperspektive an Gewicht gewinnen und neue Untersuchungen zur Zukunft von Dienstleistungsarbeit befruchten können.

Martin Baethge hat sich immer wieder mit den über die Arbeitswelt hinausweisenden Problemen des Übergangs der bundesrepublikanischen Industriegesellschaft in eine von tertiären Wirtschaftssektoren geprägte Gesellschaft auseinandergesetzt. In breit rezipierten Aufsätzen hat er das bis heute nicht gelöste Verharren gesellschaftlicher Institutionen in den Ordnungsprinzipien und Regulationsweisen der Industriegesellschaft aufgezeigt und auch hier anstehenden Reformbedarf sowie Lösungskonzepte skizziert. Zugleich ging es ihm in seinen Veröffentlichungen der 2000er- und 2010er-Jahre um methodisch angemessene Zugangsformen und Typisierungskonzepte für die sehr heterogenen Formen und Anforderungsprofile von Dienstleistungsarbeit.[4]

Die Universitätsstadt Göttingen war der Lebens- und Arbeitsmittelpunkt von Martin Baethge. Privat wie als Wissenschaftler fühlte er sich hier zu Hause und war doch gleichwohl hoch mobil. Mit seinem Charme und seiner Weltläufigkeit hat er im In- und Ausland zahlreiche Freundschaftsbeziehungen und wissenschaftliche Netzwerke geknüpft und gepflegt. Studien- und Forschungsreisen – u.a. sehr früh nach Israel, später nach Argentinien – Forschungskooperationen unter dem Dach der OECD, Lehraufenthalte am Institut für Höhere Studien in Wien und am MIT in Boston sowie Vortragsreisen, etwa in die frühere Sowjetunion, nach Japan und in einige der deutschen Nachbarstaaten, haben ihm wie den mit ihm zusammenarbeitenden Kolleglnnen viele Anregungen für international vergleichende Studien von beruflichen Sozialisations- und Arbeitsprozessen vermittelt.

Rufe an die Technische Universität Berlin sowie an die Universität Bielefeld hat Martin Baethge abgelehnt, er sah seinen zentralen Platz in der Göttinger Universität und am Soziologischen Forschungsinstitut. Als 1968 Hans Paul Bahrdt mit sechs Assistenten (M. Baethge, H. Friedrich, U. Herlyn, H. Kern, M. Osterland, M. Schumann) das SOFI als außeruniversitäres, nicht-kommerzielles Forschungsinstitut in der Rechtsform eines gemeinnützigen Vereins gründete, verstanden die Initiatoren diesen Schritt als Antwort auf die damalige hochschul- und forschungspolitische Situation. Mit der starken Expansion der Studierendenzahlen hielt der Personalausbau nicht Schritt, die Möglichkeiten für universitäre Sozialforschung schrumpften. Um die bereits in Angriff genommenen Forschungen in gesicherter personeller Kontinuität weiterführen und ausbauen zu können, waren neue Forschungsstrukturen geboten. Martin Baethge und Michael Schumann sind über die Anfangsjahre des SOFI hinaus zweifellos die zwei prägendsten Figuren dieses demnächst auf 50 Jahre zurückblickenden Instituts geworden. Sie haben als langjährige Direktoren und spätere Präsidenten im Team mit Sozialwissenschaftlerlnnen jüngerer Generationen dem SOFI einen markanten Platz in der sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft gesichert. Der plötzliche Tod von Martin Baethge reißt hier sowohl menschlich als auch wissenschaftlich eine große Lücke. Die weitere Institutsarbeit wird nicht zuletzt unter dem Vorzeichen der Erinnerung an diese herausragende Forscherpersönlichkeit stehen.

  1. Martin Baethge, Ausbildung und Herrschaft. Unternehmerinteressen in der Bildungspolitik, Frankfurt am Main 1970.
  2. Horst Kern/Michael Schumann, Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein, 2 Bände, Frankfurt am Main 1970; Horst Kern/Michael Schumann, Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion: Bestandsaufnahme, Trendbestimmung, München 1984.
  3. Martin Baethge/Herbert Oberbeck, Zukunft der Angestellten. Neue Technologien und berufliche Perspektiven in Büro und Verwaltung, Frankfurt am Main/New York 1986.
  4. Exemplarisch: Martin Baethge, Abschied vom Industrialismus, in: ders./Ingrid Wilkens (Hg.), Die große Hoffnung für das 21. Jahrhundert? Perspektiven und Strategien für die Entwicklung der Dienstleistungsbeschäftigung, Opladen 2001, S. 23–44; Martin Baethge, Die Arbeit in der Dienstleistungsgesellschaft, in: Adalbert Evers/Rolf G. Heinze/Thomas Olk (Hg.), Handbuch Soziale Dienste, Wiesbaden 2011, S. 35–61.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Gesellschaft Bildung / Erziehung Arbeit / Industrie

Herbert Oberbeck

Herbert Oberbeck (Jg. 1950) ist seit 1996 Professor für Soziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Technischen Universität Braunschweig. Seine thematischen Schwerpunkte liegen in der Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationssoziologie. Von 1977 bis 1987 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI), von 1988 bis 1996 war er gemeinsam mit Martin Baethge und Michael Schumann im Direktorium des SOFI.

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