Peter Imbusch | Nachruf |

Johan Galtung

Ein Nachruf

Johan Galtung auf einer Konferenz im Jahr 2011
Johan Galtung auf einer Konferenz im Jahr 2011, © giger marcel / snow-world.ch via Wikimedia Commons

Im Februar verstarb der norwegische Sozialwissenschaftler und Begründer der Friedens- und Konfliktforschung Johan Galtung im Alter von 93 Jahren. Er hat 1959 das Peace Research Institute Oslo (PRIO) ins Leben gerufen, seinerzeit das erste Friedensforschungsinstitut Europas; 1964 erschien erstmals das von ihm herausgegebene Journal of Peace Research, welches sich bis heute in interdisziplinärer wie internationaler Perspektive mit Fragen von Gewalt und Konflikt auseinandersetzt. 1969 wurde Galtung zudem von der norwegischen Regierung auf die erste Professur für Friedens- und Konfliktforschung berufen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen nationalen wie internationalen Rangs, etwa den Gandhi-Preis (1993), den norwegischen Brage-Literaturpreis (2001), den Koreanischen DMZ Friedenspreis (2010) und den Abdul Ghaffar Khan-Friedenspreis (2011) sowie diverse Ehrungen (unter anderem mehrere Ehrendoktorwürden). Von 1987 an war er ebenfalls Träger des als alternativer Nobelpreis geltenden Right Livelihood Award.

Der in Oslo geborene Galtung absolvierte zunächst ein Studium der Mathematik an der Universität Oslo und machte dort 1956 seinen ersten Abschluss. Ein Jahr später folgte sein Ph.D. in Soziologie an derselben Universität. Von 1953 bis 1957 war er Assistent des norwegischen Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Arne Næss, mit dem er die politische Ethik der Philosophie Mahatma Gandhis erforschte – ein Thema, das ihn Zeit seines Lebens begleitete. Von 1957 bis 1960 war Galtung als Associate Professor am Institut für Soziologie der University of Columbia tätig, wo er mit Paul Lazarsfeld und Robert Merton in Kontakt kam. Aus dieser Begegnung ergaben sich Kollaborationen: Lazarsfeld und Galtung gingen gemeinsam der Weiterentwicklung soziologischer Methoden nach, mit Merton arbeitete Galtung an den wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Grundlagen gesellschaftswissenschaftlicher Theoriebildung. Diese Kooperationen inspirierten Galtung dazu, eine eigene Konfliktheuristik zu entwickeln, die ausgewählte Analysemethoden aus unterschiedlichen akademischen Disziplinen in sich vereinte. Sie sollte dazu dienen, Konflikte auf allen gesellschaftlichen Ebenen sowie ihre Ursachen, Triebkräfte und Folgen differenzierter analysieren und entsprechend besser transformieren zu können. 1969 wurde er Professor für Friedens- und Konfliktforschung an der Osloer Universität. Nach seinem Rückzug von dort im Jahr 1979 arbeitete er noch bis ins hohe Alter an zahlreichen anderen Universitäten, unter anderem in Santiago de Chile, an der United Nations University in Genf, in Columbia, Princeton und nicht zuletzt als Distinguished Professor of Peace Studies an der University of Hawaii und der Ritsumeikan University in Kyoto.

Galtung war Zeit seines Lebens eine schillernde und zugleich umstrittene Persönlichkeit. Zu seinen Verdiensten muss man neben der frühen Begründung der akademischen Disziplin der Friedens- und Konfliktforschung wohl auch die Weiterentwicklung des Konzepts der sozialen Verteidigung sehen. Angesichts der Todesopfer, der Verheerungen und Zerstörungen eines jeden Krieges betonte er den Unterschied zwischen territorialer und sozialer Verteidigung, den er an der Frage festmachte, was auf welche Weise verteidigt werden müsse und könne. Unter sozialer Verteidigung verstand er die gewaltlose Verteidigung und Durchsetzung der eigenen Lebensweise. Dabei arbeitete Galtung nicht nur die historischen Erfahrungen mit gewaltlosem Widerstand auf, sondern bezog deren einzelne Methoden auch auf jeweils unterschiedliche Bedrohungsszenarien.

Bekannt gemacht hat den norwegischen Sozialwissenschaftler auch die Prägung zentraler Begriffe der Friedens- und Konfliktforschung, wie etwa (1) der Terminus der „strukturellen Gewalt“, (2) der Begriff des „positiven Friedens“ oder (3) die Fassung des Begriffs der „kulturellen Gewalt“.

(1) Unter „struktureller Gewalt“ verstand er in Ergänzung zum handlungstheoretischen, direkten physischen Gewaltbegriff die aus den Strukturen oder der Verfasstheit eines Gesellschafts- oder Weltsystems resultierenden Benachteiligungen und Beeinträchtigungen von Menschen, denen zwar keine unmittelbaren und direkten Täter zuzuordnen sind, die aber gleichwohl für die Opfer in ihren Konsequenzen eine Art von Gewalt darstellen. Ein Bewertungskriterium war für Galtung dabei die grundsätzliche Vermeidbarkeit dieser Benachteiligungen angesichts des Entwicklungsniveaus einer Gesellschaft beziehungsweise der Menschheit.

(2) In Bezug auf den Begriff des „positiven Friedens“ kritisierte er, dass Frieden herkömmlicherweise schlichtweg als Abwesenheit von Krieg verstanden wurde. Dies stellte für ihn jedoch lediglich eine negative Sichtweise auf den Frieden dar, die zwar unterstrich, dass Frieden Krieg vermeidet, dabei aber ausblendete, dass auch ‚friedliche Zeiten‘ mit anderen Gewaltverhältnissen einhergehen können. Mit seinem „positiven Friedensbegriff“ betonte er hingegen die viel größere Komplexität tatsächlich friedlicher Verhältnisse, in denen gesellschaftliche Gewaltformen ausgeschlossen und entsprechende Gesellschaftsstrukturen dafür geschaffen werden sollten.

(3) Die „kulturelle Gewalt“ bildete für Galtung schließlich zusammen mit der direkten und strukturellen Gewalt die sogenannte „Trias der Gewalt“. Unter „kultureller Gewalt“ verstand er – nicht unähnlich der symbolischen Gewalt Bourdieus – diejenigen Aspekte einer Kultur, die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt zu legitimieren. Dabei dachte er beispielsweise an Phänomene wie Religion, Ideologie, Sprache und Kunst, aber auch an die empirischen oder formalen Wissenschaften.

Für die Journalistik und Kommunikationswissenschaft ist noch die bereits 1965 gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Mari Holmboe Ruge erarbeitete Theorie der sogenannten Nachrichtenfaktoren von Bedeutung. Sie kann als Vorläufer der sogenannten Nachrichtenwerttheorie verstanden werden. Der Nachrichtenwert einer Information entscheidet letztlich darüber, ob ein bestimmtes Ereignis in den Medien überhaupt als berichtenswert gilt und wieviel Sendezeit ihm eingeräumt beziehungsweise in welcher Weise es präsentiert wird. Denn neben der Bedeutsamkeit eines Ereignisses an sich sind es noch etliche andere Faktoren, die bestimmen, dass wir in den Medien etwas darüber erfahren. Hier geht es nicht zuletzt um die Besonderheit negativer Ereignisse wie Katastrophen, Verbrechen, Kriege und Konflikte, die durch die Häufigkeit und Art der Berichterstattung unsere Wahrnehmung oftmals strukturieren oder gar zu Wahrnehmungsverzerrungen führen.

Ebenfalls zu nennen sind die mit dem Kriminologen Jake Lynch erarbeiteten Methoden eines Friedensjournalismus. Galtung kritisierte darin eine in der Regel unkritische Berichterstattung über Kriege und Konflikte mit einfachen Erklärungsansätzen und manichäischen Weltbildern. Mit ihrem Ansatz plädierten Galtung und Lynch dafür, dass Friedensjournalismus einerseits über Hintergründe und Ursachen von Kriegen und Konflikten aufklären und möglichst friedliche Lösungsmöglichkeiten aufzeigen solle. Andererseits kämen den Medien und Redakteur:innen im Friedensjournalismus weniger die Rolle ‚unabhängiger Berichterstatter‘ zu, sondern vielmehr die von Vermittler:innen zwischen den Konfliktparteien, mit dem Ziel der Deeskalation. In anderen Worten: Medien sollten jedenfalls keine Kriege führen – im Gegenteil.

Galtungs Begriffsprägungen – allen voran der Terminus der „strukturellen Gewalt“ –, gelten als umstritten, sind sie den meisten Gewaltforscher:innen doch zu vage, zu unbestimmt, zu breit. Diese Vagheit beziehungsweise Unbestimmtheit von Begrifflichkeiten schlug sich auch in Galtungs Tätigkeit in Mediations- oder Konfliktschlichtungsverfahren nieder. In seinen späteren Arbeiten sind sie als dominierender Zug seiner Schriften erkennbar, der mit einer beträchtlichen voluntaristischen Willkür in Bezug auf konkrete Lösungsvorschläge in Konfliktfällen einherging. Dies zeigte sich etwa in dem von Galtung 1992 gegründeten „TRANSCEND – Netzwerk für Frieden, Entwicklung und Umwelt“. Hauptaufgabe des Netzwerkes war eine theoriegeleitete und lösungsorientierte Konfliktmediation auf Basis der von Galtung maßgeblich entwickelten praxeologischen Grundannahmen von Empathie, Gewaltlosigkeit und Kreativität. Mit der Trascend-Methode sollen Konflikte nach einem bestimmten Schema und mit friedlichen Mitteln transformiert werden; die Erläuterungen zu den einzelnen Bausteinen bleiben dabei recht allgemein. Zwar wird man den wesentlichen Komponenten und anvisierten Zielen der Konfliktlösung, Wiedergutmachung und Versöhnung in ihrer Bedeutung nicht widersprechen können, aber kaum ein Konflikt bringt eine quasi automatische Bereitschaft aller Konfliktparteien zum Frieden oder gar die Fähigkeit zur Transzendenz der Konflikte durch die Konfliktparteien mit sich. Galtung selbst wandte seine multidimensionale Transcend-Methode der systematischen Dialogführung auch in Mediations- und Beratungseinsätzen an – allerdings ohne, dass diese eine größere Strahlkraft entfaltet hätte. Ihm schienen Konflikte – egal auf welcher Ebene sie stattfanden – immer gleichwertig und leicht lösbar zu sein. Auch seine „Konflikt-Triangel“, auch ABC-Triangle genannt (das Akronym steht für „attitudes, behavior und contradiction“), erachteten versierte Friedens- und Konfliktforscher:innen eher als theoretisch aufgeladene Binsenweisheiten denn als tragfähiges wissenschaftliches Konzept. Das Modell müsse, so ihre Forderung, in concreto inhaltlich spezifiziert werden, um sinnvoll anwendbar zu sein. Nicht zuletzt war die internationale Konfliktforschungs-Community ob seiner Person deutlich gespalten: Dem Lager radikaler Kritiker:innen und Gegner:innen des Galtung‘schen Denkens standen treue Anhänger:innen gegenüber, die sich – in einer Art Personenkult – um ihn scharrten und alles lobpreisten, was ‚ihr Meister‘ schrieb und sagte. Für differenzierende Positionen dazwischen blieb kaum Platz – zumal Galtung sich selbst in der wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit durch seine beizeiten bizarren und mehr als gewagten politischen Einschätzungen – etwa in Bezug auf die USA oder Israel – in Misskredit brachte.

Johan Galtung hat in seiner langen akademischen Laufbahn über 1000 wissenschaftliche Artikel und zahlreiche Bücher verfasst. Er hat – bei aller Kritik – sein Lebenswerk dem Frieden gewidmet und den Einsatz von Gewalt stets verdammt. Sein Vermächtnis sollte uns in der unruhigen Gegenwart eine Mahnung sein, nach friedlichen und konstruktiven Lösungen für kriegerische Konflikte zu suchen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Gesellschaft Gewalt Medien Militär Öffentlichkeit Politik Sicherheit

Peter Imbusch

Prof. Dr. Peter Imbusch ist Professor für Politische Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen bei den Themenfeldern soziale Ungleichheit und Eliten, Macht und Herrschaft, soziale Konflikte und Gewalt (hier insbesondere Legitimationen politischer Gewalt).

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