Markus Hochmüller | Rezension |

Kampfplatz Stadt

Rezension zu „Cities at War. Global Insecurity and Urban Resistance“ von Mary Kaldor und Saskia Sassen (Hg.)

Mary Kaldor / Saskia Sassen (Hg.):
Cities at War. Global Insecurity and Urban Resistance
USA
New York 2020: Columbia University Press
S. 250, EUR 60,89
ISBN 978-0-231-18539-4

Der kürzlich bei Columbia University Press erschienene Sammelband Cities at War. Global Insecurity and Urban Resistance befasst sich mit den komplexen Unsicherheitsdynamiken in urbanen Räumen. Herausgegeben wurde das Buch von zwei maßgeblichen Stimmen der Sozialwissenschaften, der emeritierten Professorin für Global Governance, Mary Kaldor, und der Soziologin Saskia Sassen. Ende der 1990er-Jahre hatte Kaldor mit ihrem Buch New and Old Wars. Organized Violence in a Global Era eine bisweilen kontrovers geführte Diskussion über den sich wandelnden Charakter bewaffneter Konflikte nach Ende des Kalten Krieges angestoßen. Die Arbeiten von Saskia Sassen, insbesondere zur Stadt in einer globalisierten Welt, prägten nachhaltig das Feld der Urban Studies.

Weil Städte, so die grundlegende Annahme des Buchs, eine zentrale Rolle in den Kriegen des 21. Jahrhunderts einnehmen, bringt der vorliegende Band nun Sassens Konzept der „urban capabilities“ und Kaldors Ansatz der Neuen Kriege in einen innovativen Dialog. Die Herausgeberinnen betrachten Städte gleichermaßen als Ressourcen und Schauplätze kriegerischer Auseinandersetzungen. Ihr Verständnis gegenwärtiger Konflikte verweist auf Kaldors frühere Arbeiten, in denen sie den zunehmenden Netzwerkcharakter, die wachsende Relevanz von Identitätskonflikten, eine Verschiebung hin zur asymmetrischen Kriegsführung sowie die massive Gewalt gegenüber Zivilist*innen als entscheidende Kriegskomponenten im 21. Jahrhundert ausmacht. In Kombination mit Sassens globalem Blick auf die urban condition arbeiten die Herausgeberinnen in der Einleitung des Bandes diejenigen Konfliktdynamiken heraus, die die Grenzen des Nationalstaats überschreiten und die für die Untersuchung von Krieg und Konflikt im globalen Süden relevant sind. Sie fokussieren hierbei insbesondere auf zwei Paradigmen, die sie als „Sicherheitskulturen“ bezeichnen (ein Begriff, der auf neuere Arbeiten Kaldors zurückgeht): War on Terror (WoT) und Liberal Peace. Ihrer Argumentation nach basieren urbane Unsicherheiten auf der unscharfen Trennlinie zwischen Konflikt und Kriminalität sowie auf einer wachsenden Pluralität nichtstaatlicher Gewaltakteure. Lokale Unsicherheiten in städtischen Kontexten würden von den genannten globalen Sicherheitskulturen mitunter verschärft, vor allem wenn sie sich miteinander verschränken.

Neben ihrem Interesse an komplexen Unsicherheitsdynamiken, so machen Kaldor und Sassen einleitend deutlich, wollen sie vor allem die Möglichkeiten urbaner Erneuerung und lokalen Widerstands ausloten. Selbst in hochumkämpften Städten seien stets lokale Fähigkeiten vorzufinden, die zur Konfliktlösung beitragen könnten, wobei jedoch immer die Gefahr bestünde, dass die jeweiligen Konfliktparteien sich die Ressourcen missbräuchlich angeeigneten. Es sind also diese „urban capabilities“ (S. 15–18), die die Herausgeberinnen stärker in den Mittelpunkt der Debatte rücken möchten, um Konfliktdynamiken in der Stadt besser zu verstehen. Darüber hinaus könnten lokale Koalitionen von Bürger*innen die Fähigkeiten ihrer städtischen Umgebungen nutzen, um vorhandene Unsicherheiten sowie exkludierende und repressive Versicherheitlichungsprozesse in der Stadt zu überwinden und Wege zu finden, ihre Städte zu inklusiveren Orten zu transformieren.

Kaldor und Sassen versammeln in ihrem Band acht Fallstudien, die konflikthafte urbane Räume analysieren. Die ersten drei Beiträge zeigen anhand von Bamako, Kabul und Bagdad, wie internationale Interventionen, die auf die Wiederherstellung von Sicherheit abzielen, letztlich urbane Konflikte weiter verstärken: Anstatt das Leben der Stadtbewohner*innen sicherer zu machen, nehmen die intervenierenden Akteure eine – räumlich wie symbolisch – ordnende Funktion ein, die bestehende Ungleichheiten und Unsicherheiten eher befördert denn beseitigt. Derartige nichtintendierte Folgen internationaler Friedenseinsätze, humanitärer Missionen und militärischer Interventionen werden in der Praxis immer wieder aufs Neue ignoriert und müssen, wie die Aufsätze überzeugend zeigen, bei einer Analyse der urban condition unbedingt mitgedacht werden.

Anknüpfend an wegweisende Forschungsarbeiten wie David Mosses Adventures in Aidland[1] oder Séverine Autesserres Peaceland[2] zeigt der Beitrag von Ruben Andersson, wie der Einsatz der Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali (MINUSMA) globale Ungleichheiten auf lokaler Ebene reproduziert: Der durch die Intervention ausgelöste „distance-making process“ (S. 31) erzeugt eine doppelte Hierarchie (auch hier: räumlich und symbolisch) zwischen den Intervenierenden und der lokalen Bevölkerung – mit fatalen Auswirkungen auf die Unterstützung der Mission im Land und die dortige Sicherheitslage. Ähnliche Tendenzen arbeiten die Beiträge von Florian Weigand und Ali Ali heraus, die die Interventionen der USA untersuchen, die nach den Anschlägen vom 11. September in Afghanistan und Irak stattfanden. Und auch am Beispiel Mexiko zeigt sich, wie „global warriors“ (S. 113) im Kontext des WoT zu einer Verbreitung repressiver Konfliktlösungsansätze, über Ländergrenzen hinweg, beitragen.

Der Band macht demnach deutlich, wie die von Repression geprägten Strategien einen „Teufelskreis“ – den Begriff verwenden einige der Autor*innen – urbaner Unsicherheit reproduzieren. Die Logik des WoT wirkt sich sogar ohne direkte externe Interventionen auf jene Städte und ihre Bevölkerung aus, die als urbane Risikoräume und -populationen klassifiziert werden, wie Sobia Ahmad Kaker mit einer Studie zu Karachi illustriert. Die Autorin beschreibt eindringlich einen spezifischen Prozess der Versicherheitlichung, den sie als „enclavization“ (S. 136) bezeichnet. Das Versprechen erhöhter Sicherheit werde letztlich in vielen umkämpften urbanen Kontexten nicht eingelöst: „[T]he prospect of security is more performative than it is effective.“ (S. 150) Gepaart mit der Kriminalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen (so beispielsweise auch in Bogotá, dessen oft gepriesenen Modellcharakter Johannes Rieken, Efraín García-Sánchez und Daniel Baer kritisch in den Blick nehmen) und zunehmender ökonomischer Ungleichheit führt die performative Dimension von Sicherheit eher zu einer Abnahme gegenseitigen Vertrauens denn zu einem Zuwachs. Dadurch kann sich die Distanz zwischen Eliten und der Bevölkerung zusätzlich vergrößern, wie Vesna Bojicic-Dzelilovics Studie zur serbischen Stadt Novi Pazar zeigt. Durch die erodierte soziale Kohäsion fehlt den Stadtbewohner*innen zuweilen der gemeinsame Handlungsrahmen, um den geteilten urbanen Raum neu zu denken und zu gestalten.

Die Fallstudien machen deutlich, wie umkämpft die urbanen Räume sind, und dass sich ein Ausweg aus Gewalt und Unsicherheit nur schwer finden lässt. Die städtischen Krisengebiete sind nicht selten ambivalent besetzt. So ist beispielsweise das kongolesische Goma, wie Karen Büscher zeigt, zwar ein sicherer Rückzugsraum für die vom Krieg geplagte rurale Bevölkerung, in diesem ist sie jedoch weiterhin einer „social and economic insecurity“ (S. 169) ausgesetzt.

Leider bettet der Sammelband die verhandelten Fallbeispiele nur streckenweise in globale Zusammenhänge ein. Dass dies aber sehr gewinnbringend sein kann, zeigt auf eindrückliche Weise der Aufsatz von Mary Martin, in dem die Autorin multiple Unsicherheiten als Folge transnationaler Sicherheitsdynamiken begreift. Sie arbeitet anhand der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez überzeugend die wirtschaftlichen, sozialen, (sicherheits-)politischen, aber auch ideologischen und kriminellen Verflechtungen zwischen globalem Norden und globalem Süden heraus. Dabei versteht sie die Stadt weniger als Kriegsschauplatz, sondern greift Kaldors Konzept der „Sicherheitskulturen“ auf und entwickelt dieses produktiv weiter: „border security culture“, „neoliberal culture“ und „public or citizen security culture“ griffen, so Martin, ineinander, wobei die beiden erstgenannten die bestehende Unsicherheit verstärken und die Sicherheit der Bürger*innen unterminieren würden. Zudem wird in Martins Beitrag deutlich, welch fatale Auswirkungen die Militarisierung öffentlicher Sicherheit haben kann. Trefflich fasst sie die Paradoxien der mexikanischen Sicherheitspolitik zusammen: „The security presence generated fear and disrespect.“ (S. 115) Aufgrund der Versicherheitlichung urbaner Räume entsteht eine Stadt, die stärker von den „perceptions and understandings of outsiders“ (S. 107) geprägt ist als von lokalen Erwartungen an ein sicheres Leben. Die Verschränkung von Drogenkrieg, WoT und den perversen Entgleisungen eines ungezügelten Sweatshop-Kapitalismus lässt Martin zufolge ein Klima der Straflosigkeit entstehen, das vor allem zulasten der marginalisiertesten Teile der Bevölkerung geht.

Die für die urbanen Räumen des globalen Südens weit verbreitete Kriegsrhetorik trägt nicht zuletzt zur Entwicklung und Implementierung repressiver Sicherheitspolitiken bei. Sie findet sich mitunter auch in der akademischen Debatte, dabei müsste sie gerade von dieser kritisch beleuchtet werden. Diesbezüglich bleibt der Band bisweilen hinter den Erwartungen zurück, wenn er die gerade in den umkämpften Städten des globalen Südens eklatante empirische Überlagerung von Krieg, Konflikt und Kriminalität analytisch übernimmt anstatt sie zu hinterfragen. Mit Aussagen wie „Today, the urban built environment has become the equivalent of jungles and mountains.“ (S. 2) laufen die Herausgeberinnen Gefahr, urbane Räume samt ihrer diversen Unsicherheitsdynamiken eindeutig als Kriegsschauplätze zu verstehen und dadurch analytisch wichtige Grenzen zu verwischen.

Zudem bleibt die Frage unbeantwortet, worin der spezifisch urbane Charakter der Unsicherheit und der urban capabilities liegt. In ihrem Schlusswort betonen die Herausgeberinnen die Chancen, die in der Komplexität und Unabgeschlossenheit des urbanen Lebens liegen. Die versammelten Beiträge zeigen aber eindrücklich, dass sich Krieg, Kriminalität und Konflikt in urbanen Räumen nur schwer überwinden lassen und wie sowohl lokale als auch transnationale Reformbemühungen Ungleichheiten und Unsicherheiten nicht beseitigen, sondern reproduzieren. Es steht daher zu befürchten, dass Kaldor und Sassen – in Verwandtschaft zum gegenwärtig omnipräsenten Konzept der „Resilienz“ – die potenzielle Widerstandsfähigkeit der Stadtbevölkerung überbetonen. Denn bei allem Fokus auf Widerstand durch die und in der lokalen Bevölkerung ist es entscheidend, insbesondere den Staat nicht aus dem Blick zu verlieren. Allzu häufig versuchen politische Entscheidungsträger*innen, Debatten über lokale Transformation und Resilienz zu nutzen, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Anstatt selbst eine inklusivere, gerechtere Stadtpolitik zu ermöglichen, wollen sie diese Aufgabe auf die vermeintlich kreativen und anpassungsfähigen Bürger*innen abwälzen.[3]

Wie sich zeigt, bietet der Band Anknüpfungspunkte für unzählige aktuelle Debatten, beispielsweise zu den Ursachen gegenwärtiger Konflikte oder den Folgen international zirkulierender Sicherheitsparadigmen. Zudem trägt er zu einem besseren Verständnis der Situation von Bewohner*innen unsicherer Städte bei und zeigt die Chancen und Grenzen lokalen Widerstands gegen ebendiese Unsicherheit auf. Somit haben es die Herausgeberinnen trotz der genannten Kritik erneut geschafft, einen stimulierenden Debattenbeitrag zu leisten, der nicht nur in Seminarräumen, sondern auch in der politischen Arena wahrgenommen werden wird. Er kann – und sollte – dadurch das Denken über Konflikte in der Stadt und die nachhaltige Schaffung friedlicher Koexistenz in urbanen Räumen beeinflussen.

  1. David Mosse (Hg.), Adventures in Aidland. The Anthropology of Professionals in International Development, New York 2011.
  2. Séverine Autesserre, Peaceland. Conflict Resolution and the Everyday Politics of International Intervention, New York 2014.
  3. Ähnliches betonten neoliberalismuskritische Positionen auch in der Resilienzdebatte, siehe beispielsweise Jonathan Joseph, Resilience as Embedded Neoliberalism. A Governmentality Approach, in: Resilience. International Policies, Practices and Discourses 1 (2013), 1, S. 38–52.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Stadt / Raum Sicherheit Gewalt

Markus Hochmüller

Markus Hochmüller ist Postdoctoral Research Fellow am Changing Character of War Center der Universität Oxford. Er hat 2018 an der Freien Universität Berlin in Politikwissenschaft promoviert und beschäftigt sich mit Sicherheitspolitik in Lateinamerika.

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