Juliane Noack Napoles | Rezension |

Mehr als ein Kampfbegriff

Rezension zu „Was denn bitte ist kulturelle Identität? Eine Orientierung in Zeiten des Populismus“ von Ursula Renz

Ursula Renz:
Was denn bitte ist kulturelle Identität? Eine Orientierung in Zeiten des Populismus
Schweiz
Basel 2019: Schwabe Verlag
S. 133, CHF 23,00
ISBN 978-3-7965-3912-1

Derzeit ist in öffentlichen Debatten häufig von „kultureller Identität“ die Rede. Von rechter wie von linker Seite wird der Begriff ins Feld geführt, sei es, um sich affirmativ auf ihn zu berufen oder um ihn vehement zu kritisieren. Was er genau bedeutet, dürfte dabei mitunter selbst denjenigen, die ihn lautstark im Munde führen, nicht immer klar sein. An dieser Stelle setzt das Buch von Ursula Renz an, mit dem sie sich sowohl an thematisch interessierte Laien als auch an Philosophinnen und Philosophen richtet, die sich damit auseinandersetzen wollen, was ihre Disziplin zum Begriff der kulturellen Identität zu sagen hat (S. 10). Die Autorin, ihres Zeichens gebürtige Schweizerin und seit 2020 Professorin für Philosophie an der Universität Graz in Österreich, möchte nicht primär zum Fachdiskurs beitragen. Ihre begrifflichen Einsichten speisen sich vielmehr aus der Reflexion ihrer eigenen beruflichen Erfahrungen im Nachbarland. Dabei geht es ihr dezidiert nicht darum, Lösungen zu präsentieren, sondern zum eigenen Nachdenken einzuladen.

Im Mittelpunkt des schmalen, 107 Seiten umfassenden Bändchens steht die Frage nach dem Kränkungspotenzial von Identitätszuschreibungen (S. 25). Als erste Annäherung macht Renz zu Beginn auf drei Grundprobleme aufmerksam, die mit Aussagen über die Identität anderer Menschen einhergehen. Erstens enthielten diese oft Annahmen über Zugehörigkeiten. Zweitens würden Zuschreibungen häufig als Ausschlussverfahren formuliert – nach dem Motto: Wenn du das Eine bist, kannst du nicht gleichzeitig das Andere sein. Und drittens werde vielfach versucht, Identitäten durch Historisierung zu ontologisieren. Renz weist jedoch darauf hin, dass jedes Bestreben, sich zu integrieren, vergeblich wäre, würde Geschichte tatsächlich die eigene Identität prädeterminieren. Vor dem Hintergrund dieses Problemaufrisses bemüht sich Renz in den sechs Kapiteln um eine systematische Klärung der Fragen, warum wir derart verletzlich sind, wenn es um unsere Identität geht, und weshalb das Reden über Identität so heikel ist (S. 18).

Im ersten Kapitel (S. 13–26) geht Renz daran, den Mechanismus, anderen eine bestimmte Identität zuzuschreiben, näher zu beleuchten. Dafür rekurriert sie auf Adornos negative Dialektik, deren bleibendes Verdienst sie darin sieht, auf das Gewaltpotenzial von Identitätszuschreibungen aufmerksam gemacht zu haben. Im Unterschied zu Adorno hält Renz jedoch an der Auffassung fest, „dass ein Urteilen oder Denken in Begriffen möglich ist, in dem kein Gewaltakt vollzogen wird, und mithin das Kränkungspotential von Identitätszuschreibungen entschärft werden kann, ohne auf begriffliches Denken zu verzichten“ (S. 24). Das geeignete Mittel zur Entschärfung glaubt die Autorin gerade im begrifflichen Denken selbst finden zu können, das im Modus der Selbstreflexion in der Lage sei, gewissen Begriffen zugrundeliegende, implizite Annahmen aufzudecken. Ursula Renz betont zudem, dass nicht bei jeder Anwendung eines identifizierenden Begriffes verbale Gewalt im Spiel sein müsse. Eine identifizierende Aussage anderen gegenüber sei nur unter zwei Bedingungen Unrecht: Erstens, wenn sie Begriffe enthält, mit denen die betreffende Person sich nicht selbst beschreiben, die sie also vermeiden würde. Und zweitens täten wir anderen dann Unrecht, wenn wir ein Urteil, dem die betreffende Person zwar zustimmen würde, in einem Zusammenhang äußern, in den es nicht hineingehört (S. 25). Das wäre beispielsweise der Fall, wenn Führungspersonal in einem Entwicklungsgespräch die vermeintliche Mütterlichkeit und Fürsorglichkeit einer Mitarbeiterin mit Kindern thematisieren würde.

Im zweiten Kapitel „Zur Identität von Dingen und Personen“ (S. 27–37) versucht sich Renz an einer Bestimmung des Identitätsbegriffs. Ihr Ausgangspunkt ist die Frage, wozu wir die Rede von der Identität überhaupt brauchen. Dabei geht sie von folgender philosophischer Annahme aus: „Wenn wir von zwei Termini sagen, dass sie miteinander identisch sind, dann meinen wir, dass sie de facto nur eine Sache bezeichnen“ (S. 28). In diesem Sinne ließen sich gedanklich verschiedene Phänomene als Facetten ein und desselben mit sich identischen Dinges verstehen, was wiederum deutlich mache, wozu wir Aussagen und Annahmen über die Identität von Gegenständen brauchen: „Sie sind – zusammen mit Aussagen über die Einheit von Dingen – für unser Denken und Handeln deshalb so wichtig, weil sie eine gewisse Stabilität des Gegenstandsbezugs unseres Denkens und Handelns gewährleisten“ (S. 28).

Zentral sei diese stabilisierende Funktion von Identitätsunterstellungen gerade auch im Zusammenhang mit Veränderungen, die Dinge und Personen im Laufe der Zeit erfahren. Denn Veränderungen könnten es entweder notwendig machen, die Frage nach der Identität gänzlich neu zu stellen, oder zu einer Anpassung von in der Regel impliziten Identitätsunterstellungen führen. Dabei seien austauschbare Eigenschaften grundsätzlich von solchen zu unterscheiden, deren Wegfall zur Auflösung der Identität des betreffenden Menschen oder Dinges mit sich selbst führe. Hier differenziert Renz zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften, wobei diese Unterscheidung nicht auf der Vorstellung eines hinter den Erscheinungen der Dinge verborgenen Wesens basiere, sondern ihren Ausgangspunkt von der Frage nach den Grenzen der Denk- und Vorstellbarkeit von Veränderungen nehme. Eine Unterscheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften sei aus dieser Perspektive unerlässlich, „weil wir ohne sie entweder die Idee der Kontinuität von Dingen oder jene der Veränderung preisgeben müssten“ (S. 33). Mit diesen Ausführungen zur Verwendung des Identitätsbegriffs möchte Renz deutlich machen, dass wir in Hinblick auf Personen und Gegenstände denselben Begriff von Identität verwenden, um uns zu vergewissern, dass Objekte in Anbetracht von heterogenen Erscheinungsweisen oder tatsächlichen Veränderungen noch dieselben sind. Diese Feststellung führt die Autorin zu der zentralen These, dass nicht etwa der Identitätsbegriff als solcher die Frage nach der Identität von Personen zu einer existenziellen Angelegenheit mache. Der Schlüssel zur eingangs gestellten Frage nach dem Verletzungspotenzial von Identitätszuschreibungen liege vielmehr im Personenbegriff, mithin darin, „dass wir es selber sind, um deren Einheit, Identität und Existenz es geht“ (S. 37).

Entsprechend erläutert Ursula Renz in dem folgenden Kapitel über „Person und Person-Sein“ (S. 39–46), was es bedeutet, andere als Personen zu verstehen. Es heiße nämlich nicht nur, „dass wir sie als Wesen begreifen, die ein eigenes Selbstverständnis ausbilden, sondern wir räumen ihnen auch ein gewisses Recht auf Selbstbestimmung hinsichtlich ihrer Selbstbeschreibung ein“ (S. 44). Daraus erschließe sich zum einen die Problematik, die auftritt, wenn Personen eine von ihnen abgelehnte Identität zugeschrieben wird: Die Zuschreibung negiere gewissermaßen ein Vorrecht, das uns als Person zusteht, und impliziere, dass wir gar nicht als Person, sondern als Ding behandelt werden. Zum anderen offenbare sich auf diesem Wege auch die existenzielle Dimension der Frage nach der Identität: Eine Person zu sein bedeute eben nicht nur, selbst bestimmen zu können, wer oder was man ist, sondern sich darüber hinaus der Aufgabe zu stellen, sich mit dem auseinanderzusetzen, was die eigene Identität ausmacht. 

Der Formulierung „selber bestimmen“ ist doppeldeutig, was besonders nachdrücklich im Begriff der „Selbstbestimmung“ zum Ausdruck kommt. Die Konsequenzen der unterschiedlichen Bedeutungshorizonte thematisiert Ursula Renz im vierten Kapitel „Von der Selbstbestimmung zur Selbsterkenntnis“ (S. 47–68). Bezüglich des Pronomens „selbst“ sei zu entscheiden, ob die Person Urheber oder Gegenstand des Bestimmens ist. Aber auch das Verb „bestimmen“ könne bedeuten etwas zu „entscheiden“ oder etwas zu „klassifizieren“. Renz argumentiert nun, dass die Person im Prozess der Selbstbestimmung gleichzeitig Urheber und Gegenstand der Tätigkeit des Bestimmens sei, weil Selbstbestimmung immer eine Form von Selbstverhältnis voraussetze (S. 65). Wo Menschen das Vorrecht solcher Selbstbestimmungen eingeräumt werde, so Renz, wachse gleichzeitig deren Fähigkeit, „entfremdende Einflüsse von sich fernzuhalten und in ihrem Denken auch dann wahrhaftig zu bleiben, wenn die äußeren – ökonomischen, politischen und sozialen – Verhältnisse äußerst schwierig sind“ (S. 65).

Selbstbestimmung bedeutet, sich selbst sehen und verstehen zu lernen. Gleichzeitig ist damit die Fähigkeit verbunden, sich selbst gegenüber Verpflichtungen einzugehen. Diese Aspekte thematisiert die Philosophin im sich anschließenden Kapitel „Überzeugungen, Werthaltungen und Einstellungen“ (S. 69–91). Sie erörtert darin, was wir tun, wenn wir Verpflichtungen eingehen; inwiefern es sich bei diesen Verpflichtungen um etwas handelt, das durch rationale Überlegungen getragen ist; und wie die Ausübung dieser Fähigkeit unser Selbstverhältnis und unser Verhältnis zur Welt prägt (S. 69). Auch anderen Personen müsse laut Renz eine solche Fähigkeit zur Selbstverpflichtung unterstellt werden, woraus folge, dass der Respekt vor den Meinungen anderer integraler Teil jenes Rechts auf Selbstbestimmung ist, das wir anderen qua Anerkennung ihres Person-Seins einräumen. Diese Verpflichtung gelte wechselseitig: „Denselben Respekt können wir auch von anderen einfordern, und zwar ohne Wenn und Aber“ (S. 92).

Die unterschiedlichen, in den vorherigen Abschnitten entfalteten Überlegungen münden im abschließenden Kapitel „Soziale Zugehörigkeit und kulturelle Prägung“ (S. 93–105) in die Frage: Wie weit gehören kulturelle Prägungen zu unserer personalen Identität – zu dem also, was uns als individuelle Person ausmacht (S. 95)? Ausgehend von der Feststellung der Vielfalt und Komplexität unserer Zugehörigkeiten zu einer Vielzahl an Gemeinschaften, macht die Autorin geltend, dass diese Zugehörigkeiten dem Individuum nicht äußerlich bleiben, sondern es vielmehr prägen und mit Eigenschaften ausstatten würden, die als durchaus charakteristisch für die jeweilige Person aufgefasst werden könnten. Gleichzeitig müsse jedoch bedacht werden, „dass unsere Vorstellungen von Werten und die Gehalte unserer Überzeugungen zwar einen sozialen Ursprung haben, aber die Einstellungen dazu die Eigenschaften von Individuen sind“ (S. 95). Daraus schließt Renz, unter Rekurs auf die bereits eingeführte Unterscheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften, dass sozio-kulturelle Prägungen, trotz des großen Einflusses, den sie auf unser Denken und unsere Lebensweise haben, nicht zu den wesentlichen Eigenschaften gerechnet werden können, welche die Identität einer Einzelperson definieren. Diese Überlegung widerspreche zwar unserer alltäglichen Wahrnehmung, dass der Einfluss kultureller, sozialer und historischer Rahmenbedingungen so tiefgehend und weitreichend sein kann, dass wir uns nur schwer vorstellen können, wie sich eine uns bekannte Person in einem anderen soziohistorischen Kontext entwickelt hätte. Sie stehe aber im Einklang mit unserer Erfahrung, dass Menschen sich verändern können, ohne ihre Identität zu verlieren. Renz schließt: „Weder machen die Eigenschaften von Personen, die sich kulturellen, historischen oder sozialen Prägungen verdanken, die Identität dieser Person aus, noch gehen Individuen vollständig in den Werte- und Glaubenssystemen der Kulturen und Gemeinschaften auf, denen sie angehören und sich zugehörig fühlen“ (S. 102).

Ursula Renz räumt somit einer Metaphysik, „die Kontingenz akzeptiert, aus moralischen und existenziellen Gründen einen grundsätzlichen Vorrang ein“ (S. 99). Insofern handelt es sich bei ihren Ausführungen um eine Orientierung im doppelten Sinne. Als Standortbestimmung arbeitet Renz sehr anschaulich heraus, wie Identität aus philosophischer Perspektive sinnvollerweise gedacht werden kann, und zeigt, warum darauf basierend die Rede über kulturelle Identität nur eingeschränkt sinnhaft ist. Eine Orientierung ist das Büchlein auch in dem Sinne, dass es eine bestimmte Haltung bzw. Einstellung vertritt und diese für und in Zeiten des Populismus anbietet. Spätestens hier offenbart sich die bildungstheoretische Relevanz sowohl der Identitätsthematik als auch einer Konzeption, die Veränderungen als möglich mitdenkt und für den Umgang mit ihnen eine Richtung aufzeigt, die sich aus der Sache selbst ableiten lässt.  Auch wenn die Autorin mit ihrem Text explizit keine Lösungen präsentieren möchte, trägt sie mit ihm doch dazu bei, solche zu ermöglichen. Ein absolut lesenswertes Büchlein, das mit eigenen Denk- und Wahrnehmungsautomatismen konfrontiert und zum Nachdenken herausfordert. Damit ist der Versuch der Philosophin Ursula Renz in bewundernswerter Weise geglückt, ihr wertvoll gewordene begriffliche Einsichten, die ihr bei der Reflexion ihrer persönlichen Situation im Nachbarland aufgegangen sind, in allgemein verständlicher Weise zu artikulieren und zu einer Kultur der geteilten Nachdenklichkeit beizutragen. So tritt sie aggressiven Parolen entgegen und zeigt, warum der Begriff der „Identität“ für uns als Personen zu wichtig ist, als dass wir ihn denen überlassen sollten, die ihn als Kampfbegriff missbrauchen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jakob Borchers, Karsten Malowitz.

Kategorien: Philosophie Demokratie Lebensformen

Juliane Noack Napoles

Juliane Noack Napoles ist Professorin für Erziehungswissenschaft in der Sozialen Arbeit an der Brandenburgischen Technischen Universität (BTU). Zu ihren Arbeitsgebieten gehören die Themen Identitätsforschung, Vulnerabilität, ästhetische Bildung und Eudaimogenese.

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