Lars Döpking | Rezension |

Negotiated Reform

Ein Sammelband zur "Multilevel Governance" der Finanzregulierung

Renate Mayntz (Hrsg.):
Negotiated Reform. The Multilevel Governance of Financial Regulation
Deutschland
Frankfurt am Main 2015: Campus
193 S., EUR 34,90
ISBN 9783593505510

Findet in der sozialwissenschaftlichen Literatur der Begriff der Krise Verwendung, dann vornehmlich im Sinne eines Kulminationspunktes langfristiger Entwicklung. So sah etwa Greta Krippner[1] in der Finanzialisierung der Realökonomie Machtverschiebungen, die eine höhere Krisenaffinität implizierten. Wolfgang Streeck[2] argumentierte dagegen deutlich politischer, indem er einen Legitimationsverlust der demokratischen Nachkriegsordnung auf Seiten des Marktvolkes und den dadurch induzierten dreifachen Erwerb von Zeit zur Ursache der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007 bis 2008 erklärte. Für die Zukunft ließen solche stark trajektorischen Narrative wenig Gutes ahnen. Insbesondere Streeck verwies darauf, dass Staaten den Finanzmärkten strategisch unterlegen seien und nur schwerlich effektive Regularien installieren könnten. Der fortschreitenden Entdemokratisierung des Kapitalismus hätte die staatliche Seite somit wenig entgegenzusetzen.

Es scheint jedoch naheliegend, diese Haltung zu überdenken: Banken sehen sich dank der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) und des Federal Reserve System (FED) ihres Kerngeschäftes beraubt. Zudem haben sie sich Stresstests zu unterziehen und Eigenkapitalquoten vorzuweisen, die in Präkrisenzeiten geradezu altertümlich erschienen wären. Gerät eine Bank in Schieflage – wie jüngst die Banca Monte dei Paschi oder die prozessgeplagte Deutsche Bank –, wehren nicht nur europäische Politiker Forderungen nach einem Bail-Out durch den Staat ab, um stattdessen einen Bail-In der Anteilseigner in Aussicht zu stellen. Auch die Klagen von Branchenvertretern lassen darauf schließen, dass es um die Organisationskapazität der Staatenwelt besser bestellt war, als es die genannten Theoreme suggerierten.

Die beschriebene Lage stellt allerdings zudem die begriffliche Dimension der zur Krise stilisierten Entwicklung in Frage: Können Akteure, und das sind vornehmlich Staaten, aus ihr ausbrechen und Makroprozesse politisch umkehren, etwa indem sie mobiles Kapital regulieren? Falls dem so ist, ist darüber hinaus unklar, welche konkreten staatlichen Interessen sich im Durcheinander multilateraler Politik wie durchsetzen können und welchen Einfluss private Interessenvertreter auf den Entscheidungsprozess haben. Schließlich wäre zu bewerten, was all das für die politische Positionierung des demokratischen Staates zur kapitalistischen Produktionsweise bedeutet und inwiefern jene Phänomene sich gemeinsam im Begriff der Krise abbilden lassen.

Nur bedingt wird Renate Mayntz beim Zusammentrommeln der Autorengruppe, aus deren Diskussionen bereits der Vorläufer[3] des zu besprechenden Sammelbandes entstand, derartige Fragestellungen im Sinn gehabt haben. Der gemeinsame Ausgangspunkt der Autoren lautet aber, dass die Koinzidenz von Machtverschiebungen zugunsten des Finanzsektors bei gleichzeitig staatlichen Regulationserfolgen ein Mysterium darstellt, welches der Sammelband mittels einer Analyse der „international governance of financial markets“ aufklären soll. Um die Interaktionsmechanismen innerhalb und zwischen den multiplen internationalen Verhandlungsebenen der Märkte zu dechiffrieren, analysieren die Autoren die zwischen 2009 und November 2014 multilateral verabschiedeten Maßnahmen zur Finanzmarktregulation als exemplarische Fälle. Ziel der Untersuchung ist es, zunächst die Rückkopplung der Aushandlungsstrukturen an die Regulationsmaßnahmen theoretisch zu beschreiben. Anhand empirischer Studien sollen anschließend einerseits die Resilienz des Regulationsprozesses trotz gegenläufigem Lobbying des Finanzsektors, andererseits die nationalstaatlichen Differenzen in der konkreten Umsetzung erklärt werden.

Die Autoren des Bandes haben sich darauf geeinigt, den Beiträgen eine modifizierte Version des von Fritz Scharpf geprägten Mehrebenenpolitikansatzes zugrunde zu legen. So sind für Mayntz und ihre Kollegen nicht allein Nationalstaaten, supranationale Regime und ihre Gremien auf diesen Ebenen zu verorten, sondern ein ganzes Orchester von Organisationen und Institutionen, welche weder in strikt hierarchischen Verhältnissen zueinander stehen noch klare Kompetenzen oder gar Weisungsbefugnisse innehaben. Innerhalb von deren Strukturen bewegen sich zudem Akteure, die in ebenso unklaren Beziehungen zueinanderstehen, was systemische Gesetzesaussagen über Kausalitäten erschwere.

Die Unübersichtlichkeit der Mehrebenenpolitik, die auch Schaubilder an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit führen (10, 47),[4] bewältigt der Sammelband, indem die Autoren sich auf drei Politikebenen und drei staatliche Akteure konzentrieren. Einerseits wird so die immer gewichtigere Rolle der G20-Staaten als internationales Koordinationsgremium sowie die Stellung des Financial Stability Board (FSB) und der EU in jeweils separaten Beiträgen gewürdigt, andererseits die Politikgestaltung von USA, Großbritannien und Deutschland innerhalb des Reformprozesses vergleichend analysiert.

Diese Gliederung der Untersuchungsebenen korrespondiert mit der Auswahl der untersuchten Regulierungsmaßnahmen, die vier Elemente umfassen. Erstens wird das 2010 beschlossene und als Basel III bekannte Vorschriftenpaket diskutiert, welches insbesondere höhere Eigenkapitalquoten und Verschuldungsgrenzen („Leverage Ratio“) einfordert; zweitens die Richtlinien zur Abwicklung systemrelevanter Banken; drittens die Regulierung des Schattenbankensektors sowie des börsenexternen Derivathandels und schließlich viertens die Separation des Investitions- und des kommerziellen Bankgeschäftes. Auf diesen Nexus nehmen die Beiträge des Bandes fortlaufend Bezug und stellen so permanent Querverweise zueinander her.

Flankiert wird jene Themenreduktion durch die Auswahl der zu analysierenden Mechanismen. Drei darunter sind von primärer Relevanz: Während „Uploading“ die Übertragung von Akteurspräferenzen auf eine höhere regulationskompetente Ebene bezeichnet, beschreibt „Downloading“ den Prozess, durch den ebenjene Konzepte in die Jurisdiktion einer untergeordneten Ebene übergehen, nebst Modifikationen im Detail. Mit „Crossloading“ wiederum ist die zwischenstaatliche Adaption abseits von Top-Down-Bewegungen gemeint, etwa wenn Nationen voneinander lernen oder sich an die übergreifende Regulierung des Auslandsgeschäftes fremder Finanzinstitute anpassen. Auf diese Weise werden die vertikalen wie horizontalen Interaktionen der Akteure stets mit dem Ziel vor Augen entschlüsselt, einen theoretischen Mehrwert über die Dynamiken internationaler Regulationsregime zu generieren.

In der Ausführung kann die geschilderte Reduktion der Thematik auf drei Ebenen, drei Akteure, vier Policybereiche und drei Mechanismen weitgehend überzeugen, wie ein Vergleich von Scott James‘ Analyse des Vereinigten Königreichs (121–138) mit dem gemeinsamen Beitrag von Roman Goldbach und Hubert Zimmermann zur Rolle der Bundesrepublik im Regulationsprozess (139–162) zeigt. Den Ausgangspunkt bilden zwei Phänomene: Zum einen, so lesen wir bei James, sei die britische Regierung darin erfolgreich gewesen, umfangreiche Regularien ebenso gegen die Interessen des eigenen Finanzsektors wie gegen die kontinentaleuropäischer Staaten wie Frankreich und Deutschland auf die internationale Agenda zu „uploaden“. Zum anderen habe die Bundesrepublik, wie Goldbach und Zimmermann argumentieren, trotz ihres ökonomisch durchaus höheren Gewichts etwa die Basel-III-Verhandlungen kaum bremsen können, jedoch beschlossene Regularien auf Kosten britischer Interessen im Rahmen der europäischen Verrechtlichung aufgeweicht.

In den Begrifflichkeiten des Bandes deutet dies auf ein nationales Kapazitätsgefälle hinsichtlich der „Uploading“- und „Downloading“-Mechanismen hin, die nicht allein aus der politischen Bündnisfähigkeit der Akteure, sondern ebenso, und dies ist eines der zentralen Argumente des Bandes, aus der Strukturierung der Politikebenen hervorgehen. So habe das Profil seines Bankensektors Deutschland im FSB politisch zwar weitgehend isoliert, während Großbritannien breite Bündnisoptionen mit anderen Staaten – etwa den USA, den Niederlanden und der Schweiz – zur Verfügung gestanden hätten.

Über diese reine Interessenallokation hinaus sei es Großbritannien aber nur möglich gewesen, die in Deutschland u.a. aufgrund von ‚stillen Einlagen‘ unbeliebten Eigenkapitalquoten sowie die Trennung des Investment- und Kommerzgeschäftes auf der internationalen Agenda zu platzieren, indem es seine Partikularinteressen verschleiert habe. Schließlich schienen die Maßnahmen James zufolge nicht zuletzt qua ihres technischen Charakters kaum kontrovers, zumal sie für ein hochkomplexes Problem eine vordergründig einfache Lösung boten. Die Struktur des FSB habe es dem Vereinigten Königreich erlaubt „to punch above its weight“ (121), solange komplexe technokratische Instrumente zur Disposition standen. Kamen unverbrämte ökonomische Interessen – wie etwa bei der Derivathandelsregulierung – ans Licht, sei das hingegen nicht gelungen.

Im Gegensatz dazu ist für Goldbach und Zimmermann die im Vergleich zum FSB deutlich politischere Konstruktion der EU dafür verantwortlich, dass Deutschland schlussendlich zum Bremsklotz multilateraler Finanzmarktregulation werden konnte, während das Vereinigte Königreich die angestammte Rolle als „pace-setter“ (122) aufgeben musste. Theoretisch folgen die Mechanismen internationaler Finanzmarktgovernance somit je eigenen strukturbedingten Handlungslogiken: Je nachdem, wie politisiert die jeweilige Governanceebene sei, komme es zu unterschiedlichen Machtgefällen. Zugang zur tonangebenden Agenda des entpolitisierten FSB ermöglichen hingegen laut James technokratische Interventionen, hinter denen sich Interessen geschickt verbergen lassen. Staaten können zudem abseits der schlicht semantischen Hierarchie Maßnahmen per Cross- und Downloading durchsetzen.

In ihrem Resümee lassen Renate Mayntz und Arthur Benz die Leserschaft schließlich gerade aufgrund der gelungenen Zusammenführung mit gemischten Gefühlen zurück, was die Chancen soziologischer Theoriebildung betrifft. So machen sie deutlich, dass sich die beobachteten Interaktionsdynamiken weder in Mehrebenenmodelle noch in Ansätze der Internationalen Beziehungen oder Theoreme der Global Governance integrieren lassen. Darüber hinaus vertreten sie die These, dass auch keine ex-post-Theoretisierung oder Modellierung möglich sei. (187) Folgerichtig muss die Aufklärung des konstatierten Mysteriums ein Meer kontingenter Faktoren miteinbeziehen: Das Zusammenspiel redistributiver Konflikte mit einer Politisierung technokratischer Gremien innerhalb eines sich permanent transformierenden Mehrebengeflechts wird primär ad hoc angesichts der Etablierung der untersuchten Regulationsmaßnahmen verständlich. Eine solche Erklärung lässt sich aber lediglich für die fortlaufende Arbeit einmal in Gang gesetzter Institutionen und die dargestellten Mechanismen generalisieren. Wer zuvor den erforderlichen „Turn“ hin zu jener historisch-soziologischen Theoriebildung vollzogen hat, wird im Band eine absolut überzeugende Umsetzung der relevanten Konzepte vorfinden.

Leser hingegen, die eher makrotheoretisch bis politisch inspirierte Fragestellungen verfolgen, könnten auf den ersten Blick enttäuscht sein. Entschieden wehren die Autoren sämtliche Versuche ab, den Einfluss normativer Überzeugungen, die Effektivität der Instrumente oder die daraus erwachsene Machtstellung der Staaten (politisch) zu bewerten. Dennoch kann der Sammelband letzteren Lesern ebenfalls ans Herz gelegt werden: Die detaillierten Analysen regen, u.a. aufgrund der hervorragenden Konzeption des Bandes, dazu an, weitergehende Reflektionen über zentrale Begriffe der Politischen Ökonomie anzustellen. So können die dechiffrierten Interaktionsdynamiken beispielsweise plausibilisieren, dass ein potenter soziologischer Krisenbegriff politische Kreativitätsspielräume abbilden muss,[5] selbst wenn die Ergebnisse vielleicht nicht zufriedenstellen.

Alles in allem bietet der Band ein nicht nur ausgewiesenen Politökonomen zu empfehlendes Leseerlebnis, das auch für Soziologen, Politikwissenschaftler und Ökonomen viele Erkenntnisse und Einsichten bereithält. Die Bereitschaft, mehr über die jeweils gegenüberliegende Perspektive in Erfahrung zu bringen, sollte allerdings vorhanden sein.

  1. Greta Krippner, Capitalizing on Crisis. The Political Origins of the Rise of Finance, Cambridge, MA, 2012.
  2. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit, Berlin 2013.
  3. Renate Mayntz (Hrsg.), Crisis and Control. Institutional Change in Financial Market Regulation, Frankfurt am Main / New York 2012.
  4. Auch die enorme Menge an Abkürzungen bestätigt diesen Eindruck. Während FED oder FSB den geneigten Leser vor keinerlei Probleme stellen, macht die Komplexität der Materie geschuldet häufige Blicke in den Appendix erforderlich, um Abkürzungen wie etwa FATF, UNDP, IAIS oder CPSS mit Sinn zu füllen.
  5. Vgl. den klassischen Vorschlag von Peter Gourevitch, Politics in Hard Times. Comparative Responses to International Economic Crises, Ithaca, NY, 1986.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Christina Müller.

Kategorien: Wirtschaft Globalisierung / Weltgesellschaft Gruppen / Organisationen / Netzwerke

Lars Döpking

Dr. Lars Döpking ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere und Neueste Geschichte am Deutschen Historischen Institut in Rom. Zuvor war er Mitglied der Forschungsgruppe Demokratie und Staatlichkeit am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er forscht primär zu Kapitalismus und Steuern in Italien und Westeuropa. Darüber hinaus untersucht er die Entwicklung des soziologischen Theoriekanons seit den 1950er Jahren in vergleichender Perspektive.

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