Kristina Lepold | Rezension |

Vom richtigen Leben im falschen

Erik Olin Wright weist Wege aus dem Kapitalismus

Erik Olin Wright:
Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus
Aus dem Amerikanischen von Max Henninger. Mit einem Nachwort von Michael Brie.
Deutschland
Berlin 2017: Suhrkamp
530 S., EUR 24
ISBN 978-3-518-29792-6

Das Buch Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus des US-amerikanischen Soziologen Erik Olin Wright unternimmt den Versuch, im konkreten Hier und Jetzt Möglichkeiten für emanzipatorische Veränderungen aufzuzeigen, Veränderungen, die zusammengenommen auf längere Sicht aus dem Kapitalismus als Wirtschaftssystem herausführen sollen. Damit tut Wright etwas, das vielen in der öffentlichen Diskussion heute trotz der strukturellen Probleme des globalen Finanzsystems, der sich weiter verschärfenden sozialen Ungleichheit und der drohenden ökologischen Katastrophe doch als eher unzeitgemäß erscheinen dürfte: Er denkt über eine gesellschaftliche Alternative nach, über einen positiven Gegenentwurf zur heute dominanten Weise des Wirtschaftens.

Das Buch, das nun, sieben Jahre nach der englischen Erstveröffentlichung,[1] endlich auch in deutscher Übersetzung vorliegt, ist ein in mehrfacher Hinsicht beeindruckendes Werk. Da sind zunächst die Ernsthaftigkeit und die intellektuelle Ausdauer, mit denen Wright sein Vorhaben verfolgt, das Teil des umfassenderen, seit Beginn der 1990er-Jahre existierenden Real Utopias Project ist. Ebenfalls bemerkenswert ist Wrights Bemühen, den eigenen Forschungsprozess so offen wie möglich zu gestalten und durch Diskussionen mit anderen zu lernen. So reiste Wright zwischen 2004 und 2008 rund um die Welt, hielt zahlreiche Vorträge, veranstaltete Seminare und nutzte dabei immer wieder das Internet, um Textfassungen zur Kommentierung zur Verfügung zu stellen. Methodisch und inhaltlich ist hervorzuheben, dass Wright mit seinem Buch das Ziel verfolgt, nicht nur hehre Ideale zu formulieren, sondern dabei gleichsam auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben; es sollen schließlich, wie es im Titel heißt, reale, das heißt realisierbare Utopien ausgelotet werden. Um dieses Ziel zu erreichen, bewegt sich Wright zwischen normativer politischer Theorie, Gesellschaftstheorie, sozialwissenschaftlichen Studien und empirischen Fallbeispielen und er tut dies mit großer Übersicht und Souveränität. So ist ein Buch entstanden, das nicht nur für einen kleinen Kreis von Eingeweihten, sondern für ein breites Publikum lesbar ist.

Reale Utopien gliedert sich in drei Teile: In Teil I stellt Wright seine Problemdiagnose vor und identifiziert grundlegende Defizite des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Diese machen aus seiner Sicht das Nachdenken über eine Alternative erforderlich, durch die diese Defizite überwunden werden könnten. Teil II dient der Entwicklung dieser Alternative. Teil III beschäftigt sich schließlich mit der Frage, wie diese Alternative praktisch-politisch erreicht werden könnte.

Der Problemdiagnose in Teil I liegt die folgende Frage zugrunde: „Was ist so schlimm am Kapitalismus?“ (S. 77) Um diese Frage zu beantworten, bedarf es eines normativen Standpunktes, von dem aus bestimmte Entwicklungen als „gut“ oder „schlecht“ bewertet werden können, verbunden mit der zusätzlichen Annahme, dass die Gesellschaft für gut befundene Entwicklungen befördern und als schlecht erachtete minimieren sollte. Wright bezeichnet seinen eigenen normativen Standpunkt als den eines „radikal-demokratischen Egalitarismus“ (S. 77), und dieser Standpunkt wird von ihm, wie in der zeitgenössischen normativen politischen Theorie üblich, recht freistehend gewonnen.[2] Grob gesagt ist für Wright diejenige Gesellschaft gerecht, die es all ihren Mitgliedern ermöglicht, erstens, ein „erfüllte[s] Leben“ (S. 53) zu führen und, zweitens, an den sie betreffenden Entscheidungen teilzuhaben. Das Problem am Kapitalismus als gesellschaftlicher Organisationsweise der wirtschaftlichen Aktivität ist aus Wrights Sicht, dass er beide Bedingungen verletzt. Im ersten Teil seines Buches referiert Wright elf mehr oder weniger geläufige Kritiken am Kapitalismus, die alle auf der Linie des von ihm zuvor umrissenen radikal-demokratisch egalitären Standpunktes liegen sollen. Dazu gehören etwa die Kritiken, dass der Kapitalismus die Gemeinschaft zersetze, die Umwelt zerstöre, in bestimmten Hinsichten ineffizient sei oder die Demokratie einschränke. Auch wenn man vielem davon zustimmen möchte: in ihrer Allgemeinheit mutet diese Auflistung der Defizite des Kapitalismus dennoch eigentümlich kraftlos an.

Ist der erste Teil von Reale Utopien der Diagnose des kapitalistischen Wirtschaftssystems und seiner Defizite gewidmet, geht es im zweiten Teil, der als das eigentliche Kernstück der Studie gelten kann, darum zu erkunden, ob es denn tatsächlich möglich wäre, die Wirtschaftstätigkeit auf andere und bessere Weise zu organisieren. Statt dem verbreiteten Glauben an die Alternativlosigkeit der bestehenden Verhältnisse einfach bloß die spiegelverkehrte Behauptung entgegenzusetzen, dass die uns bekannte Welt nicht alternativlos ist, bemüht sich Wright also um das Aufzeigen einer Alternative. Diese Alternative bezeichnet er als „Sozialismus“. Wer jetzt sofort an die aus dem 20. Jahrhundert bekannte staatliche Planwirtschaft denkt, die in vielerlei Hinsicht, etwa was Demokratiedefizit oder Umweltzerstörung betrifft, keineswegs besser dasteht als der Kapitalismus, wird allerdings sogleich eines Besseren belehrt. Wright entwickelt seine Konzeption des Sozialismus nämlich in doppelter Abgrenzung sowohl zum Kapitalismus als auch zu dem von ihm so bezeichneten „Etatismus“ (vgl. S. 173). Im Zentrum steht dabei die Idee „gesellschaftlicher Ermächtigung gegenüber der Wirtschaft“ (S. 196). Um das Ergebnis einer komplexen Diskussion kurz zusammenzufassen: Eine Wirtschaft kann laut Wright als umso sozialistischer gelten, je stärker die Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen durch die Zivilgesellschaft bestimmt wird. Diese gesellschaftliche Ermächtigung gegenüber der Wirtschaft könne auf verschiedene Weisen oder, wie Wright sagt, entlang verschiedener „Pfade“ (S. 195) erfolgen: So könne die Zivilgesellschaft im Rahmen dessen, was Wright als „sozialdemokratisch-etatistische Wirtschaftsregulierung“ bezeichnet, über den Staat auf die Wirtschaft einwirken und bindende Regulierungen, etwa im Bereich des Arbeits- oder Umweltschutzes, durchsetzen. Denkbar seien aber auch Formen zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation, beispielsweise durch Kooperativen, in denen Menschen ihre wirtschaftliche Tätigkeit unmittelbar gemeinsam gestalteten und die sich wiederum im Rahmen einer „Kooperativ-Marktwirtschaft“ wechselseitig unterstützten.

Im Anschluss an diese konzeptionellen Überlegungen setzt sich Wright in zwei ebenso reichhaltigen wie informativen Kapiteln detailliert mit einer ganzen Reihe empirischer Institutionen und theoretischer Entwürfe auseinander, wie zum Beispiel der partizipativen Haushaltsplanung in der brasilianischen Großstadt Porto Alegre, dem bedingungslosen Grundeinkommen oder überbetrieblichen Arbeitnehmerfonds. Leitend ist hierbei die Frage, inwiefern diese Entwürfe auf nachhaltige und konsistente Weise zum Ziel der gesellschaftlichen Ermächtigung gegenüber der Wirtschaft beizutragen vermögen. Eine Alternative zum Kapitalismus, so lässt sich der Ertrag dieser Diskussion zusammenfassen, gibt es tatsächlich. Sie ist an verschiedenen Orten der Welt bereits ansatzweise institutionell verwirklicht oder besteht zumindest in der Form tragfähiger theoretischer Konzepte.

Bleibt für den dritten Teil von Reale Utopien die Frage, wie die von Wright erörterte Alternative zum Kapitalismus in einem umfassenden Sinn realisiert werden kann. Wie bereits im zweiten Teil deutlich geworden ist, hält Wright es für fehlgeleitet, von der Binarität der Wirtschaftssysteme auszugehen: Es gebe in kapitalistischen Systemen bereits Institutionen, die es der Zivilgesellschaft ermöglichten, die wirtschaftliche Tätigkeit zu beeinflussen oder zu kontrollieren. Solche „sozialistischen“ Institutionen gelte es im Interesse einer umfassenderen emanzipatorischen Transformation der Gesellschaft auszubauen und zu stärken. Der Kapitalismus soll also nach Wrights Vorstellung Stück für Stück von innen heraus überwunden werden. Nach Wright braucht es dazu die erfolgreiche Kombination zweier Arten von Strategien: Einerseits „Freiraumstrategien“ (S. 436), die Projekte gesellschaftlicher Ermächtigung in den Nischen des vorherrschenden kapitalistischen Wirtschaftssystems realisieren, und andererseits „symbiotische Strategien“ (S. 436), die im Wesentlichen durch staatlich vermittelte Kompromisse zwischen Arbeitnehmerschaft und Arbeitgebern operieren. So könne zum Beispiel die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens – ein Projekt, auf das Wright häufig seine ganze Hoffnung zu setzen scheint – eine radikale Ausweitung des Raums für die Ausübung selbstbestimmter Tätigkeiten innerhalb der Gesellschaft bewirken, indem es etwa die Gründung von selbstverwalteten Kooperativen erleichtert.

Wright ist mit Reale Utopien zweifelsohne ein ideenreiches und anregendes Buch gelungen, und der Optimismus, von dem insbesondere die Ausführungen im zweiten und dritten Teil getragen sind, wirkt bisweilen ansteckend. Dennoch drängen sich nach der Lektüre auch ein paar grundsätzliche Fragen auf, die in erster Linie das betreffen, was man als die subjektive Seite des von Wright anvisierten Transformationsprozesses bezeichnen könnte. Bei Wright scheint die Sache am Ende im Großen und Ganzen nämlich doch recht einfach zu sein: Der Kapitalismus verursacht Leid, und dass Menschen dieses Leid hinnehmen, ist nur erklärbar, weil ihnen das Leid unvermeidbar erscheint und es deshalb „keinen Sinn habe, für Veränderungen zu kämpfen, umso mehr als solche Kämpfe ja mit beträchtlichen Kosten einhergehen“ (S. 392). Das erweckt den Eindruck, als ob man nach Wrights Auffassung nur zeigen müsste, dass der Kapitalismus nicht unser Schicksal ist, und schon würden die Menschen ihr eigenes Leid und das ihrer Mitmenschen nicht länger dulden, sondern für eine bessere Welt kämpfen. Wie Wright selbst sieht, ist das Leiden am Kapitalismus aber sehr ungleich verteilt.[3] Tatsächlich befriedigt der Kapitalismus zumindest in den westlichen Gesellschaften immer noch „die materiellen Interessen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung“ (S. 393) und erfreut sich nach wie vor großer gesellschaftlicher Akzeptanz. In einem Abschnitt mit dem vielversprechenden Titel „Ideologie und Kultur: Mechanismen, die die Subjektivität der Akteure prägen“ (S. 388) hätte man sich ferner eine ernsthafte Diskussion der Frage gewünscht, inwiefern Personen vermittels ihrer Selbstverständnisse auch affektiv an den Kapitalismus gebunden sind. Stattdessen beschränkt sich Wright hier im Wesentlichen darauf, festzustellen, dass sich Menschen aufgrund von Ideologie und Meinungsbildung oft falsche Vorstellungen davon machen, was tatsächlich möglich ist. Kurzum: Es könnte sein, dass sich der Ausstieg aus dem Kapitalismus auf Seiten der beteiligten Subjekte als wesentlich komplexer erweist, als Wright das an vielen Stellen seines Buches nahelegt. Wright könnte darauf natürlich erwidern, dass das Leid, von dem er ausgeht, weitgehend unabhängig von konkreten Erfahrungen der Beteiligten, das heißt objektiv bestimmt werden kann. Dann aber würde sich die Frage nach der subjektiven oder motivationalen Seite des Prozesses der Emanzipation bloß noch einmal in etwas anderer Form stellen. Die angesprochenen Probleme hängen meines Erachtens mit einer Kritikstrategie zusammen, die relativ losgelöst von der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit operiert, indem erst normative Maßstäbe entwickelt werden, die dann die Auseinandersetzung mit der Empirie orientieren. Obwohl Wright in seinem Buch Kritik und Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse zusammenzuführen sucht, bleiben diese am Ende doch sauber voneinander getrennt und wird die Kritik nicht aus der Analyse entwickelt. Wright betreibt somit Kritik und Analyse, aber keine kritische Theorie.

  1. Erik Olin Wright, Envisioning Real Utopias, London 2010.
  2. Vgl. hier klassisch John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. v. Helmut Vetter, Frankfurt am Main 1975, Kap. 1, Abschnitt 4 (Orig.: A Theory of Justice, Cambridge, MA 1971).
  3. Vgl. dazu u. a. Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Wirtschaft Kapitalismus / Postkapitalismus Globalisierung / Weltgesellschaft Kritische Theorie

Kristina Lepold

Dr. des. Kristina Lepold ist derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Philosophie und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor war sie Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialphilosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Doktorandin am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Derzeit arbeitet sie an einem Buch zu Anerkennung und Ideologie.

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