Andreas Arndt | Rezension |

Von Rousseau über Hume zu Hegel

Axel Honneth ordnet sein Anerkennungskonzept ideengeschichtlich ein

Axel Honneth:
Anerkennung. Eine euopäische Ideengeschichte
Deutschland
Berlin 2018: Suhrkamp
238 S., EUR 25,00
ISBN 978-3-518-58713-3

Axel Honneth hat im Anschluss an Hegel den Begriff der Anerkennung im sozialphilosophischen Diskurs der Gegenwart etabliert; mit dem vorliegenden Buch verortet er sein Konzept der Anerkennung historisch im Kontext der europäischen Moderne. Gleich zu Beginn wird klargestellt, dass es sich nicht um eine Begriffsgeschichte von „Anerkennung“ handelt, denn „die Idee, die uns heute beflügelt, wenn wir von ‚Anerkennung‘ sprechen“, habe „nicht in Form eines einzigen, feststehenden Terminus existiert“ (S. 14). Als Alternative solle eine „Ideengeschichte“ skizziert werden, die soziokulturell zu verankern sei (S. 17). Dabei geht Honneth im Anschluss an Koselleck davon aus, dass die Entwicklungen in Frankreich, Großbritannien und Deutschland „exemplarisch drei Verlaufsmuster der bürgerlichen Gesellschaft in der Neuzeit widerspiegeln“ (S. 21). Entsprechend behandeln die folgenden Kapitel die Idee der Anerkennung in Frankreich („Von Rousseau zu Sartre: Anerkennung und Selbstverlust“), Großbritannien („Von Hume zu Mill: Anerkennung und Selbstkontrolle“) und schließlich in Deutschland („Von Kant zu Hegel: Anerkennung und Selbstbestimmung“). Ein Schlusskapitel versucht dann, die zum Teil heterogenen Konzepte aus den behandelten drei nationalen Kulturen systematisch auf einen Nenner zu bringen („Anerkennung im ideengeschichtlichen Vergleich: Versuch eines systematischen Resümees“).

Wenn es zutrifft, dass die Idee der Anerkennung nicht nur unter dem Label „Anerkennung“ gedacht wird und zudem die Konzepte von „Anerkennung“ völlig heterogen sein können – bis hin zu einem „Wirkmechanismus ganzer Systeme“ anstelle der „konkrete[n] Interaktion zwischen Subjekten“ (S. 73) – , dann stellt sich die Frage, was diese Idee eigentlich ist, die nun zum Gegenstand der ideengeschichtlichen Betrachtung wird. Erst der Schlussteil gibt dazu Auskunft, wenn es heißt, dass „das aus der Tradition des deutschen Idealismus stammende Anerkennungsverständnis als theoretische[r] Sockel“ der betrachteten Modelle verwendet werden soll (S. 198). Präferiert wird ein intersubjektives Verständnis von Anerkennung, das davon ausgeht, dass die „menschlichen Subjekte“ sich „reziprok als Wesen anerkennen, die über die Autorität verfügen, selber darüber zu befinden, ob die gemeinsam praktizierten Normen gutgeheißen werden können.“ (S. 199)

Dies ist implizit der Leitfaden der geschichtlichen Rekonstruktion, wie es in dem Kapitel über den französischen Diskurs sogleich deutlich wird, wenn es heißt, über ihm liege „ein böser Schatten“ (S. 28) weil die „Abhängigkeit vom Anderen in ein tiefschwarzes Licht [sic!]“ getaucht werde (S. 64). Als Ursache hierfür sieht Honneth die Sonderstellung des französischen Hofes, an dem Feudaladel (S. 33) und auch das sich entwickelnde Bürgertum (S. 35) Einfluss zu gewinnen versuchten. Die französischen Moralisten führten in diesem Zusammenhang den Begriff der amour propre für einen natürlichen Trieb ein, der darauf zielt, sich selbst möglichst günstig zur Geltung zu bringen, wobei jedoch – wie La Rochfoucauld zeigt – auch der Verlust des Selbst in der Aufrechterhaltung des Scheins drohe (S. 30ff.). Rousseau knüpfe daran an, verorte jedoch den amour propre, bei dem die Mitmenschen als Richter auftreten, in der zweiten Natur bzw. Kultur (S. 38), während der natürliche Trieb als amour de soi nur dem eigenen Urteil unterliege (S. 40). Hieraus erwachse im Kulturzustand die Tendenz, die Perspektive des Anderen zu übernehmen und dadurch in ein Konkurrenzverhalten gedrängt zu werden (S. 44). Der amour propre, so Honneths These, werde jedoch erst in einer Gesellschaft problematisch, in der „keine [soll wohl heißen: nicht für Alle gleiche] Möglichkeiten der Befriedigung des elementaren Bedürfnisses nach sozialer Teilhabe und Einbeziehung gegeben sind.“ (S. 50) Sartres Konzept des „Mitsein-mit-Anderen“ wiederhole auf phänomenologischer Grundlage die Ambivalenz des Aufklärungsdiskurses (S. 64ff.): in der Analyse des „Blicks des Anderen“ zeige Sartre, dass das Subjekt von dem Anderen auf bestimmte Eigenschaften festgelegt und damit in seiner Freiheit beschränkt werde. Der Poststrukturalismus radikalisiere diese Sicht. Althusser und Lacan gingen davon aus, dass das Subjekt erst durch die „Anrufung“ eines Anderen konstituiert werde (S. 74).

Die Entwicklung in Großbritannien – von Hume über Adam Smith zu Mill – sieht Honneth soziokulturell dadurch bestimmt, dass „instrumentell-ökonomische[] Verhaltensweisen“ allmählich „in den bislang durch traditionelle Moralprinzipien geschützten Raum des öffentlichen Lebens“ eindringen (S. 81). Anders als der amour propre sei sympathy durchweg positiv konnotiert, so dass der britische Diskurs als „Gegenbewegung“ gegen den französischen Diskurs verstanden werden könne (S. 84). Ungeachtet seines empiristischen Ansatzes, so Honneths Interpretation, operiere Hume dabei, ohne es ausdrücklich zu machen, mit der Idee eines idealen Beobachters als Richter über die moralische Urteilsbildung (S. 92f.). Bei Adam Smith trete dann deutlich hervor, dass die „äußerst positive Besetzung der zwischenmenschlichen Anerkennung“ als Reaktion auf die „schleichende[] Ökonomisierung der sozialen [sic!] Sitten“ gedeutet werden müsse (S. 99). Honneth zeigt dies in einer eingehenden Lektüre der Theory of Moral Sentiments und des Wealth of Nations, deren Zusammengehörigkeit er unterstreicht. Die Wechselseitigkeit der interagierenden Subjekte schließe beidseitig den Bezug auf einen idealen Beobachter, einen generalisierten Anderen ein, Honneth zufolge ein Gedanke, der bereits auf Kant vorausweise (S. 111). Auch für Mill gelte, dass die wechselseitige Anerkennung das soziale Band sei und ein wirksames Korrektiv gegen Egoismen (S. 125). Anerkennung erscheint daher als Medium der Selbstkontrolle.

Das folgende Kapitel widmet sich dem deutschen Diskurs von Kant bis Hegel, der sozioökonomisch anders geprägt sei als in Frankreich oder Großbritannien: hier gehe es um die „Bedingungen einer Emanzipation des Bürgertums durch Erlangung von politischer Gleichheit und Mitbestimmungsrechten“ (S. 135). Leider fehlt der Hinweis darauf, dass dies nachholend im Blick auf die bürgerliche Emanzipation in Großbritannien und vor allem in der Französischen Revolution geschah, weshalb fast alle Protagonisten der Klassischen Deutschen Philosophie (Honneth verwendet stattdessen den irreführenden, leider noch immer gebräuchlichen Ausdruck „Deutscher Idealismus“) ihre Systeme als gedankliche Verarbeitung der Französischen Revolution verstanden. Im Blick auf Kant hebt Honneth den Begriff der „Achtung“ hervor, wobei er die Bezüge auf Rousseau und Smith betont (S. 138f.). Achtung vor dem Anderen als Folge der Achtung vor dem moralischen Gesetz gründet dabei in der Autonomie der reinen praktischen Vernunft und ist insofern ein Akt moralischer Selbstbestimmung. Wie diese als rein rational und damit der intelligiblen Welt angehörig mit einem der Sinnenwelt angehörigen Gefühl der Achtung vermittelt sein könne, bleibe indes bei Kant offen (S. 152). Fichte (wie auch Hegel) umgeht nach Auffassung Honneths dieses Problem dadurch, dass das „Weltganze [...] als Resultat der Aktivität von Vernunft begriffen“ werde (S. 153). Diese Formulierung ist zumindest missverständlich, sofern sie schöpfungstheologisch gedeutet werden kann. Die Darlegung der Position Fichtes orientiert sich vor allem an der Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, die als „Gründungsdokument“ einer Anerkennungslehre verstanden wird (S. 156). Diese hat bei Fichte, was unbedingt hätte gewürdigt werden sollen, Ludwig Siep zuerst umfassend herausgearbeitet. Leider wird von Honneth der bei Fichte schon im Titel der Naturrechtsschrift angezeigte Bezug zur Wissenschaftslehre unterbewertet, sonst wäre ihm aufgegangen, dass das Subjekt nicht „plötzlich“ (S. 157) in einen Kreis anderer Subjekte hineinversetzt wird, sondern sich als empirisches, also limitiertes (gemäß dem dritten Grundsatz der Wissenschaftslehre) so vorfindet. Die Anerkennung ist nur in diesem Rahmen zu thematisieren und auch keineswegs „Bedingung der Möglichkeit von Selbstbewusstsein“ (S. 163) überhaupt, sondern hat nur etwas mit dem emprischen Selbstbewusstsein zu tun, während das reine Selbstbewusstsein (zu dem das empirische zurückzukehren strebt und das dessen Grund ist) unmittelbar und gerade nicht reflexiv vermittelt ist. Erwähnt, aber nicht weiter verfolgt wird Fichtes Absicht, mit Hilfe der Anerkennung das Rechtsverhältnis zwischen Personen zu begründen. Das ist insofern symptomatisch, als auch Hegel den „Kampf um Anerkennung“ im vorpolitischen Raum und damit außerhalb des Rechtszustandes ansiedelt, was – bei Fichte wie bei Hegel – die systematische Tragweite des Anerkennungskonzepts gegenüber Honneths Anerkennungstheorie erheblich beschränkt. Hegel versucht nach Honneth, wie in einem vergleichsweise kurzen Abschnitt erläutert wird, im Gegenzug zu Fichte „Anerkennung“ empirisch-lebensweltlich zu verorten („Liebe“, „Herrschaft und Knechtschaft“), wobei Hegels ausdrückliche Hinweise darauf, dass der Rechtszustand in der Moderne vom Anerkanntsein als Personen ausgeht, nicht diskutiert werden.

Das Schlusskapitel zieht Bilanz, indem die bisher gemusterten Ansätze im Blick auf Unverträglichkeiten und einander ergänzende Elemente bewertet werden. Die britische Tradition des inneren Richters zum Beispiel erkläre „besser, als Hegel es vermag“, wie die intersubjektiv konstituierten Normen sich in Handlungsgewohnheiten verwandeln können (S. 208). Gegenüber den negativen Anerkennungstheorien des französischen Diskurses wird hervorgehoben, dass auch Hegel „Fälle einer Entgleisung der wechselseitigen Anerkennung“ (S. 213) kenne, zum Beispiel bei der Problematik des „Pöbels“ in der bürgerlichen Gesellschaft. Charakteristisch für den Pöbel ist für Hegel indes nicht die intersubjektive Nichtanerkennung, sondern der Verlust des rechtlichen Konsensus einer Gesellschaft, weshalb – wie Frank Ruda gezeigt hat[1]– Hegel auch von einem reichen Pöbel spricht. Als „blinder Fleck“ in Hegels Anerkennungslehre wird ausgemacht, dass (wie in der Beurteilung der Geschlechterverhältnisse) soziale Verhältnisse bisweilen naturalisiert werden (S. 223).

Honneths Abhandlung will keine erschöpfende Geschichte von Anerkennungskonzeptionen schreiben. Ergänzend wäre darauf zu verweisen, dass es Verbindungslinien gerade zwischen der früheren Aufklärung und der Klassischen Deutschen Philosophie gibt. Das im französischen Diskurs wichtige Thema des Verhaltens bei Hofe war ja Gegenstand einer eigenen Disziplin, der Hofphilosophie (philosophia aulica), die neben der „Philosophie für die Welt“ bestand und unter anderem an Ritterakademien gepflegt wurde. Diese schloss eine Theorie des gehörigen Betragens ein, an der sich dann besonders in Deutschland die Geselligkeitstheorien des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts orientierten. Hier, etwa bei Schleiermacher, werden dann Theorien wechselseitiger Anerkennung in einer kommunikativen Vergemeinschaftung entworfen, die mit dem normativen Ideal der Anerkennung nach meinem Dafürhalten mehr zu tun haben als Hegel.

Systematisch vernachlässigt die ideengeschichtliche Skizze eine Bruchstelle zwischen den behandelten Konzeptionen, die mit der Frage der Subjektkonstitution zu tun hat. Sind sie je schon immer als selbstbewusste und sich selbst bestimmende Subjekte anzusehen, die als solche in eine Interaktion eintreten? Oder konstituieren sie sich erst als solche Subjekte in der Beziehung auf Andere? Die Vorstellung, in der Beziehung auf Andere drohe der Verlust des Selbst, wie sie dem französischen Diskurs attestiert wird, geht jedenfalls ebenso von bereits konstituierten Subjekten aus wie etwa Fichte, für den das Selbstbewusstsein unmittelbar und nicht durch die Beziehung auf Anderes vermittelt ist. Hegel dagegen vertritt die Auffassung, dass Selbstbewusstsein sich in der Beziehung auf Andere und Anderes nur reflexiv konstituiert. Von der Beantwortung dieser Fragen hängt es entscheidend ab, welche Tragweite einem auf Intersubjektivität festgelegten Anerkennungskonzept überhaupt zukommen kann.

Honneths Essay ist anregend und erhellend für das Verständnis seiner Konzeption von Anerkennung; er macht aber auch deutlich, dass diese Konzeption aus einem eigenen systematischen Ansatz hervorgeht, der sich nicht umfassend aus der Philosophiegeschichte herleiten lässt.

  1. Siehe Frank Ruda, Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts‘, Konstanz 2011.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Politische Theorie und Ideengeschichte Philosophie

Andreas Arndt

Andres Arndt ist emeritierter Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiter der Schleiermacherforschungsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

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