Martin Bauer | Zeitschriftenschau |

Januarrundschau

Sozialwissenschaftliche Leseempfehlungen, kurz notiert

Am 20. Januar 2018 hat sich Donald Trumps Amtseinführung zum ersten Mal gejährt. Das Datum nimmt die New York Review of Books (1/2018) zum Anlass, die ersten zwölf Monate des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten Revue passieren zu lassen. Dass James Mann seine ausgesprochen düstere Bilanz unter die Überschrift Damage Bigly stellt, trägt den verheerenden Resultaten Rechnung, die der neue Herr im Weißen Haus als „Ein-Mann-Abrissbirne“ durch seinen Rassismus, seinen weißen Nationalismus und Isolationismus, aber auch durch seine Verachtung basaler Formen von Rechtsstaatlichkeit bewirkt hat. Insbesondere nimmt der Titel aber Bezug auf die absehbaren Folgen der gerade verabschiedeten Steuerreform, die den Staatshaushalt der Vereinigten Staaten in den kommenden zehn Jahren mit 1 Billion Dollar belasten wird. Die beschlossenen Steuererleichterungen werden nicht nur die Reichen noch reicher machen, sondern den Republikanern auch höchst willkommene nächste Anlässe dafür liefern, im Namen einer nötigen Konsolidierung der Staatsfinanzen immer weitergehende Einschnitte in den Sozialhaushalt vorzunehmen. Was diese Aussichten kurz- und mittelfristig für Trumps Wählerbasis bedeuten, ist eine noch offene Frage.

Wie sich die politischen Einstellungen der US-amerikanischen Wahlbevölkerung in den vergangenen zwölf Monaten entwickelt haben, verrät demgegenüber die aktuelle Ausgabe des Atlantic Monthly (January/February 2018). Dort führt Ronald Brownstein in Voters Abandoning Donald Trump detailliert aus, warum sich selbst die weiße Welt der Blue-Collar-Arbeiterschaft von Trump und der Republikanischen Partei abwendet. Deutlich wird außerdem, wie sich der Widerstand schwarzer Frauen aufgrund zunehmend besserer Organisation zu einem wichtigen Faktor entwickelt, der Ausschlag geben könnte für den Ausgang der anstehenden midterm elections. Und wer das Jahr mit guten Vorsätzen begonnen und sich vorgenommen hat, der Welt mit mehr Optimismus zu begegnen, damit sie freundlicher zurücklächelt, sollte sich von Sarah Elizabeth Adler in The Power of Negative Thinking eines anderen belehren lassen: Expect the worst, you can´t be disappointed.

Auch die vierteljährlich erscheinende linke Zeitschrift Dissent (Winter 2018) liefert, animiert durch den gegenwärtigen Zustand der politischen Kultur der Vereinigten Staaten, eine Situationsanalyse. Allerdings konzentriert sich der von Leo Casey eingeleitete Themenschwerpunkt Democracy in Crisis nicht auf eine Abrechnung mit Trumps erstem Amtsjahr. Vielmehr fragen die Beiträge ganz generell nach den für Demokratien relevanten Gefährdungen. Dabei zeichnet ein Beitrag von Michael Walzer die Überlagerungen von race, class, gender und culture nach, die ihm zufolge schon seit Mitte der 1970er-Jahre den Aufstieg des Rechtspopulismus ermöglicht haben. Auf der Linie dieser Beobachtung plädiert Walzer in How to Build a Majority für eine möglichst offene Politik von Bündnissen mit Partnern auf den unterschiedlichen Schauplätzen zivilgesellschaftlichen Engagements. Eine solche Politik sei nötig, wolle eine sich neu formierende linksdemokratische Opposition ihre gegenwärtig eher zerbrechlichen Chancen nicht verspielen. Walzer gibt zu verstehen, dass derartige Bündnisse nicht nur in den USA das probate Mittel gegen einen Populismus darstellen könnten, der sich rechts der Mitte formiert hat.

Kaffeehäuser im Grünen, die „Zur schönen Aussicht“ heißen, hat Frankreich nicht zu bieten. Dort verabredet man sich im „Café au Progrès“ und verbringt einen Teil des Sonntags auch nicht im Wald, weil Spaziergänge an der frischen Luft erholsam sind. Vielmehr hat Natur in Frankreich einen offenkundig anderen Stellenwert, was eo ipso für den technischen Fortschritt gilt. Umso interessanter für Leserinnen und Leser diesseits des Rheins ist deshalb die jüngste Ausgabe von Esprit (1-2/2018). Das intellektuelle Flaggschiff des französischen Linkskatholizismus eröffnet das neue Jahr mit  einem umfangreichen Themenheft, das Les mondes de l‘ écologie in den Blick nimmt. Selbstverständlich ist der inzwischen für ökologische Metaphysiken einschlägige Bruno Latour mit von der Partie. Seine neuesten Spekulationen gibt er unter dem Motto Une Terre sans peuple, des peuples sans Terre zu Protokoll. Deutlich weniger spekulativ fällt ein Interview mit Delphine Bato aus, Abgeordnete der Sozialistischen Partei und vormalige Ministerin für Umwelt, nachhaltige Entwicklung und Energie. Sie erteilt sachkundig Auskunft Sur le front de l‘ écologie. Und für diejenigen, die an einer ganz anderen Front nach Orientierung suchen, nämlich dort, wo sich Ökologie und postkoloniale Theorie begegnen, dürfte Dipesh Chakrabartys Beitrag Changement climatique et capitalisme Pflichtlektüre sein.

Die jüngste Ausgabe von Le Débat (Novembre/Décembre 2017) empfiehlt sich aus zwei Gründen. In einem ersten Dossier Sur la post-verité , das unterschiedliche Beiträge zu denjenigen Verhältnissen versammelt, die sich jetzt mit „alternativen Fakten“ zu beschäftigen haben, liefert Marcel Gauchet eine pointierte Stellungnahme zum dem, was er La guerre des verités nennt. Seine Grundthese lautet, das Postfaktische sei „le réjeton adultérin du politiquement correct.“ Im zweiten, La sociologie au risque d`un dévoiement betitelten Themenschwerpunkt des Heftes wird es im engeren Wortsinne „soziologisch“: Es geht um den Zustand des Fachs, um eine Besinnung auf die Möglichkeiten und Grenzen einer Erfahrungswissenschaft, deren Gegenstand das Soziale ist. De la difficulté à comprendre la société berichtet Dominique Schnapper, ehemalige Direktorin der École des hautes études en sciences sociales und Tochter von Raymond Aron. Sie plädiert für eine Soziologie, die den „Szientismus“ ebenso meidet wie die „Politisierung“, warnt die Disziplin aber auch eindringlich vor der – wahrscheinlich gerade in Frankreich prominenten – Neigung, sich einer Essayistik „mit mehr oder weniger philosophischer Prätention“ hinzugeben. Gerade in einer zu akzentuiert betriebenen, soziologischen Zeitdiagnostik identifiziert Schnapper das Risiko, das die Gesellschaftswissenschaft von ihrem Weg abbringen könnte. Und Nathalie Heinich, ihres Zeichens ebenfalls Soziologin an der École des hautes études in Paris, durchleuchtet im Anschluss an ihren Doktorvater Pierre Bourdieu noch einmal die  Misères de la sociologie critique. Gerade aus „Liebe zur Soziologie“ polemisiert sie kraftvoll und mit bestechenden Evidenzen gegen eine „neue doxa“, die behauptet, relevante Soziologie müsse politisch engagiert sein. Für Heinich markiert diese Dogmatik exakt den Abweg, auf dem sich die Soziologie notorisch in ihrem Anspruch blamiert, soziale Realitäten zu analysieren.

Einer verwandten Problemstellung, nämlich der Frage, wie normativ eine Soziologie sein darf, die zugleich reklamiert, empirische Wissenschaft von der Gesellschaft zu sein, verschreibt sich die jüngste Ausgabe von Thesis Eleven (Nr. 143). Nach einem kompakten, nicht nur biografisch, sondern auch theorie- respektive ideenhistorisch erhellenden Austausch zwischen der Lukács-Schülerin Agnes Heller und Jürgen Habermas, präsentiert der Rest des Heftes Contemporary Perspectives on Critical Theory and Social Systems Theory. Betreut haben den Themenschwerpunkt Hans-Georg Möller und Mario Wenning als Gastherausgeber, die beide in China an der Universität von Macau lehren. Offenbar lösen die hierzulande etwa von Uwe Schimank initiierten Versuche, so etwas wie eine Luhmann’sche Linke zu begründen, mittlerweile wenn nicht globale, so doch anglophone Resonanzen aus. Allerdings eröffnet in Thesis Eleven eine unzweifelhaft europäische Stimme die Debatte, nämlich die italienische Luhmann-Schülerin Elena Espositio mit ihrem Aufsatz Critique Without Crisis: Systems Theory as a Critical Sociology.

Als Seitenstück zu der Kontroverse zwischen Kritischer Theorie und Systemtheorie empfiehlt sich Martin Weißmanns Aufsatz Wie immanent ist die immanente Kritik? Soziologische Einwände gegen Widerspruchsfreiheit als Ideal der Sozialkritik. Der am Lehrstuhl von André Kieserling in Bielefeld tätige Soziologe diskutiert in seiner Intervention nicht zuletzt die Arbeiten der allerjüngsten Generation der Frankfurter Schule, wie in der letzten Ausgabe der Zeitschrift für Soziologie (6/2017) nachzulesen ist.

Erhellendes zur Entwicklung der Frankfurter Schule hat Peter Osborne beizusteuern. Zu finden sind seine heterodoxen Anmerkungen zur intellektuellen Physiognomie von Jürgen Habermas in Redemption through Discourse, einer außerordentlich gut informierten Rezension der unlängst in englischer Übersetzung erschienenen Habermas-Biografie von Stefan Müller-Doohm. Die Besprechung ist im jüngsten Heft der New Left Review (Nr. 108) erschienen. Auf dem Cover der Ausgabe wird Osbornes Beitrag, etwas irreführend, mit dem Titel Sage of the Rhine annonciert, während Habermas, bald neunzigjährig, doch schon seit Jahrzehnten als weiser Mann an den Ufern des Starnberger Sees residiert.

Wie sich die Soziologie zum Historischen Materialismus verhalten müsse, gehört heute – anders als in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts – sicherlich nicht mehr zum Pflichtpensum ihrer Grundsatzfragen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen derzeit anders geartete Herausforderungen. Eine, die zweifelsohne sehr ernst zu nehmen ist, greifen Anna Henkel und Gesa Lindemann auf, die für die Soziale Welt (2-3/2017) das Themenheft Welche Konsequenzen hat eine Einbeziehung von Materialität für die Untersuchung „des Sozialen“? herausgegeben haben. Lesenswert sind buchstäblich alle Aufsätze, die in dieser Ausgabe abgedruckt sind, weil sie verdeutlichen, wie lebhaft neue Ontologien des Sozialen zu diskutieren sind, hat sich doch mittlerweile gezeigt, dass die Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft mehr zu tun hat als Kommunikationsverhältnisse zu beobachten.

In Tonfall, Anlage und Ambition der verschiedenen Beiträge deutlich avantgardistischer, in der Stoßrichtung der Fragestellung aber durchaus zielverwandt, zeigt sich die jüngste Ausgabe von Behemoth. A Journal of Civilisation (1/2017). Katharina Hoppe und Benjamin Lipp habe eine ganze Reihe jüngerer Soziologinnen und Soziologen dazu eingeladen, über die Neuen Materialismen und die Konsequenzen nachzudenken, die daraus für unseren Begriff des Sozialen folgen – damit auch für das, was unter Soziologie zu verstehen ist.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Medien

Martin Bauer

Martin Bauer, M.A., ist Philosoph, Literatur- und Religionswissenschaftler. Er war bis 2022 geschäftsführender Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Portals Soziopolis am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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