Julian Müller | Interview |

„Man kann nach Latour nicht mehr an Latour vorbeiforschen“

Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour

Welches Latour-Buch war für Sie besonders wichtig?

Wir sind nie modern gewesen war ohne Frage ein sehr wichtiges Ereignis in meiner Lesebiografie. Es war auch das erste Buch, das ich von Latour gelesen habe. Rückblickend haben mich aber vor allem einzelne seiner Aufsätze beeindruckt, von denen einige noch einmal in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft verarbeitet wurden. Auf die Veröffentlichung von Existenzweisen habe ich sehr gespannt gewartet, wenn auch die Inhalte bereits von der Projekthomepage bekannt waren. Und obwohl ich große Sympathie für das Projekt hege, hat es mich als Buch nicht vollends überzeugt. Trotzdem kann ich mich noch erinnern, dass ich beim ersten Aufschlagen das Gefühl hatte, ein wirklich gegenwärtiges Buch in der Hand zu halten, das ich unbedingt so schnell wie möglich lesen musste. Das war offen gestanden ein eher seltenes Erlebnis für mich, weil viele der Bücher, mit denen ich im Studium konfrontiert wurde und an denen ich mich abgearbeitet habe, eben doch aus den Jahren 1968, 1981 oder 1984 stammten.

Hervorheben würde ich noch Jubilieren, Latours vielleicht persönlichstes Buch, im französischen Original 2002 erschienen. Darin setzt er sich mit religiöser Rede auseinander, entscheidet sich aber ausdrücklich dagegen, einen Text über Religion zu schreiben. Stattdessen führt Latour, ehemaliger Student der Bibelexegese, selbst religiöse Rede vor. Nicht nur greift er in diesem Buch prominent auf die Sprechakttheorie John L. Austins zurück, die ja ebenfalls ein wichtiger Einfluss für das spätere Existenzweisen-Projekt ist, vor allem wird an diesem Buch deutlich, dass Latour ein katholischer Denker ist, der kommunikatives Handeln eben anders fasst, als wir das zumeist gewohnt sind, und sich stärker für den Tonfall und den phatischen Aspekt der Kommunikation interessiert. Dieses zugegeben etwas merkwürdige Buch hat mich in jedem Fall dazu angeregt, etwas intensiver nach den konfessionellen Denkvoraussetzungen im Werk Latours zu suchen.

Was war Latours wichtigster Beitrag zur Soziologie?

Man kann nach Latour nicht mehr an Latour vorbeiforschen. Selbst wenn man mit seinen Arbeiten nichts anfangen kann, wird man nicht umhinkommen, die Technik, die Dinge, die Medien in einer Form in die eigene Forschung einzubeziehen, wie man es zuvor wohl nicht getan hätte. Latour war ja keineswegs der Erste, auch nicht der Einzige, der die Soziologie auf den Einfluss von Dingen und von Technik hingewiesen hat, aber er war sicherlich der Lauteste und Provokanteste. Ihm ist es gelungen, dass wir Techniksoziologie nicht mehr nur als eine Bindestrich-Soziologie unter vielen, sondern als wesentlichen Bestandteil der Allgemeinen Soziologie verstehen. Im Übrigen schätze ich Latour – ob er selbst damit einverstanden wäre, glaube ich zwar nicht – vor allem auch als Vertreter der Allgemeinen Soziologie. Mit dem Titel der deutschen Übersetzung von Reassembling the Social konnte ich daher auch nie viel anfangen, weil ich in diesem Buch weniger eine Neue Soziologie für eine neue Gesellschaft als vielmehr ein Interesse für sehr alte, klassische Fragen des Fachs entdeckt habe: Was ist eigentlich der Gegenstand der Soziologie? Was ist soziales Handeln? Was hält die Gesellschaft zusammen? Ist diese Frage überhaupt gut gestellt?

Womöglich liegt Latours wichtigster Beitrag sogar darin, die Soziologie und derartige Fragen für andere Fächer wieder interessant gemacht zu haben. Ich habe etwa im letzten Semester an einer Fakultät für Architektur gearbeitet, und wenn man dort durch die Flure gegangen ist, sind einem immer wieder Veranstaltungsplakate und Vortragstitel begegnet, die unübersehbar von Latour inspiriert waren. Er hat eben einen ganz eigenen Blick auf Verbindungen von Menschen, Dingen, aber auch von Räumen und Architekturen eröffnet und damit ermöglicht, dass Fächer miteinander ins Gespräch kommen, die das sonst eher selten tun. Die Soziologie sollte das als Gewinn und als Chance begreifen. Und das wäre ohne die griffigen Buchtitel Latours, ohne die ein oder andere Pointe und auch ohne so manche Polemik, an der sich einige im Fach gestört haben, sicherlich nicht möglich gewesen.

Welches Konzept, welche Intervention Latours sollte man weiterdenken?

Ob die Konzepte und Begriffe Latours gut altern werden, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Sein Werk zeichnet sich ja absichtlich nicht durch begriffliche Schärfe aus. Manche seiner Grundbegriffe, die streng genommen gar keine sind, hat Latour zu Lebzeiten ja bereits selbst revidiert, um dann sogleich auch noch diese Revisionen zu verwerfen. Was jedoch überdauern wird, ist Latours Methode der Komposition, sein indeterministischer und nicht-reduktionistischer Ansatz. Mich selbst hat fasziniert, wie er vor allem in den späten Arbeiten die Austin’sche Sprechakttheorie in die Soziologie überführt hat, wie er sich also für Performanz nicht nur auf der Ebene von Interaktionen, sondern für verschiedene gesellschaftliche Sprechweisen und ihre jeweiligen Gelingensbedingungen und Modulationen interessiert hat. Hier treffen aus meiner Sicht Performanztheorie, Differenzierungstheorie, Institutionentheorie und Rahmen-Analyse in einer Weise aufeinander, wie ich das so noch nicht kannte. Ich glaube zwar nicht, dass ‚Existenzweisen‘ dafür letztlich der geeignete Begriff ist, aber hier weiterzudenken und hieran weiterzuarbeiten, lohnt sich in jedem Fall.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Gesellschaftstheorie Kommunikation Methoden / Forschung Ökologie / Nachhaltigkeit Religion Technik Wissenschaft

Julian Müller

Dr. Julian Müller ist derzeit Vertretungsprofessor für Politische Soziologie an der Universität Marburg. Er leitet zudem das Forschungsprojekt „Re/Präsentation. Neue Formen der politischen Ansprache und Fürsprache in der kommenden Gesellschaft“. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen weiterhin u. a. Allgemeine Soziologie, Soziologische Theorie, Kultursoziologie sowie Medien- und Kommunikationstheorien.

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