Ulrich Bröckling | Rezension |

Monetative Gewalt, digitale Kontrolle, struktureller Populismus

Rezension zu „Kapital und Ressentiment“ von Joseph Vogl

Joseph Vogl:
Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart
Deutschland
München 2021: C.H. Beck
S. 224, EUR 18,00
ISBN 978-3-406-76953-5

Joseph Vogl eröffnet sein neues Buch mit der Ankündigung, er wolle „weder Epochenhermeneutik betreiben noch generelle Zeitdiagnosen ausstaffieren“, sondern eine „kurz gefasste Theorie der gegenwärtigen Lage“ (S. 8) liefern. Die Tonart ist damit gesetzt: „Lage“, das ist erst einmal ein militärischer Topos, die nüchterne Situationsanalyse als Grundlage für strategische und taktische Dispositionen. Der Begriff besitzt zugleich ein hohes Dramatisierungspotenzial: Die Lage ist grundsätzlich ernst, wie die täglichen Berichte zur Corona-Lage nicht müde werden zu betonen und Vogls Ausführungen eindringlich bestätigen. Allerdings gibt er eben keinen Lagebericht, sondern eine Theorie der gegenwärtigen Lage. Sie soll „jene Umstände und Bedingungen“ ausleuchten, „die eine Verständigung über diese Gegenwart und deren Herstellung erst ermöglichen“ (ebd.), und zielt damit auf die Frage, wie diese Lage zustande gekommen ist und was sie aufrechterhält. Die Grenze zwischen Gegenwartsdiagnostik und Theorie der Gegenwart mag unscharf sein, sie verläuft jedenfalls zwischen Zeitbild und historischem Apriori, zwischen synthetisierender Zentralperspektive und einer Analytik von Kräfteverhältnissen. Diagnosen bestimmen Pathologien, Theorien identifizieren Wirkmechanismen. Der diagnostische Blick will wissen, um zu heilen; der theoretische Blick will erklären, warum etwas so ist, wie es ist.

Im Zentrum von Vogls Analyse stehen ein politisch-ökonomisch-technologisches Akkumulationsregime und das damit einhergehende Kontrolldispositiv, die ihre expansive Kraft aus der wechselseitigen Verschränkung und Verstärkung von zeitgenössischem Finanzmarktkapitalismus, digitalen Netzwerkarchitekturen und Plattformindustrien sowie einer von Ressentiment angetriebenen Affektdynamik beziehen. Vogl schließt damit an seine vorangegangenen Bücher Das Gespenst des Kapitals (2010) und Der Souveränitätseffekt (2015) an, deren Thesen er nun vor allem im Hinblick auf die algorithmische Bewirtschaftung von Information und die affektive Ökonomie autoritärer Orientierungen erweitert. Vogl legt die disparaten Kräftelinien frei, macht ihre Homologien kenntlich und zeigt vor allem ihre „effektive Fusion“ (S. 7) auf. Mein Kommentar konzentriert sich darauf, den ungemein dichten Argumentationsgang von Kapital und Ressentiment nachzuvollziehen, um abschließend nach der Aufschließungskraft dieses Typus von Theorie der Gegenwart zu fragen.

Unter dem Stichwort Finanzialisierung verhandelt Vogl das System einer finanzökonomischen global governance, deren Interventionen die Marktkräfte nicht begrenzen, sondern forcieren, während sie die formale Autorität von Regierungen wie auch die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich aushöhlen. Diese – neben Legislative, Exekutive und Judikative – vierte Gewalt, Vogl spricht von „Monetative“, stützt sich auf eine rechtlich nicht formalisierte Sekundärstruktur, wie er an Gremien von demokratisch fragwürdiger Legitimation wie der Troika aufzeigt, und regiert gleichermaßen mittels administrativer Direktiven wie indirekter Anreizsysteme. Monetative Politik postuliert Wettbewerbsfähigkeit, um Marktdisziplin durchzusetzen. Aus der Krise von 2008 ging dieses Regime gestärkt hervor, weil es ihm gelang, finanzielle Risiken von Märkten auf Staaten, Sozialsysteme und Bevölkerungen abzuwälzen.

Neue Symbiosen

Ermöglicht wurde die Expansion der Finanzmärkte nicht zuletzt durch ihre Symbiose mit den digitalen Informationstechnologien. Schon der Informationsbegriff ließ sich bruchlos in die Modellierung von Märkten einbauen, wenn man mit Friedrich Hayek den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, das heißt als informationsverarbeitende Maschine verstand. Märkte prozessieren demnach Informationen, indem sie aggregierte Wertschätzungen in Preise übersetzen, die neue Informationen liefern, welche auf die Wertschätzungen zurückwirken und so wiederum in die Preisbildung einfließen. Auf Finanzmärkten geschieht dies der neoklassischen Theorie nach nahezu friktionsfrei, da idealerweise alle Informationen allen Beteiligten verfügbar sind, Einigkeit über deren Implikationen besteht und überdies keine Transaktionskosten anfallen. Diese unterstellte informationelle Rationalität bringt es mit sich, dass sich statistisch gesehen der Spielraum für Spekulationsgewinne minimiert, weil die einzelnen Preisvariationen unkalkulierbar sind, sie in der Summe jedoch um einen Mittelwert oszillieren. Vogl zeichnet zum einen nach, wie die Finanztheorie in der Folge komplexe mathematische Modelle (und darauf aufbauend nicht minder komplex strukturierte Finanzprodukte) entwickelte, welche „die Risiken spekulativer Geschäfte durch spekulative Geschäfte“ eindämmen sollen. Zum anderen verweist er auf den prekären epistemischen Status finanzökonomischer Informationen, die abbilden, „wie sich Wertschätzungen aus Meinungen formieren, die die Meinung über Meinungen spiegeln“ (S. 53). Als Meinungsmärkte haben sich die Finanzmärkte weitgehend vom wirtschaftlichen Gesamtgeschehen abgekoppelt. Ihre Notierungen beruhen nicht auf der Bewertung wirtschaftlicher Basisdaten etwa über Produktivität, Ertragslagen, Kostenstrukturen oder Konjunkturentwicklungen, sie resultieren vielmehr aus einem fortlaufenden Rückkopplungsprozess, „in dem Informationen Preise, Preise Kaufentscheidungen und diese wiederum Informationen, Preise und Entscheidungen generieren“ (S. 57). Begründungsfragen sind suspendiert – ein Reduktionismus, der es erlaubt, die Operationen zu automatisieren und algorithmisch abzuwickeln. Die informationstheoretische Formalisierung der Finanzmärkte verlangte geradezu nach ihrer informationstechnologischen Aufrüstung.

Umgekehrt übte das Internet eine außerordentliche Faszination auf die Finanzwirtschaft aus. Nachdem die Netzwerkstruktur mit öffentlichen Mitteln aufgebaut worden war, tat sich hier ein erweiterter Akkumulationsraum auf, der zum Labor neuer Geschäftsmodelle wurde und riesige Summen an Wagniskapital anzog. In den digitalen Plattformindustrien realisiert sich die Allianz zwischen Finanz- und Informationsökonomie, die auf einer strukturellen Homologie aufbauen kann. Beide verbinden, wie Vogl mit Rekurs auf Philipp Staab und Nick Srnicek herauspräpariert, geringe Friktionen und hohe Informationseffizienz sowie eine Vorliebe für maklerische Tätigkeiten. Sie etablieren „proprietäre Märkte“ (Staab) und schöpfen Wert, indem sie die Vermittlung von Angeboten und Nachfragen organisieren. Beide haben es mit dematerialisierten Produkten zu tun, „die sich durch endlose Skalierbarkeit, einfache Distribution und Nicht-Rivalität (also Unknappheit) auszeichnen“ (S. 68). Information ist unbegrenzt generierbar und lässt sich ohne nennenswerte Kosten verbreiten. Attraktiv für die Finanzmärkte sind die Plattformen erstens, weil sie ihre Fixkosten niedrig halten, indem sie „Autofahrten ohne den Besitz von Fahrzeugen, Unterkünfte ohne Immobilienbesitz, Raumpflege ohne Putzeimer, Mahlzeiten ohne Küchenmobiliar oder Flugreisen ohne Wartung und Betrieb von Flugapparaten anbieten“ (S. 69). Zweitens zeitigen sie selbstverstärkende Netzwerkeffekte – steigende Nutzerzahlen sorgen dafür, dass die Nutzerzahlen weiter steigen – und begünstigen so Monopolbildungen. Dank Standortflexibilität und Aufspaltung in ein Geflecht von Subunternehmen sind sie drittens Meister in Sachen Steuervermeidung. Viertens schließlich intensivieren sie durch konsequentes Outsourcing und prekäre Beschäftigungsverhältnisse, vor allem aber durch Inwertsetzung von Nutzeraktivitäten die Extraktion von Mehrwert. Mit jedem Klick schaffen und liefern die User Informationen, welche die Plattformunternehmen kapitalisieren. Als „Produser“ leisten sie weder Lohnarbeit, noch fungieren sie als selbständige Subunternehmer, zur Wertschöpfung tragen sie allein dadurch bei, dass sie im Netz unterwegs sind. Je mehr Zeit sie in den digitalen Räumen verbringen, desto produktiver sind die User für die Konzerne. Deshalb legen diese es darauf an, ihre Angebote so auszuweiten, dass möglichst alle Lebensäußerungen vermittelt über die Plattformen ablaufen. Vogl beschreibt dieses entgrenzte Abschöpfen eines „Verhaltensmehrwerts“ als Landnahme im Marx’schen Sinne, als Erweiterung der Akkumulation durch Kommodifizierung bis dahin nicht kommodifizierter Bereiche.

Stirbt der Leviathan?

Ihre Macht festigen die digitalen Monopolisten durch die maschinellen Kontrolltechnologien des „Tracking, Tracing, Targeting, Ranking, Scoring, Mapping, Profiling etc.“ (S. 88). Als Verfahren panoptischer Überwachung wären diese freilich gründlich missverstanden. Die Plattformen stimulieren vielmehr die Online-Aktivitäten ihrer User und nutzen die auf diese Weise generierten Daten zur Mustererkennung. Die daran anschließenden Sortier- und Adressierungspraktiken, über die Ziel- und Risikogruppen, Kunden- und Wählerprofile ermittelt werden, lassen sich für personalisierte Marketingstrategien ebenso einsetzen wie für politische Mobilisierungskampagnen oder medizinische Präventionsprogramme. Erhöhtes Datenaufkommen steigert ihre Präzision. Auf Zwangsmaßnahmen kann eine solche Verhaltenslenkung getrost verzichten, an deren Stelle tritt die Verführungskraft kostenloser Dienstleistungen, Zugangsrechte und anderer Gratifikationen. Nudging schlägt Disziplin. Belohnt wird, dass der Datenfluss nicht abreißt. Die technische Struktur des Internet ermöglicht einen Steuerungsmodus, der „Kommunikation, Konnektivität, Kompatibilität und Interaktivität als Kontrolle“ installiert (S. 92) und damit perfekt an die Erfordernisse der Plattformindustrie angepasst ist. Kybernetisierung und Kommerzialisierung laufen parallel und verstärken sich gegenseitig. Das digitale Kontrollregime schwächt rechtliche Formen der Verhaltenskoordination und Konfliktbearbeitung zugunsten algorithmischer Entscheidungsprozeduren, die Probleme gleich welcher Art so formatieren, dass sie sich mithilfe maschinensprachlicher Codes in eindeutig definierten Schritten abarbeiten lassen. Vogl erkennt darin die Umrisse einer „Polis der Solution“, einer Rechtfertigungsordnung, die ihre Suggestionskraft aus der Effizienz und Verallgemeinerbarkeit informationstechnischer Lösungen bezieht und unternehmerische mit gouvernementaler Rationalität kurzschließt. Aus Legitimation durch Verfahren wird Legitimation durch Vollstreckungsvorsprung.

Über ihre Sicherheits-, Gesundheits- und Bildungsapplikationen greifen die Plattformunternehmen schon jetzt in Kernbereiche staatlicher Daseinsvorsorge aus. Mit ihren Anstrengungen, eigene digitale Währungen zu schaffen, streben sie darüber hinaus nach monetärer Souveränität, wie Vogl am Beispiel von Facebooks Libra- beziehungsweise Diem-Projekt ausführt. Als Türöffner fungiert ein Inklusionsversprechen: Die Protagonisten privatisierter Geldschöpfung und Notenausgabe werben damit, den globalen Zahlungsverkehr zu vereinfachen und jenen Teilen der Weltbevölkerung Zugang zu verschaffen, die bisher mangels Bankkonto davon ausgeschlossen sind. Wenn niemand draußen bleibt, wächst zugleich die Kontrollmacht der Plattformen. Die geplante Facebook-Währung erscheint damit als konsequente Fortführung einer Konzernstrategie, die es darauf anlegt, sämtliche Sozialverhältnisse in ihr Ökosystem einzubetten. Libertärer Marktradikalismus und imperiale Unternehmensformen gehen zusammen. Der Leviathan stirbt deshalb nicht ab, aber seine Souveränitätsposition wird durch privatwirtschaftliche und technische Strukturen überlagert. Vogl befürchtet eine Eskalationsdynamik, „an deren Ende sich eine Ablösung des Netzbürgers vom Staatsbürger vollzieht und in einen mehr oder weniger freiwilligen Beitritt ganzer Bevölkerungen zu einem privaten ‚Online-Staat‘ mündet“ (S. 115).

Damit nicht genug. Die informationsökonomische Zurichtung der Welt schlägt bis auf die ontologische Ebene durch, wie Vogl im Rekurs auf Alexander Galloways Überlegungen zum wirklichkeitskonstituierenden Status digitaler Technologien ausführt. Einmal mehr konstatiert Vogl eine Konvergenz und wechselseitige Verstärkung: Sachverhalte mithilfe von Codes, Programmiersprachen und Software mathematisch formalisiert zu erfassen und darzustellen und sie kapitalistisch zu bewirtschaften, ist in der Welt der Plattformen ein und derselbe Vorgang. Alles was in Information übersetzt wird, wird im gleichen Zuge verfügbar für automatisierte Prozeduren der Aggregation, Selektion, Normalisierung, Bewertung und Bepreisung. Wahrheitsfragen werden dagegen obsolet, mit ihren zeitraubenden Begründungszwängen behindern sie die effiziente Zirkulation und Valorisierung von Information. Was zählt, sind Korrelationen. Wissen wird entwertet, Nichtwissen avanciert dagegen zur ökonomischen Ressource. Zumindest für Apologeten des Marktes wie Hayek gilt es als ausgemacht, dass die spontane Ordnung des Wettbewerbs von der „konstitutiven Unwissenheit“ der Einzelnen abhängt, die ihre Entscheidungen stets nur auf Grundlage bruchstückhafter Informationen treffen.

Vom Nichtwissenkönnen zum Nichtwissenwollen, von Agnostik zur Wissensfeindschaft ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Vogl attestiert dem zeitgenössischen Kapitalismus eine „pseudologische Struktur“, welche die Kunst „eines ebenso wirkungsvollen wie enthemmten Fabulierens“ (S. 144) perfektioniert. In dieses Genre fallen neben Betrug, Lügen und Halbwahrheiten vor allem auch kommunikative Strategien zur Erzeugung von truthiness, ein Neologismus, für den Vogl die großartige Übersetzung „Wahrscheinbarkeit“ (S. 145) findet: Evidenzen, die für Glaubwürdigkeit sorgen und zugleich von den Mühen rationalen Argumentierens entlasten; Plausibilitäten, die Aufmerksamkeit attrahieren, ohne sich um kognitive Konsistenz zu scheren; Gewissheiten, deren affektive Resonanz wichtiger ist als ihre Überprüfbarkeit.

Ressentiment, affektökonisch

Der Verschmelzung von Finanz- und Informationsökonomie, der Kongruenz ihrer Akkumulations- und Kontrollregime sowie ihrer datafizierten Ontologie korrespondiert eine Affektökonomie, deren Kraftzentrum das Ressentiment bildet. Ihr ist das letzte Kapitel des Buches gewidmet. Vogl versteht Affekte in der Tradition von Spinoza bis Deleuze nicht als psychische Dispositionen, sondern als ein energetisches Geschehen, welches das Soziale als Relation von Intensitäten unterhält. Affektdynamiken sind also kein bloßes Epiphänomen, sondern mit den ökonomischen Prozessen, der politischen Verfasstheit und den technologischen Strukturen eng verknüpft. Ähnlich wie Albert O. Hirschman den Aufstieg des Kapitalismus mit der Zähmung von Leidenschaften zu Interessen zusammengebracht hat, beschreibt Vogl das Wechselverhältnis zwischen der Zirkulation von Ressentiment und dem Kapitalismus in seiner vorerst letzten Gestalt. Auf die ökonomische Grundierung dieses Affekts hatten bereits Friedrich Nietzsche, Werner Sombart und Max Scheler hingewiesen, deren Bestimmungen Vogl kritisch aufgreift. Das Ressentiment ist demnach ein zusammengesetzter Affekt. Es speist sich aus den der kapitalistischen Konkurrenz eigenen Vergleichs- und Bewertungszwängen, die den Einzelnen die eklatante Kluft zwischen liberalen Gleichheitsversprechen und tatsächlichen Besitz- und Machtasymmetrien immer wieder schmerzhaft vor Augen führen. In seinen Bestandteilen – „verneinender Selbstbejahung, verschobenem Handlungsimpuls, Lebensneid, Delegationsneigung und Zurechnungssucht“ (S. 162) – mischt sich ein ebenso nagendes wie unbestimmtes Gekränktsein mit dem toxischen Konkretismus des Sündenbockprinzips. Der Ressentimentgeladene fühlt sich zurückgesetzt. Weder gelingt es ihm, sich mit seiner Ohnmacht zu arrangieren, noch sie zu überwinden; weder durchschaut er die abstrakten Prinzipien der Valorisierung, noch kann er das Urteil des Markttribunals akzeptieren. Daraus entsteht ein Affektstau. Einen Börsencrash kann man so wenig hassen, wie eine Wachstumskurve lieben. Deshalb personalisiert der vom Ressentiment Angetriebene die Ursachen seiner Kränkung und identifiziert vermeintlich Schuldige, deren Bestrafung er von den Autoritäten einfordert, wenn er sich nicht gleich mit anderen zusammenrottet, um selbst Hand anzulegen. Genau in dieser Verschiebung liegen die Wurzeln des modernen Antisemitismus, den Vogl im Rekurs auf Theodor W. Adorno als „konformistischen Aufruhr des Ressentiments“ (S. 170 f.) deutet. Dem Antisemiten dient die Gestalt des jüdischen Bankiers zumal in Zeiten der Krise als willkommenes Ersatzobjekt, um der abstrakten Vergeltungssucht ein konkretes Ziel zu geben.

Die enge Beziehung zum Ressentiment, welche die Geschichte des Kapitalismus begleitet, gewinnt in der Gegenwart in dem Maße an Brisanz, wie die Verschmelzung von Finanz- und Informationskapital die Bewirtschaftung des Sozialen im Allgemeinen und die der Affekte im Besonderen erweitert und intensiviert. Vogl verweist auf die allgegenwärtigen digitalen Vergleichs- und Ranking-Praktiken, auf die Emotionalisierung prämierende Aufmerksamkeitsökonomie und virale Eskalationsdynamik der Netzkommunikation sowie auf die „Potenzierung von Gemeinschaften“ bei gleichzeitiger „Depotenzierung von Gesellschaft“ (S. 172) in den Sozialen Medien. In ihren technischen Operationen wie in ihren Geschäftsmodellen sind die Plattformunternehmen gewaltige Immediatisierungsmaschinen und als solche darauf angelegt, „Vermittlungsphobien“ (S. 175) zu erzeugen. Das macht sie attraktiv für Entrepreneure des Ressentiments. Populistische Parteien und Bewegungen organisieren ihre Wutkampagnen denn auch vorrangig über die digitalen Netzwerke. Sie profitieren davon, dass die proprietären Informationsmärkte „die Zirkulation von Standpunkten und Ansichten“ privilegieren, weil „die Verwandlung beliebiger Inhalte in algorithmisch prozessierbare Informationen von ihnen allein das Meinungssubstrat zurück[behält]“ (S. 177). Es sind die Bewertungen, die eine Information ökonomisch verwertbar machen. Der in den Echokammern der Online-Communities kollektivierte Subjektivismus des bloßen Meinens verträgt sich freilich aufs Beste mit einem autoritären Tatsachenfetischismus, dessen Gewissheitsbehauptungen keinen Widerspruch dulden. Begründungen stören nur, wenn es darum geht, das Ungefähre mit dem vermeintlich Fraglosen kurzzuschließen. Das Ressentiment fragt ohnehin nicht nach Wahrheit, sondern sorgt für affektive Passung. Um eine maximale Inklusion und Aktivierung von Nutzern zu stimulieren, stellen die Plattformen einerseits eine universelle Infrastruktur bereit, andererseits generieren sie durch algorithmische Selektionen partikulare Vergemeinschaftungsgelegenheiten, die von den adressierten Produsern nachgefragt und praktisch umgesetzt werden. Die daraus resultierende Tribalisierungsdynamik befeuert wiederum das Ressentiment, von dem sie zehrt. Zusammengenommen ergibt sich so eine radikalisierte Form negativer Vergesellschaftung, die Vogl „strukturellen Populismus“ (S. 174) nennt.

Entgrenzte Feindseligkeiten

Das Buch schließt mit einem düsteren Ausblick: „Auch wenn es keine Enden und keine puren Ausweglosigkeiten in der Geschichte gibt“, schreibt Vogl in geradezu Hobbes’scher Diktion, „muss man wohl konzedieren, dass die Feindseligkeit aller gegen alle nicht nur zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell, sondern zu einem überaus zukunftsfähigen Gemeinschaftsgefühl geworden ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es das Ferment einer neuen Vorkriegszeit liefern wird.“ (S. 182) Nicht erst von ihrem Ende her gelesen, entwirft diese kurze Theorie der Gegenwart ein dystopisches Szenario. Das bedächtige Abwägen von Risiken und Chancen ist Vogls Sache so wenig wie das detektivische Aufspüren von Widerstandspotenzialen. Das sprichwörtliche Pfeifen im digitalen Wald überlässt er anderen. Von Gilles Deleuzes trotzigem „Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen“[1] erscheint Vogl so weit entfernt wie dessen 1990 verfasste Vorschau auf die Kontrollgesellschaften vom aktuellen Stand ihrer Realisierung, den Kapital und Ressentiment kartografiert. Vogl analysiert die strategischen Wahlverwandtschaften zwischen Finanz-, Informations- und Affektökonomien und zeichnet nach, wie deren Kraftfelder sich zu einem verhängnisvollen Zirkel wechselseitiger Intensivierung zusammenschließen. So konzise er die Gouvernementalität der Gegenwart umreißt, so offen muss er lassen, welchen Status er seinen Ausführungen beimisst: Beschreiben die wiederkehrenden Metaphern von Wahlverwandtschaft, Verschränkung und Fusion Korrespondenzen oder Kausalitäten? Was sind analytische Befunde, was Überkonturierungen, die Linien weiter ausziehen und Dringlichkeit signalisieren? In disziplinäre Schubladen lässt sich das Buch schwerlich einordnen. Es entbehrt allerdings nicht der Ironie, dass ausgerechnet ein Literaturwissenschaftler sich an eine Theorie der gegenwärtigen Lage wagt und damit einer Soziologie den Spiegel vorhält, die es sich in empirischen Mikrostudien bequem macht oder die Wirklichkeit auf jene Faktoren zurechtschneidet, die sich vermessen lassen, und die in beiden Ausprägungen sich die leidige Frage nach der Gesellschaft vom Halse hält.

Obwohl Vogl selbst davor warnt, die Logik der Kontrollgesellschaften mit den tatsächlichen Kontrollmechanismen zu verwechseln, erzeugt die Lektüre einen Sog, genau das zu tun. Die negative Totalität, die sein Text evoziert, ist nur schwer auszuhalten. Man kann deshalb davon ausgehen, dass die Rezensenten ihm genau diese Negativität vorwerfen werden: Herr Vogl, wo bleibt das Positive? Was aber wäre, wenn es keine Antwort auf diese Frage gäbe? Wenn die ersehnte Ermutigung nur um den Preis der Vortäuschung falscher Tatsachen zu haben wäre? Dass Vogl sich dem Ansinnen verweigert, Theorie zu Trost zu verdünnen, macht die Stärke von Kapitalismus und Ressentiment aus. Seine ebenso brillante wie verstörende Gegenwartsanalyse gehört zu jenen Büchern, deren Wahrheit darin liegt, dass sie nichts mehr wollen, als unwahr gemacht zu werden. Wir brauchen mehr davon.

  1. Gilles Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, übers. von Gustav Roßler, Frankfurt am Main 1993, S. 254–262, hier: S. 256.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Affekte / Emotionen Digitalisierung Kapitalismus / Postkapitalismus Wirtschaft

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Ulrich Bröckling

Dr. Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.

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