Olaf Briese | Rezension |

Negativer Anarchismus

Rezension zu „Unherrschaft und Gegenherrschaft“ von Florian Mühlfried

Florian Mühlfried:
Unherrschaft und Gegenherrschaft
Deutschland
Berlin 2022: Matthes & Seitz
125 S., 15,00 EUR
ISBN 978-3-7518-0558-2

Die Beschäftigung mit indigenen Gemeinschaften oder vormodernen Gesellschaften hat in den Sozialwissenschaften seit einiger Zeit Konjunktur. So fehlt es nicht – man denke an die Arbeiten David Graebers oder Thomas Wagners – an ethnologischen, soziologischen oder politologischen Studien, die den untersuchten Gruppen herrschaftsfreie, anarchische Praktiken zuschreiben und sie als Folie für die kritische Diskussion bestehender Gesellschaftsordnungen und Wirtschaftsweisen nutzen. Die hier vorgelegte sozialanthropologische Feldstudie des in Georgien und Österreich lehrenden Ethnologen Florian Mühlfried ist diesem Trend nicht zuzurechnen und frei von verklärenden Tendenzen. Obwohl der Autor anhand von Sozialpraktiken in der heutigen Republik Georgien durchaus Elemente von Herrschaftsfreiheit, Nichtherrschaft und Unherrschaft herausarbeitet, ist er doch nicht blind für die Schattenseiten der von ihm untersuchten Gesellschaft. Freiheit von staatlicher Organisation und staatlicher Herrschaft, so das relativ ernüchternde Fazit, bedeute eben nicht Freiheit von jeglicher Herrschaft, sondern die Verlagerung von Herrschaft und Macht auf andere Ebenen: Staatslosigkeit ist nicht gleichbedeutend mit Herrschaftslosigkeit.

Streng genommen handelt es sich bei der Publikation weniger um eine Feldstudie, als vielmehr um sechs lose miteinander verbundene und gut lesbar geschriebene Essays, die Entwicklungen in Georgien seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 thematisieren. Die Essays mäandern auf kluge Weise. Sie sind so facettenreich und so oszillierend, wie die in ihnen beschriebenen Phänomene. Eine ‚harte Theorie‘, und das ist durchaus ein Vorzug dieser Publikation, findet sich in ihnen nicht. Obwohl diese Essays gegenstandsnah gehalten und in gewisser Weise ‚theorieschwach‘ sind, lässt sich eine gewisse verbindende Grundthese herausstellen: „Wo Anti-Herrschaft eine neue Herrschaft und Gegenherrschaft die bestehende Herrschaft in die Schranken weisen will, zielt Unherrschaft darauf ab, die Ausübung von Herrschaft zu unterlaufen“ (S. 112). Diese drei, freilich definitorisch nie klar umrissenen Kategorien „Anti-Herrschaft“, „Gegenherrschaft“ und „Unherrschaft“ bilden das konzeptuelle Scharnier, mit dessen Hilfe der Autor seine Argumentation entfaltet. Thematisiert werden darin Praktiken von Sozialorganisation jenseits staatlicher Macht. Dabei – und hier zeigt sich der nicht-emphatische, nüchterne Blick des Autors – arbeitet er heraus, dass das Fehlen, die Verabschiedung oder die Zurückweisung staatlicher Herrschaft, also die von Akteuren erstrebte oder proklamierte Unherrschaft, keinesfalls den Abschied von Herrschaft an sich bedeutet. Die Beschwörung von Akephalie – verstanden als dezentrale, egalitäre Gesellschaftsorganisation – ist eine Selbsttäuschung. Sie ist eine gewollte oder ungewollte Selbsttäuschung derjenigen Instanzen, die überall dort, wo es der Staat nicht oder nicht mehr tut, auf ihre Weise Herrschaft und Macht ausüben und im Namen eines durch Gewohnheitsrecht unterstellten „Wir“ bestimmte Akteursgruppen gegenüber anderen priorisieren und privilegieren. Und sie ist eine Selbsttäuschung derjenigen Forschungsdiskurse, die mit der Nichtexistenz staatlicher Macht jegliche Machtverhältnisse suspendiert sehen wollen: „In den klassischen Ansätzen der anarchistischen Anthropologie wird institutionalisierte Herrschaft mit Staat gleichgesetzt“ (S. 67).

In einem ersten Komplex verdeutlicht Mühlfried sein Argument anhand abgelegener georgischer Agrargesellschaften. In den Jahrzehnten der Sowjetherrschaft hatten die betreffenden Dörfer und Dorfverbünde ihre Autonomie zwar formell eingebüßt, versuchten sie aber dennoch mehr oder weniger zu bewahren: „Diese Gesellschaften waren segmentär strukturiert, Entscheidungen erfolgten im Konsens; eine ältere Generation von Ethnologen hätte sie als ‚egalitär‘ bezeichnet“ (S. 25). Diese Gesellschaften haben sich nach 1991, angesichts nun schwächerer zentraler Eingriffe des neuen Staats, wieder bedingt restituiert. Aber egalitär und herrschaftsfrei, so der erste skeptische Vorbehalt des Autors, sind diese wieder errichteten Dorfgesellschaften mitnichten. Was zeichnet sie dann aus? Die Herrschaft von Ratsrunden, von Ältestenräten, die patriarchalische Herrschaft von sozial Privilegierten im fortgeschrittenen Alter. Es ist die Herrschaft von männlichem Besitz und Alter, und zwar über Nichtbesitz, über Jugend und über Frauen: „Es ist also alles schon da, was diese staatsferne Gesellschaft eigentlich von sich weisen müsste: hierarchische Herrschaft, Abhängigkeitsverhältnisse, Befehlsstrukturen, selbst Sklaverei“ (S. 43). Zugespitzt gesagt: Das vermeintliche anarchische Paradies erweist sich auch als archaische Hölle. Akteurinnen und Akteure mit Emanzipationsanspruch rufen nicht selten die Hilfe staatlicher Strukturen an, um ihren Vorstellungen von Egalität wenigstens schrittweise näher zu kommen. Selbst die diesen Kleingesellschaften innewohnenden Elemente von Gewaltenteilung, die ausbalancierend wirken und eine Machtmonopolisierung verhindern sollen, tragen auf ihre Weise zur Stabilisierung des Status quo bei. „Anti-Herrschaft“, „Unherrschaft“ und „Nichtherrschaft“ sind, bezogen auf diese georgischen Agrargesellschaften, also höchst prekäre Termini und kritisch zu hinterfragen.

Ein zweiter Themenkomplex, an dem der Autor Herrschafts- und vermeintliche Nichtherrschaftsverhältnisse erörtert, ist das georgische Gastmahl (supra). Auch hier waltet ein überkommenes Gewohnheitsrecht, das die Grenzen zwischen privater Feier und öffentlicher Zelebrierung verschwimmen lässt. Das Gastmahl weist formelle und informelle Regeln auf, welche die außerhalb dieses Geschehens bestehenden gesellschaftlichen Regeln ebenso konterkarieren wie perpetuieren. Dadurch kommt es zu einem beständigen „Grenzgang am Rande der Herrschaft“ (S. 90), das heißt zu einem Spiel mit den ansonsten gegebenen ökonomischen, politischen und ethnischen Hierarchien. Es handelt sich, wenn man so will, um einen situativen Karneval im Kleinen, und durch das sogenannte Gastrecht (und Gastgeberrecht) können sich Machtverhältnisse relativieren und momentweise sogar verkehren. Es ist ein exzessives Fest und als solches steht es zunächst nicht für Leistung, sondern für Verschwendung. Aber auf seine Art kann auch das Fest Leistung und Leistungsdruck generieren. Insofern besitzt es, rein ökonomisch gesehen, eine Rationalität sui generis, ähnlich derjenigen, die Marcel Mauss für das Phänomen der Gabe ausgeführt hat. Und es besitzt Qualitäten über diese ökonomische Sphäre hinaus, die sich, so der Autor, nur in doppelter Negation beschreiben lassen: „Es herrscht nicht keine Arbeit und nicht keine Vergeudung; es gibt nicht keine Kontrolle und nicht keinen Exzess; es besteht nicht keine Herrschaft und nicht keine Anarchie“ (S. 89). Was herrscht, so sollte aber weitaus kritischer ergänzt werden, als der Autor hier zu erkennen gibt, ist ein Kultus der Männlichkeit, der sogenannten Ehre und der puren physischen Omnipotenz angesichts von überbordendem Alkohol- und Speisengenuss. Pointiert gesagt: Herrschaftsaufhebung verteilt die herkömmlichen Potenziale von Herrschaft hier scheinbar ebenso neu, wie sie diese stabilisiert.

Ein dritter Themenkomplex des Buchs kreist um die demokratischen Proteste in Georgien während der Jahre 2019/20, die durch den Auftritt eines prominenten russischen Duma-Abgeordneten im georgischen Parlament ausgelöst worden waren. Diese Proteste, die ursprünglich auch von der Aufwallung nationalistischer Affekte genährt wurden, führten zur Entstehung einer basisdemokratischen Bewegung und mündeten in die Forderung einer Änderung des Wahlrechts, um Oppositionsparteien größere Chancen einzuräumen. Zwei Figurationen arbeitet der Autor anhand dieser Proteste exemplarisch heraus: erstens die des Protests, des Widerstands, also das negative Ziel einer Minimierung staatlicher Herrschaft, und zweitens das ‚positive‘ Ziel einer systemimmanenten und innerparlamentarischen Ersetzung einer oder mehrerer Machtgruppen durch andere oder neue. Damit kratzt der Autor ebenfalls am Glanz demokratischer Idolatrie: Auch im Rahmen einer demokratisch-repräsentativen Regierung wird Macht, wird Herrschaft ausgeübt, und demokratischer Protest dagegen kann in dem Ziel bestehen, ebenfalls Anteil an dieser Macht und Herrschaft zu haben.

Darin, dass sie hinter die Maske vermeintlicher Nichtherrschaft blicken, so lässt sich zusammenfassen, besteht das produktive und anregende Verdienst der sechs kleinen und anschaulichen Essays, die weniger durch konzeptuelle Innovationen als vielmehr durch ihre materialnahe und materialreiche Darstellung überzeugen. Mit einem Menschenbild, das nicht an den optimistischen Jean-Jacques Rousseau, sondern eher an den skeptischen Immanuel Kant erinnert, stehen sie für eine andere Art kritischer Theorie von Herrschaft. Denn im Rahmen einer „dunklen Ethnologie“, zu der sich Mühlfried programmatisch bekennt (S. 116), lässt sich der Traum von Herrschaftsfreiheit nicht ungebrochen träumen: „Absolut gedacht wird es Unherrschaft vermutlich ebenso wenig geben (können) wie egalitäre Gesellschaften. Aber gerade in der Unmöglichkeit deren Verstetigung, Verfestigung oder Verdichtung zeigt sich das Potential von Unherrschaft zur prozessualen Annullierung von Befehlsstrukturen. Unherrschaft ist kein Ziel an und für sich […], sondern eine Praxis der Negation“ (S. 114 f.). Das wird ausgangs der Abhandlung ausdrücklich sogar in einer Art von Credo für anarchistische Ideale und für die anarchistische Theoriebildung aufgeschlüsselt, und der Ethnologe wird zum generalisierenden Gesellschaftsdiagnostiker. Negativer Anarchismus: Der Anspruch auf Solidarität, Gemeinwohl und Empathie lasse sich im gesamtgesellschaftlichen Maßstab nicht institutionenfrei verwirklichen, und Institutionen bringen Macht und Herrschaft mit sich. Der praktizierten oder erstrebten Anarchie obliegt insofern die jeweilige „situative Negation von Herrschaft“ (S. 115). Das scheint wenig und verlangt doch viel.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Gesellschaft Interaktion Kultur Lebensformen Macht Normen / Regeln / Konventionen Sozialstruktur

Olaf Briese

Dr. Olaf Briese, Priv.-Doz. am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Promotion in Berlin 1994, Habilitation ebd. 2002. Forschungsschwerpunkte: Kultur und Literatur des Vormärz; Frühanarchismus in Deutschland.Home: http://olaf-briese.com Kontakt: olafbriese@gmx.de

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