Friedrich Lenger | Rezension |

Nutzen und Grenzen einer Ideengeschichte der Politischen Ökonomie

Rezension zu „Capitalism. The Story Behind the Word“ von Michael Sonenscher

Michael Sonenscher:
Capitalism. The Story behind the Word
USA / Groß Britannien
Princeton, NJ / Oxford 2022: Princeton University Press
248 S., $27.95 / £22.00
ISBN 9780691237206

Michael Sonenschers neues Buch ist ein eleganter begriffs- und ideengeschichtlicher Essay, der in zwei Schritten dem Ursprung und der Bedeutung des Kapitalismusbegriffs nachspürt. Zunächst bietet der Autor eine an die bekannte Begriffsprägung Louis Blancs anknüpfende, begriffsgeschichtliche Rekonstruktion an, die jedoch darüber hinaus- oder genauer: dahinter zurückgeht, nämlich zu jenen Gelehrten, die mit ihrem Denken schon vor Blanc Einfluss darauf genommen haben, was (auch heute noch) unter dem Terminus Kapitalismus verstanden wird. Dieser historische Rückgriff ist Sonenscher wichtig, weil er im Kapitalismusbegriff des 19. Jahrhunderts zwei Elemente zusammenfallen sieht, die nicht nur auf verschiedene Wurzeln, sondern auch auf distinkte Problemlagen verweisen. Als Kapitalist sei im Frankreich des 18. Jahrhunderts angesehen worden, wer als Zeichner von Staatsanleihen die öffentlichen Schulden und damit auch den Krieg mitfinanzierte. Dagegen seien die Probleme einer dem Kapitalismus vorhergehenden kommerziellen Gesellschaft vor allem aus der Perspektive der Arbeitsteilung gedacht worden, die ihrerseits marktgebunden, aber nicht notwendigerweise kapitalgetrieben gewesen sei. Erst die sozialistische Kritik, allen voran die an Marx anknüpfende, habe beide Stränge im Kapitalismusbegriff aufgehen lassen und so den Doppelcharakter der Problemlage verwischt. In der Folge hätten Lösungsvorschläge wie bei Louis Blanc lediglich auf einen der beiden Pole gezielt, nämlich auf die Sozialisierung beziehungsweise die Nationalisierung des Kapitals.

Sonenscher begnügt sich indessen nicht mit der Rekonstruktion eines erhellenden ideengeschichtlichen Kontextes, er nimmt darüber hinaus für sich in Anspruch, ein bis heute dringliches Problem ausgemacht zu haben: Wenn er Marx an den Anfang des zweiten, stärker systematisch angelegten Teil (S. 75–174) seines Buches stellt, dann deshalb, weil er dessen Vision von der Überführung einer arbeitsteiligen Gesellschaft in eine Bedürfnisse und Fähigkeiten versöhnende Gesellschaft auf dem Wege kollektiver Praxis nicht für überzeugend hält. Die Kollektivierung einstmals privaten Eigentums, so Sonenschers systematischer Punkt, löse noch längst nicht die Probleme einer durch Arbeitsteilung geprägten kommerziellen Gesellschaft, die vor Marx das Denken dominiert habe. Da ist es nur folgerichtig, dass Sonenscher den Weg zurück antritt und fragt, was Smith, Hegel und Ricardo zu einer Gesellschaftstheorie beizutragen hätten, die allein den aus der Arbeitsteilung resultierenden Problemlagen angemessen sei. Während sich das Ricardo-Kapitel in systematischer Hinsicht als weniger ergiebig erweist, liefern Smith, für den der Eigennutz der handeltreibenden Individuen durchaus vereinbar war mit deren sozialer Integration aus dem Bewusstsein wechselseitiger Beobachtung heraus, und Hegel mit seiner Interpretation der Verwaltung als Markt und Staat verbindender Brücke, wertvolle Versatzstücke. Letztere bringt Sonenscher in seinem Kapitel zu Lorenz von Stein (S. 155–167) unter, auf den dieser zweite Teil des Buches zuläuft. Bei ihm ist das ältere Verständnis von Kapital als öffentlicher Verschuldung insofern positiv gewendet, als ihre Verwendung nicht länger Krieg, sondern Wohlfahrt finanziert. Diese sozialdemokratische Lösung hält Sonenscher, so wird man den Aufbau des zweiten Teils des Buches wohl interpretieren dürfen, für der Marx‘schen überlegen:

„Stein‘s solution was predicated on the recognition of monetary sovereignty as one of the main attributes of a state, and on the further recognition of financial and fiscal policy as two of the cornerstones of democratic politics. This is what they still seem to be.“ (S. 167)

Gleichwohl ist damit nicht einfach alles gut. Wenn der Verfasser abschließend den von ihm gewürdigten Autoren konzediert, es sei nicht schwierig gewesen, eine Lücke zwischen der Reichweite der Handlungsmacht nationaler Regierungen und der globalen Dimension der Arbeitsteilung auszumachen, dann übergeht er nonchalant den doch sehr grundlegenden Wandel, den die weltweite Arbeitsteilung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfahren hat. Nun ist es völlig legitim, auf aktuelle Diskussionen wie etwa jene um Dani Rodriks Globalization Paradox (New York 2011) nicht einzugehen. Aber auch für die von Sonenscher behandelten 75 Jahre nach Smiths Wealth of Nations bleiben Fragen offen. So hätte man von einer Abhandlung, welche die Arbeitsteilung derart ins Zentrum rückt, erwarten können, dass sie auch der schon bei Smith präsenten und für den jungen Marx so zentralen Thematik der Entfremdung ein paar Zeilen widmet. Und ebenso hätte man sich die Einbeziehung der von Axel Honneth vor einigen Jahren rekonstruierten sozialistischen Denktradition wünschen können, aus der heraus Arbeitsteilung als Fundament wechselseitiger Anerkennung denkbar wird.[1] Aber das sind Beckmessereien, die nichts daran ändern, dass uns Michael Sonenscher einen schmalen Band beschert hat, der gleichermaßen anregend wie gelehrsam ist.

  1. Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Würdigung, Berlin 2015.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Geschichte Kapitalismus / Postkapitalismus Politische Ökonomie Wirtschaft

Friedrich Lenger

Friedrich Lenger lehrt Neuere Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen und leitet dort die aus Mitteln des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises der DFG finanzierte AG „Geschichte und Theorie des globalen Kapitalismus“. Im September 2023 erscheint bei C.H. Beck „Der Preis der Welt. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus“.

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