Dominic Akyel | Rezension |

Sterben will gelernt sein

Ein Plädoyer für eine neue Sterbekultur

Daniele Dell'Agli:
Aufruhr im Zwischenreich. Vorboten einer anderen Sterbekultur
Deutschland
Paderborn 2016: Wilhelm Fink
135 S., EUR 16,90
ISBN 9783770559954

Obwohl die Debatte um die gesetzliche Regelung der Sterbehilfe in Deutschland bis in die 1980er-Jahre zurückreicht, findet eine tiefere politische und kulturelle Auseinandersetzung mit dieser Thematik erst seit der stärkeren medialen und öffentlichen Hinwendung zu demografischen und medizin-ethischen Themen in den 2000ern statt. Bestimmt ist diese Debatte durch den Versuch, einen Ausgleich herzustellen zwischen staatlicher Fürsorge und individueller Selbstbestimmung sowie zwischen religiösen und säkularen Wertvorstellungen. Die Politik hat dabei allerdings bisher nur wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse und Wertvorstellungen der BürgerInnen genommen. Obwohl sich die deutsche Bevölkerung in repräsentativen Umfragen mehrheitlich für eine Entkriminalisierung der Sterbehilfe ausspricht[1], weitete der Bundestag mit dem „Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ vom Dezember 2015 die existierenden Straftatbestände im Bereich der Sterbehilfe erheblich aus.

Vor diesem Hintergrund sollte auch das sozialphilosophische Buch von Dell’Agli gelesen werden. Anders als der Titel „Aufruhr im Zwischenreich – Vorboten einer anderen Sterbekultur“ vermuten lässt, handelt es sich nicht um eine sachliche Aufarbeitung eines mentalitätsgeschichtlichen Wandels innerhalb der Gesellschaft, sondern um eine in emotionalem Ton verfasste Streitschrift gegen die Kriminalisierung der Sterbehilfe. Dementsprechend stehen im Zentrum des Werkes zwei Fragen: welche Kräfte einer vollständigen Legalisierung der Sterbehilfe entgegenwirken und wie eine alternative Sterbekultur aussehen könnte, die auf ein selbstbestimmtes Ableben in Würde ausgerichtet ist.

Der Aufbau des Buches und die Strukturierung des Inhalts folgen nicht den wissenschaftsüblichen Standards, sondern haben eher essayistischen Charakter. Aus diesem Grund fällt auch die Einordnung des Werkes in den Kanon sozialwissenschaftlicher und philosophischer Literatur zur Thematik des Sterbens schwer. Die Komplexität des Inhalts, das Voraussetzen beträchtlicher Wissensbestände auf Seiten der LeserInnen und der wissenschaftliche Sprachstil deuten darauf hin, dass sich der Text an ein akademisches Publikum richtet. Für eine Rezeption als wissenschaftlicher Beitrag ist er allerdings zu polarisierend und polemisch geschrieben. Am besten lässt sich das Buch von Dell’Agli daher wohl als populärwissenschaftliches Werk für interessierte AkademikerInnen oder politische AktivistInnen einordnen.

Das Buch ist in acht Kapitel unterteilt, wobei sich die ersten sechs Kapitel mit der Kritik an der Kriminalisierung der Sterbehilfe beschäftigen, während die letzten beiden Kapitel dem Entwurf einer alternativen, vermeintlich würdevolleren Sterbekultur gewidmet sind.

Im ersten Kapitel rekonstruiert Dell’Agli die Debatte um die gesetzliche Regelung der Sterbehilfe und übt Kritik am Dogma der bedingungslosen Lebensverlängerung. Dell’Agli zufolge sind sowohl die rechtlichen Unterscheidungen zwischen verschiedenen Formen der Sterbehilfe als auch die vorgebrachten Argumente gegen deren Legalisierung, wie beispielsweise der Gefahr einer ungebührlichen Bereicherung an den Sterbenden, empirisch nicht haltbar. Für die Kriminalisierung der Sterbehilfe macht er vor allem den Einfluss religiöser Lobbygruppen sowie die daraus resultierende weltanschaulich voreingenommene Politik verantwortlich.

Im zweiten Kapitel führt Dell’Agli seine Kritik weiter aus, indem er sich mit der Frage beschäftigt, ob existenzielle Ereignisse wie das Sterben überhaupt durch demokratische Institutionen reglementiert werden sollten. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass sich keine politische oder rechtliche Rechtfertigung für die Fremdbestimmung des individuellen Sterbens finden lässt. In Konsequenz spricht sich Dell’Agli also für eine umfassende Legalisierung der Sterbehilfe aus.

Das dritte Kapitel setzt sich mit Möglichkeiten einer institutionellen Sterbepädagogik für MedizinerInnen und andere involvierte Berufsgruppen auseinander. Zu diesem Zweck diskutiert Dell’Agli zunächst das Sterben und die Bedeutung des Sterbeprozesses im Christentum. Anschließend berichtet er über Fortschritte im Bereich der medizinischen Ausbildung und Versorgung. In diesem Rahmen diskutiert Dell’Agli Maßnahmen zum Ausbau der Palliativmedizin und zur Implementierung einer an MedizinerInnen gerichtete Sterbepädagogik, die Sterbehilfe als letzte Lebenshilfe versteht.

Im vierten Kapitel beschäftigt sich Dell’Agli mit Perspektiven auf Gesundheit und Lebensqualität. Insbesondere kritisiert er die Vorstellung von Gesundheit als einem Zustand des vollständigen Wohlbefindens und die damit verbundene Gleichsetzung von Alter mit Krankheit als lebensfern und unnatürlich. Gleichzeitig plädiert er für eine stärkere Gewichtung der Lebensqualität am Lebensende, anstatt ausschließlich die Verlängerung des Lebens als Ziel zu setzen.

Das fünfte Kapitel schlägt einen Bogen zum Suizid als einem wesentlichen Element der Sterbehilfe. Dell’Agli sieht in der Entkriminalisierung des Suizids eine Konsequenz, die als Antwort auf den lebensverlängernden medizinischen Fortschritt zu ziehen wäre. Darüber hinaus gehört die eigenständige Wahl der Todesart und des Todeszeitpunktes für Dell’Agli zentral zur individuellen Selbstbestimmung. Dementsprechend setzt er sich für eine kontrollierte Bereitstellung von Sterbemitteln ein, um jeder Person einen schmerzfreien, selbstgewählten Tod zu ermöglichen. An das fünfte Kapitel schließt sich ein kurzer Exkurs an, in dem der Autor gegen die Verwendung des Wortes „Selbstmord“ und zugunsten der Bezeichnung „Suizid“ argumentiert. Ihm zufolge handelt es sich dabei keineswegs um einen Mord an der eigenen Person, sondern um einen Akt der Selbstbestimmung. Dieser spiegele sich eher im Ausdruck „Suizid“ wider.

Im sechsten Kapitel vertieft Dell’Agli seine Kritik an der Pathologisierung des Suizids, indem er die Argumente gegen eine Legalisierung der Sterbehilfe seziert. Insbesondere setzt er sich mit dem „Dammbruch“-Argument auseinander, demzufolge eine Entkriminalisierung von problematischen Gütern wie der Sterbehilfe notwendigerweise zu negativen sozialen Konsequenzen und unerwünschtem Verhalten führen würde. Er stellt fest, dass keine empirischen Belege für diese Behauptung vorliegen, spricht sich allerdings für eine Einbettung des Suizids in eine Kultur des verantwortungsvollen Umgangs mit dem Sterben aus.

Daran anschließend führt Dell’Agli im siebenten Kapitel seine Ideen zur Etablierung einer neuen Sterbekultur aus. Er analysiert, wie Szenen des Abschieds in verschiedenen Filmen gestaltet werden und mit welchen Problemen sich Filmproduktionen zum Thema Sterben konfrontiert sehen. Er kommt zu dem Schluss, dass das Medium Film eine besonders starke emotionale Wirkung habe und deshalb gut geeignet dafür sei, eine neue Sterbekultur voranzutreiben. Die große Aufgabe der filmischen Sterbepädagogik sieht er in der „Entängstigung“ des Sterbens (85), wovon er sich neue Formen der Vergemeinschaftung zwischen selbstbestimmten, (angst-)freien Individuen erhofft.

Das achte und letzte Kapitel wechselt vom Film zur Musik. Dell’Agli identifiziert den musikalischen Ausdruck aufgrund seiner Momenthaftigkeit als ideal, um das Loslassen von allem Irdischen einzuüben. Zwar räumt er ein, dass die Schönheit der Musik den Abschied auch erschweren kann, doch überwiegt aus seiner Sicht der sterbepädagogische Nutzen. Dies gilt insbesondere für die Ambient Music, da die Werke dieses Genres nach Dell’Agli die Entsubjektivierung durch den Tod dank des Eintauchens der Zuhörenden in eine atmosphärische Parallelwelt vorwegnähmen. Die Ambient Music, die der Autor dementsprechend als das musikalische Pendant zum einlullenden Wiegenlied charakterisiert, ermögliche damit ein Wegdriften vom bewussten Erleben und entschärfe so den Gegensatz von Leben und Tod.

Dass das Sterbenkönnen auf einen Lernprozess und die Legalisierung der Sterbehilfe auf eine Transformation der bestehenden Sterbekultur angewiesen ist, ist die wohl verdienstvollste Grundthese des Buches. In diesem Zusammenhang bietet Dell’Agli eine Vielzahl interessanter Ansatzpunkte, die dabei helfen könnten, tiefer in die Sterbedebatte einzusteigen.

Bei Ansatzpunkten bleibt es allerdings auch, und so findet man neben animierenden Denkanstößen kaum konkrete Lösungsvorschläge für bestehende Hindernisse. Beispielsweise identifiziert Dell’Agli zwar religiöse Lobbygruppen und christliche Parteien als verantwortlich für die Kriminalisierung von Sterbehilfe und Suizid. Vorschläge, wie sich politische Veränderungen bei der Regulierung der Sterbehilfe durchsetzen ließen, fehlen allerdings. Auch sein Entwurf einer alternativen, selbstbestimmten Sterbekultur muss als fragmentarisch und diffus bezeichnet werden. So ist die besondere Bedeutung, welche Dell’Agli dem Film und der Ambient Music für die Entstehung einer neuen Sterbekultur beimisst, nur schwer nachvollziehbar. Hinzukommen stilistische Schwächen wie Redundanzen im Text und eine stellenweise unnötig komplizierte Sprache.

Festzuhalten bleibt, dass eine Legalisierung der Sterbehilfe und eine gesellschaftliche Debatte über alternative Formen des Sterbens abseits religiöser Dogmen zwar wünschenswert wären. Ob das vorliegende Buch die dafür relevanten Zielgruppen, wie Politiker, Lobbyisten, Mediziner und Kleriker erreichen und überzeugen kann, ist jedoch fraglich.

  1. IfD Allensbach, 2014, Deutliche Mehrheit der Bevölkerung für aktive Sterbehilfe, Allensbacher Kurzbericht, Allensbach, 6. Oktober 2014.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Janosch Schobin.

Kategorien: Politik Familie / Jugend / Alter

Dominic Akyel

Dr. Dominic Akyel ist Dezernent für Studium und Lehre an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln. Zu seinen Forschungsinteressen gehören insbesondere die Wirtschaftssoziologie, Thanatossoziologie und Religionssoziologie.

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