Gegenwärtig ist eine sozial- und geisteswissenschaftliche Disziplinen übergreifende „Wiederbelebung der Legitimitätsforschung“ zu beobachten:[1] Wie Dammayr und andere zutreffend argumentiert haben, richtet sich der Fokus wissenschaftlicher Arbeiten verstärkt auf „(kritische[s] und kritisierende[s]) Deuten und Handeln von Menschen“, weniger aber auf objektive und materielle Bedingungen von Herrschaft. Ob in den Internationalen oder in den industriellen Beziehungen, in der Erforschung sozialer Ungleichheit, in der Bildungsforschung oder in der Internationalen Geschichte – Fragen danach, wie soziopolitische Akteure ihr Handeln legitimieren, auf welche normativen Begründungen beziehungsweise „Rechtfertigungsnarrative“[2] sie dabei zurückgreifen und welche Legitimationsstrategien sich herausgebildet haben, sind in den jüngeren Forschungsansätzen verschiedener Disziplinen gleichermaßen zentral.
Dieses gestiegene Interesse an Legitimationsdiskursen mag einerseits mit den vielfältigen Krisendiagnosen der letzten Jahre zusammenhängen, die auch als „Bruchlinien der Legitimation“ von sozialen Ordnungen begriffen werden können. Entsprechend werden eingespielte Rechtfertigungsmuster infrage gestellt.[3] Wie alle Riten und Dogmen sind auch Rechtfertigungen auf wiederholte Anwendbarkeit im Diskurs angewiesen: Ohne sie sind „Ordnung und Gerechtigkeit – wie gefährdet auch immer – nicht zu haben“.[4] Andererseits hat der linguistic turn[5] in der Philosophie und in den von ihr beeinflussten Sozial- und Geisteswissenschaften ein bis heute anhaltendes Interesse an Analysen von diskursiven Praktiken begünstigt; „kommunikatives Handeln“ (Jürgen Habermas) und „Diskursanalyse“ (insbesondere im Anschluss an Michel Foucault) sind nach wie vor in aller Munde.
Dass auch die Ausübung von Gewalt rechtfertigungsbedürftig und demzufolge Gegenstand der Legitimationsforschung ist, mag zunächst paradox erscheinen: Ist Gewalt nicht Ausdruck von Willkür, ist ihr also nicht jegliche normative Begrenzung äußerlich? Oder kennt sie als Form von Zwang neben dem Recht des Stärkeren auch die Stärke des Rechts? Wie also lässt sich die Legitimation von Gewalt begreifen und wissenschaftlich untersuchen?[6]
Diesen und anderen Fragen ging der Workshop „Legitimationen von Gewalt“ nach, zu dem Peter Imbusch (Wuppertal) eingeladen hatte. Zunächst wurden drei Vorträge zu Legitimationen von Gewalt aus historischer (Heinz-Gerhard Haupt), politikwissenschaftlicher (Lothar Brock / Hendrik Simon) und sozialwissenschaftlicher Perspektive (Peter Imbusch) gehalten (freilich gab es auch in den einzelnen Beiträgen disziplinäre Überschneidungen) und kommentiert. Anschließend diskutierten alle Teilnehmer_innen gemeinsam methodologische Aspekte, Vergleichsperspektiven und verbleibende Problematiken für eine zu vertiefende Auseinandersetzung mit Gewaltlegitimationen.
HEINZ-GERHARD HAUPT (Bielefeld / Florenz) leitete seinen Vortrag mit der Feststellung ein, die Legitimation von Gewalt habe bislang nicht im Zentrum der historischen Forschung gestanden. Häufig herrsche vielmehr die Vorstellung vor, dass, wenn die Gewalt spreche, das Argument schweige.[7] Demgegenüber begreife aber etwa Peter Waldmann Gewalt als kommunikative Handlung, als Praxis der Rechtfertigung. Wann jedoch, so fragte Haupt, ist Gewalt eigentlich zu rechtfertigen? Zur Beantwortung dieser Frage skizzierte Haupt die geschichtliche Entwicklung des Staatsmonopols. Es habe die Gewalt an sich gezogen und dabei ein doppeltes Monopol herausgebildet, nämlich 1. Gewaltsamkeit legitimieren und 2. Formen der Gewaltsamkeit (symbolisch) definieren zu können.
Haupt stellte nun in Anlehnung an Zygmunt Bauman[8] drei „typische“ Strategien der Gewaltlegitimation vor, die er mit historischen Beispielen illustrierte: 1. Die Diskriminierung und Entmenschlichung des Gegners, beispielsweise die Herabwürdigung von Anarchisten im 19. Jahrhundert als „Wilde“. 2. Der Verweis auf den „erzieherischen“ Charakter von Gewalt, der auch präventive Gewalt legitimieren könne, etwa in der Rechtfertigung von Kolonialherrschaft und ihrer Gewalt als „zivilisatorische Mission“. 3. Die Rechtfertigung von Gewaltformen, die als problematisch gelten, durch den Verweis auf positive Ziele, etwa massive Gewaltanwendung „ohne Rücksicht auf verfassungsrechtliche Garantien der persönlichen Freiheit“ (Otto von Bismarck) im Dienste von Ordnung und Sicherheit. Damit stelle sich zugleich die Frage, welche Rolle Widerstandsrechte im liberalen Denken etwa John Lockes oder Immanuel Kants spielen.
Die Geschichte der Gewaltmonopolisierung, so Haupt abschließend, sei ambivalent zu bewerten. Einerseits sei sie eine Erfolgsgeschichte, worauf etwa der relative Rückgang von Tötungsdelikten im 19. Jahrhundert verweise. Andererseits aber belege sie den Bedeutungsverlust bürgerlicher Rechte, weil die nun zunehmend in der Obrigkeit zentralisierte Gewalt auch effektiver gegen die Bürger gewendet werden könne. Das werde etwa beim Einsatz des Militärs, dieser „kasernierten Ausnahmegewalt“, im Inneren des Staates deutlich. In Fällen wie diesem oder bei der Rechtfertigung kolonialer oder totalitärer Gewalt, so Haupt in Anlehnung an Trutz von Trotha, überzeuge Gewalt angesichts ihrer bloßen gewaltsamen Überlegenheit: „Legitimationen sind Antworten auf Fragen“, schrieb Trotha. „Überlegene Gewalt überzeugt, weil es gar keine Fragen mehr gibt.“[9]
Auch in der Diskussion ging es um die Ambivalenzen der vermeintlichen Fortschrittsgeschichte der Gewaltmonopolisierung. Peter Imbusch unterstrich noch einmal Haupts Unterscheidung zwischen vormoderner und moderner Gewalt. Vormoderne Gewalt, so Haupt, sei in erster Linie lokale (fürstliche / kirchliche) Gewalt gewesen. Eine öffentliche Zwangsgewalt habe sich allmählich in der Frühen Neuzeit ausgebildet, womit zugleich die „Legitimierung und Begrenzung obrigkeitlicher Gewaltanwendung“[10] problematisiert worden sei. Lothar Brock (Frankfurt am Main) griff die von Zygmunt Bauman beschriebene „Entmenschlichung des Feindes“ auf und verwies auf die Ähnlichkeit der Legitimationsstrategien, mit denen feindliche Konfliktparteien im Ringen um alte und neue normative Ordnungen, etwa im historischen Kontext der französischen Revolution, einander entmenschlichten. Besonders kontrovers wurde die Frage der Kriminalisierung etwa von „Terroristen“ oder „Anarchisten“, dissidenten Gewaltakteuren jenseits staatlicher Ordnung und Legitimität also, debattiert. Haupt unterstrich dabei erneut die delegitimierende Kraft der Kriminalisierung soziopolitischer Akteure. Dabei blieb Brocks Frage offen, ob und wann eigentlich in den verhältnismäßig dürftig verrechtlichten internationalen Beziehungen Herrschaft delegitimiert werden dürfe, wann also ein Herrscher zu kriminalisieren und etwa eine militärische Intervention zu rechtfertigen sei.
Der Vortrag von LOTHAR BROCK und HENDRIK SIMON (Frankfurt am Main) widmete sich der Interdependenz von Gewalt und Recht(-fertigung) auf internationaler Ebene. Brock verwies auf die Ambivalenzen von Gewaltrechtfertigung und -kritik: Eine historische Konstante im Umgang mit kollektiver Gewalt sei deren Kritik. Weitgehende Einigkeit bestehe zwar darin, dass Gewalt, die Menschen einander antun, in der Regel (wenn auch nicht ausnahmslos) verwerflich sei. Je heftiger aber Gewalt in ihrer allgemeinen Verwerflichkeit kritisiert werde, desto mehr gute Gründe ergäben sich, ihr Einhalt zu gebieten – notfalls wiederum mit Gewalt. Die Kritik der Gewalt sei also zugleich immer auch ein wirkungsvolles Mittel zur Rechtfertigung von Gegengewalt, wobei das definierende Moment der Gegengewalt in dem Anspruch liege, der Willkür Einhalt zu gebieten.[11] Das Abstraktum Gewalt sei eingebunden in eine unendliche Abfolge von konkreten Kämpfen, die im Namen ihrer Überwindung geführt würden.
Die „Gegenwart des Krieges“[12] sei heute jedem schmerzlich bewusst. Auch lasse sich überzeugend begründen, dass diese Kriege mit dem Projekt der Zivilisierung zusammenhingen, das sich die liberalen Demokratien im Überschwang ihrer vorübergehenden Hegemonie in den 1990er-Jahren auf die Fahnen geschrieben hätten.[13] Das heiße aber nicht, so Brock, dass alles beim Alten bleibe, die Geschichte also die Wiederkehr des ewig Gleichen sei. Die Herausbildung liberaler Demokratien, also von Staaten mit einem funktionierenden Gewaltmonopol, mit Partizipationsmöglichkeiten, Rechtsstaatlichkeit und einer relativ zivilen Konfliktkultur, sei ein empirischer Beleg für die Eindämmung der willkürlichen Anwendung von Gewalt.[14]
Anschließend nahm Hendrik Simon eine historische Analyse der Herausbildungen und Verschiebungen normativer Referenzrahmen bei der Anwendung von (überregionaler / internationaler) Gewalt anhand der Theorie des gerechten Krieges (bellum iustum) und ihrer Modifikationen in der Neuzeit vor, wobei er auch auf machtpolitische Ansätze und die Forschung zur Legitimität von Rechtfertigungsnarrativen „humanitärer militärischer Gegengewalt“ einging. Das zentrale Argument Simons lautete, dass ein Übergang vom illegitimen Zwang willkürlicher Gewalt zum legitimen Zwang des Rechts anzustreben sei, selbst wenn machtpolitische Interessen sowie die Gleichzeitigkeit verschiedener Rechtfertigungssphären (Recht, Moral, Politik) in den internationalen Beziehungen („Multinormativität“[15]) diesen Übergang massiv erschwerten. Trotz der Möglichkeit, das Recht als diskursives Argument selektiv anzuwenden oder es durch Verweis auf Argumente der Moral oder Politik im Legitimationsdiskurs zu umgehen, sei die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen weiterhin als möglich zu postulieren – auch wenn damit nicht auf jeden Zwang verzichtet werde:[16] Ein allgemein bindender Rechtszwang auf internationaler Ebene sei der Anarchie willkürlicher Zwangsgewalt also vorzuziehen.
Inwiefern das Völkerrecht historisch eine (wenn auch prekäre) Entwicklung zum Positiven genommen hat, war auch Gegenstand der anschließenden Diskussion. Angesichts der Frage, ob trotz des Fortschritts der internationalen Verrechtlichung nicht ein Rückfall in alte Muster der Rechtfertigung von Krieg möglich sei, verwiesen die Referenten auf die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Als ein solches Phänomen begriffen sie etwa den erneuten Bezug auf die Theorie des „gerechten Krieges“, auch jenseits völkerrechtlicher Normen, und die Debatten um „militärische humanitäre Interventionen“ im Spannungsverhältnis von Legalität und Legitimität. Brock argumentierte, diese Rückfälle lieferten zugleich auch Argumente für die Kritik von Gewalt, wie etwa die kontroverse Debatte um die NATO-Intervention im Kosovo 1999 verdeutlicht habe. Auf Peter Imbuschs skeptische Frage, ob militärische Interventionen überhaupt ein angemessenes Instrument internationaler Politik sein könnten, reagierte Brock mit dem Verweis auf die Notwendigkeit der jeweiligen Kontextualisierung. Dabei sei, so Brock, die Selektivität für und wider Interventionen ein großes Problem, womit er an sein Plädoyer für eine verstärkte Verrechtlichung internationaler Gewalt[17] erinnerte.
PETER IMBUSCH nahm in seinem Vortrag eine genuin soziologische Perspektive ein: Gewalt sei ein gesellschaftliches Problem[18], gleichzeitig jedoch seien, nach einem Zitat Wilson Carey McWilliams‘, „Legitimität und Gewalt immer miteinander verflochten.“[19] Im Zentrum der Gewaltlegitimation stehe die Frage nach der moralischen Richtigkeit von Gewalt, die aber immer offen bleibe. Imbusch stellte folgende vier Thesen zu Gewaltlegitimationen auf: 1. Eine zivilisatorische Errungenschaft liege weniger in der Herausbildung des modernen Staates als vielmehr in einer zunehmenden Notwendigkeit der Legitimation von Gewalt. Daraus folge 2., dass es gegenwärtig keine Gewalt gebe, die nicht legitimiert werden müsse. Selbst terroristische Gewalt, so Imbusch, sei rechtfertigungsbedürftig. 3. Man stoße auf unterschiedlichen Analyseebenen (Mikro-, Meso- und Makroebene) auf verschiedene Legitimationsstrategien. 4. Für ein besseres Verständnis von Gewalt und seiner Legitimation sei die Untersuchung der Graubereiche zwischen Legalität und Legitimität, in denen die Dichotomie zwischen legal/illegal beziehungsweise legitim/illegitim nicht eindeutig sei, besonders interessant.
Davon ausgehend nahm sich Imbusch des Konzepts der Legitimationsdiskurse an, wobei es ihm weniger um die Rechtfertigung von Macht als vielmehr um die Macht von Rechtfertigungen ging. Bei der Untersuchung von Diskursen der Gewaltlegitimation lohne es sich zu analysieren, unter welchen Bedingungen verschiedene Gewaltakteure („Bewegungen“) mit ihren Rechtfertigungsstrategien (keine) interne sowie externe Akzeptanz generieren könnten, wie diese Legitimität erzeugt werde und wie sie verloren gehe. Diskurse und Narrative seien für die Analyse von Gewaltlegitimation zentral, da sich die Erzeugung von Legitimität in kommunikativen Praktiken vollziehe. Legitimität bleibe dabei allerdings eine prekäre Ressource, so Imbusch, weil sich Kämpfe um Legitimität stets in von Machtbeziehungen durchzogenen Diskursarenen abspielten.
Bezogen auf die Analyseebenen unterschied Imbusch zwischen individueller, kollektiver und staatlicher Gewalt, um seine dritte und zentrale These zu untermauern, der zufolge einzelnen Gewaltakteuren je nach Fall in höchst unterschiedlicher Weise die Durchsetzung von Legitimitätsansprüchen gelinge. Während etwa Gewalt aus der Gesellschaft heraus in der Regel als ordnungsstörend verboten sei, sei durch Staaten (als Träger des legitimen Gewaltmonopols) verübte Gewalt zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung erlaubt. Jenseits dieses idealtypisch strukturierten Feldes gebe es freilich auch Gruppengewalt, die als legitim anerkannt werde. Zudem verwies Imbusch (nicht zuletzt im Anschluss an Bauman) auf Formen exzessiver Staatsgewalt, die jenseits des legitimen Monopols physischer Gewaltsamkeit zu verorten seien. Für die zukünftige Erforschung von Gewaltlegitimationen schien Imbusch ein Vergleich der Legitimationen auf verschiedenen Analyseebenen besonders interessant.
In der Diskussion seines Vortrags wurde die Wichtigkeit der Kontextabhängigkeit von Gewaltlegitimationen in Hinblick auf einen Vergleich verschiedener Analyseebenen unterstrichen. Imbusch betonte, dass Vergleichen nicht mit Gleichsetzen verwechselt werden dürfe. Vielmehr gehe es um Legitimationsmuster, die auch Parallelen zwischen differenten Gewaltakteuren darstellen könnten. Dabei sei die Analyse verschiedener Gewaltakteure in Hinblick auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihrer Legitimationsmuster attraktiv.
Damit waren die zentralen Aspekte der abschließenden Diskussion benannt. Bis zum Schluss blieb die Vergleichbarkeit von verschiedenen Gewaltlegitimationen zentral. Haupt gab individuelle Besonderheit zu bedenken und fragte aus der Perspektive des Historikers, für was ein Fall eigentlich stehe, welche Aussagekraft also ein Fall über den eigenen Sachverhalt hinaus habe. Er unterstrich damit die zentrale Wichtigkeit der Fallauswahl im Vergleich, um die Gefahr eines Überbewertens oder Ausblendens bestimmter Gewaltlegitimationen zu mindern. Schließlich plädierte Haupt dafür, Gewaltdiskurse zugleich als „Deutungskämpfe“ zu betrachten. Die Fallauswahl solle daher historisch begründet werden. Damit verwies er auch auf den Wert einer interdisziplinären Erforschung von Rechtfertigungsnarrativen zu Gewalt – und damit auf den Ausgangspunkt des Workshops in Wuppertal.
Konferenzübersicht:
Peter Imbusch (Wuppertal), Begrüßung und Einführung
Heinz-Gerhard Haupt (Bielefeld / Florenz), Legitimation von Gewalt aus historischer Perspektive
Lothar Brock / Hendrik Simon (Frankfurt am Main), Legitimation von Gewalt aus politikwissenschaftlicher Perspektive
Peter Imbusch (Wuppertal), Legitimation von Gewalt aus sozialwissenschaftlicher Perspektive
Peter Imbusch (Wuppertal), Zusammenfassung der Ergebnisse und Input zur Diskussion Vertiefende Diskussion offener Fragen; methodologische Aspekte; Vergleichsperspektiven; verbleibende Problematiken
Resümee