Stephanie Kappacher, Leoni Linek, Hannah Schmidt-Ott, Karsten Malowitz | Veranstaltungsbericht |

Jenaer Splitter V: Freitag

Bericht von der Abschlusskonferenz der DFG-Kollegforscher*innengruppe "Postwachstumsgesellschaften" und der 2. Regionalkonferenz der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena

Welches Links?

Die Zukunft hat längst begonnen

Auf die Couch, bitte!

After the Show

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Welches Links?

Glaubt man dem Volksmund, dann sind die USA Deutschland im Schnitt um zehn Jahre voraus. Vor dem Hintergrund dieser – zugegebenermaßen wenig kontingenzsensiblen – Annahme scheint es keine abwegige Idee, einen renommierten Soziologen wie Philipp Gorski (New Haven) nach der Zukunft der US-amerikanischen Linken zu fragen, um vielleicht einen Hinweis darauf zu erhalten, wohin die deutsche Linke sich in Anbetracht von Rechtsruck und -populismus in den nächsten Jahren bewegen wird. Und auch wenn der gut strukturierte wie eingängige Vortrag diese Hoffnung – so sie denn tatsächlich gehegt wurde – nicht erfüllte, bestand seine große Stärke darin, ein überzeugendes Panorama der US-Linken zu zeichnen und zudem, wenn auch unfreiwillig, einen kleinen Einblick in die akademische Linke in Deutschland zu geben.

Bevor Gorski sich jedoch linken Strömungen und ihren unterschiedlichen Auffassungen von Gesellschaft zuwandte, sprach er über die Besonderheiten der US-amerikanischen Politik, über die – wie er zu Recht polemisierte – ja eigentlich alle Bescheid wüssten, am besten jedoch die Nichtamerikaner. Das konservative Verfassungssystem der USA erfülle zwei wichtige Funktionen: Zum einen sei es, etwa durch die Festschreibung von Gewaltenteilung und Föderalismus, ein Bollwerk gegen den Faschismus, zum anderen seien die Gesetzgebungsverfahren so gestaltet, dass beispielsweise durch Filibustern die Abstimmung über Gesetzesentwürfe verhindert werden könne. Insofern sei die amerikanische Verfassung ebenfalls ein Bollwerk gegen die Demokratie, das dafür sorge, dass bedeutende Reformgesetze (wie etwa Obamacare) nur schwer durchzubringen seien.

Gegenwartsdiagnostisch attestierte Gorski den USA einen Verfall kultureller Autorität verbunden mit einer Abwertung kulturellen Kapitals, den er beispielsweise an der veränderten Medienlandschaft (von konservativen Talkshow Hosts bis hin zu den sozialen Netzwerken) oder dem Untergang des Kulturprotestantismus festmachte, der liberale Sozialwissenschaftler wie etwa John Dewey hervorgebracht hatte. Im Bewusstsein darüber, dass es „die Linke“ nicht gibt, kündigte Gorski an, im Folgenden alles darunter zu fassen, das sich „links der Mitte“ befände. In seinem Vortrag identifizierte er dann drei Strömungen, die er hinsichtlich ihres Verständnisses von Gesellschaft und ihren politischen Idealen unterschied. Während die Liberalen die Gesellschaft als Ansammlung von Individuen begriffen und folgerichtig Freiheit der Einzelnen, sprich individuelle Rechte, forderten, würden Sozialdemokraten Gesellschaft als hierarchisch durch eine Ober- und eine Arbeiterklasse konstituiert wahrnehmen und Gleichheit zwischen beiden durchsetzen wollen. Die dritte Strömung seien die Multikulturellen, die Gesellschaft als Zusammenhang voneinander getrennter Communities fassten und die Inklusivität dieser Gruppen forcierten. Die sich aus diesen unterschiedlichen Positionen ergebenden Spannungslinien waren dann folgerichtig die zwischen Meinungsfreiheit (liberal) und politischer Korrektheit (multikulturell) oder zwischen Freiheit (liberal) und Gleichheit (sozialdemokratisch), aber auch zwischen Affirmative Action (multikulturell) und dem meritokratischen Gleichheitsverständnis der Sozialdemokraten. Die Herausforderung, mit der sich eine vereinte Linke konfrontiert sehe, bestehe also darin, zwischen diesen unterschiedlichen Ansprüchen zu vermitteln. Doch auch ein Verständnis des Phänomens Rechtspopulismus sei eine notwendige Bedingung dafür, politisch gegen ihn vorgehen zu können. Gorski legte daher das „tiefe Narrativ“ hinter rechtspopulistischer Politik frei: Es gebe das gute Volk, das von einer korrupten Elite unterdrückt würde, während Zuwanderer in das Land kämen, um sich an ihm zu bereichern, und den politischen Heilsbringer, der den Eliten wie den Zuwanderern Einhalt gebieten wolle – aktuell natürlich repräsentiert durch Donald Trump.

Die Chance, die Gorski für die Linke ausmachte, verortete er in einer linken Koalition, die die weißen WählerInnen Trumps für sich einnehmen und so „zurückgewinnen“ könne. Außerdem machte er auf den tatsächlich bemerkenswerten Umstand aufmerksam, dass sich in den letzten Jahren immer mehr junge AmerikanerInnen als SozialistInnen definieren würden – eine für die USA, in denen der Antikommunismus der Blockkonfrontation immer noch sehr präsent ist, erstaunliche Entwicklung. Gorskis politischer Vorschlag bestand in einer linken Version des populistischen Narrativs als „Gegennarrativ“: In diesem stehe das arbeitende Volk einer ausbeuterischen Elite gegenüber und es sei eben nicht an einer politischen Führungsfigur, sondern an einer progressiven Bewegung, dieses Machtverhältnis aufzubrechen. Gorskis paradox anmutendes Fazit lautete: Er sei pessimistisch, aber hoffnungsvoll. Pessimistisch sei er, weil die Linke zu divers und zersplittert für einen politischen Konsens scheine und das kulturelle Kapital der Intellektuellen gegenüber dem ökonomischen beständig weiter abgewertet würde. Hoffnungsvoll sei er aber dennoch, da der Widerstand gegen Trump gerade an der Basis für neue Mobilisierung gesorgt habe und insbesondere junge Menschen in immer größerer Zahl Trump und seiner Politik den Rücken kehrten.

In der anschließenden Diskussion bezog sich das Gros der Wortbeiträge der Zuhörerschaft dann jedoch weder auf Gorskis Beschreibung der US-amerikanischen Gegenwartsgesellschaft, noch auf die Darstellung der US-Linken. Vielmehr führten die Fragen aus dem Publikum eindrücklich vor Augen, was auch Wolfgang Streecks Vortrag am Mittwoch bereits gezeigt hatte: dass man mit Forderungen nach linkem Populismus in der deutschen akademischen Linken auf nicht viel Gegenliebe stößt. Fragte der ebenfalls anwesende Hans-Peter Müller tatsächlich noch nach möglichen Parallelen zur deutschen Situation, ging Klaus Dörre direkt in die Offensive: Sei der Linkspopulismus in Europa nicht krachend gescheitert? Man müsse sich doch nur den Misserfolg der #Aufstehen-Initiative vor Augen führen, um sich zu fragen, ob es nicht ganz neuer Formen linker Politik bedürfe, um dem rezenten Rechtsruck etwas entgegen zu setzen. Eine Zuhörerin wurde noch direkter und verwies auf die diversen Gefahren, die linker Populismus mit sich brächte: sei es eine verkürzte Kapitalismuskritik, die nur einige Wenige für strukturelle Übel verantwortlich mache und so auch Verschwörungstheorien Tür und Tor öffne oder ein positiver Bezug auf den Nationalstaat, der aus einer Glorifizierung der arbeitenden Klasse resultiere. Gorski schien ob des Gegenwindes beinahe überrascht und argumentierte – so der Eindruck – nur halbherzig gegen die vorgebrachten Bedenken an, sodass Tilman Reitz, der moderierte, die voranschreitende Zeit zum Anlass nahm, die Veranstaltung zwar pünktlich, aber dennoch etwas abrupt für beendet zu erklären. (Hannah Schmidt-Ott)

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Die Zukunft hat längst begonnen

Der Morgen nach einer Party ist nicht nur im Rahmen von Kongressen ein denkbar ungünstiger wie undankbarer Zeitpunkt für die Diskussion wichtiger Anliegen. Müdigkeit, Konzentrationsschwäche, womöglich auch Kopfschmerzen wirken sich in der Regel nachteilig auf das Denk- und Sprachvermögen aus – oder verhindern gleich ganz die eigene Anwesenheit. Vor diesem Hintergrund bleibt es das Geheimnis der Organisator*innen, warum sie eine Diskussionsveranstaltung zu einem die gesamte Innung betreffenden Thema wie der Open Access-Politik der Europäischen Union auf den Morgen nach der Kongressparty legten – noch dazu, wenn die Veranstaltung dazu dienen sollte, ein Meinungsbild einzuholen, wie der die DGS vertretende Moderator Hans-Peter Müller (Berlin) wiederholt betonte. Wenig überraschend hielten sich in Hörsaal 5 Podium und Publikum beinahe die Waage: Zu Beginn der Veranstaltung stand es fünf zu acht für die Zuhörer*innen, was sich mit fortschreitender Stunde nur geringfügig änderte.

Ein von der spärlichen Anzahl der Anwesenden unbeeindruckter Müller stellte zunächst die Podiumsrunde vor. Anwesend waren Kathrin Ganz (Berlin) als Vertreterin des frei zugänglichen Open Gender Journal, Angela Holzer (Bonn) von der DFG, die beim Springer Verlag beschäftigte Cori Antonia Mackrodt (Wiesbaden) sowie Tilman Reitz (Jena), Professor für Wissenssoziologie – insgesamt also eine illustre Runde, deren Mitglieder unterschiedliche Perspektiven und Interessen repräsentierten. Die Geladenen wurden gebeten, in einem Eingangsstatement zunächst die für sie jeweils entscheidenden Aspekte darzustellen, bevor es eine auch für das Publikum geöffnete Diskussion geben sollte. Umso ärgerlicher, dass so wenige anwesend waren und nicht nur der feierwütige Nachwuchs, sondern auch die graduierten Vertreter*innen der Zunft durch Abwesenheit glänzten. Sie dachten womöglich, das Thema könne noch warten, ein Eindruck, dem auch der uninspirierte Veranstaltungstitel „Plan S ante portas“ Vorschub leistete. Doch weit gefehlt. Schließlich wurden, so brachte Kathrin Ganz die Unwissenden auf den aktuellen Stand, die konkreten Umsetzungsrichtlinien des vom EU-Sonderbeauftragten für Open Access, Robert-Jan Smits, entwickelten Plan S bereits Ende 2018 veröffentlicht. Kernbotschaft des Dokuments sei, dass ab 2021 alle (!) mit öffentlichen Mitteln finanzierten wissenschaftlichen Veröffentlichungen ausnahmslos als Open Access-Dokumente zur Verfügung stehen sollen. Damit versuche man, die seit Jahren wenig erfolgreichen Bemühungen (Berliner Erklärung von 2003, auf EU-Ebene fixierte Forderung von Open Access als Standardmodus im Jahr 2012) mit Hochdruck voranzubringen.

Derlei verpflichtende Richtlinien habe die DFG nicht, sagte Angela Holzer. Jedoch unterstütze die Forschungsgesellschaft den freien Zugang zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen und übernehme pro Veröffentlichung Kosten in Höhe von EUR 2.000. In puncto Kosten wies die DFG-Vertreterin auf die großen wirtschaftlichen Interessen hin, die mit der Einführung von Open Access verbunden seien. Denn was vielen nicht klar ist: Die Einführung und Umsetzung von Open Access kostet eine Menge Geld. Zunächst auf Seiten der Anbieter, die im Rahmen der Implementierung der Services für die nötige Infrastruktur sorgen müssen; später geben die Anbieter diese Kosten dann an die Abnehmer, also die Wissenschaftler*innen beziehungsweise deren Universitäten oder Forschungsinstitute, weiter. Mit anderen Worten: Die Kosten werden von den Konsument*innen der Texte auf deren Produzent*innen verlagert.

Tilman Reitz brachte die ebenso aberwitzige wie perfide Logik des Ganzen mit einem Zitat von Leonhard Dobusch auf den Punkt: „Überwiegend öffentlich finanzierte Forschung wird von öffentlich finanzierten Wissenschaftler*innen kostenlos begutachtet und dann von Verlagen, deren Leistung in der Regel aus Lektorat, Satz und Distribution besteht, für teures Geld an öffentlich finanzierte Bibliotheken zurückverkauft.“ Das klingt in Ihren Ohren absurd? Genauso läuft es aber. Denn aufgrund der spezifischen (und by the way mehr als fragwürdigen) Publikationslogik des Wissenschaftsbetriebs – Publiziere so viel wie nur irgend möglich, aber bitte ausschließlich in peer-reviewed Journals mit hohem impact factor! – sind einige wenige Zeitschriften besonders stark nachgefragte Publikationsorte. Diese Journals werden von den drei globalen big playern im Verlagsgeschäft publiziert: Elsevier – mit beinahe 40 Prozent Marktanteil in 2017 der bedeutendste –, Wiley und Springer Nature, die zusammen eine marktbeherrschende Stellung einnehmen. Das Oligopol der drei Verlage hat sich in den letzten Jahren nicht nur bereits in starken Preisanstiegen und damit horrenden Kosten für Bibliotheken niedergeschlagen, sondern droht zukünftig auch die inhaltliche Vielfalt und thematische Bandbreite im Verlagswesen einzuschränken. Cori Antonia Mackrodt vom Springer-Verlag führte hierzu aus: „Wenn ich heute ein Buch mit schrägem Thema machen will, liegt das Risiko bei mir. Meine Befürchtung ist – in Anbetracht der teilweise unfassbar hohen Gebühren für Open Access – kann ich das nicht mehr. Das beschneidet unsere Freiheit als Verlag.“

Alles in allem also eine ziemlich irre Konstellation. Und so konnte man Reitz nur zustimmen, als er feststellte, dass es kein Zeichen wissenschaftlicher Intelligenz sei, dass sich die Soziologie mit dieser Frage bislang kaum befasst habe. Trotz ihrer geringen Anzahl entspann sich zwischen den Anwesenden eine angeregte Diskussion, in der vor allem Ganz und Reitz mit Lösungsvorschlägen aufwarteten: Während Reitz anregte, beim Bezahlmodus Subventionsmöglichkeiten für kleinere und schlecht finanzierte Institutionen einzurichten, stellte Ganz die Frage, warum man zukünftig nicht journalunabhängig publizieren solle. Wenn die Wissenschaft schon die Inhalte bereitstelle und diese begutachte, könne sie die für Open Access aufzubringenden Gelder auch dafür nutzen, die auf diese Weise entstandenen Texte selbst zu publizieren, wie es University Press-Verlage bereits seit Jahren täten – und einige von ihnen durchaus erfolgreich (erwähntes best practice-Beispiel: Heidelberg University Publishing). Auf diese Weise, so Ganz weiter, ließen sich auch noch andere Probleme lösen. So eröffne der von ihr unterbreitete Lösungsansatz neue Beschäftigungsmöglichkeiten für Akademiker*innen, die es auf dem immer schmaler werdenden Weg nicht bis ganz hinauf zur Professur schaffen. Daran anknüpfend keimte im Plenum schnell der Vorschlag zu einer weiteren Transformation auf: der der wissenschaftlichen Publikationskultur. Man müsse weg von der Praxis, sich insbesondere in Berufungskommissionen derart stark am citation index und der Anzahl von Publikationen zu orientieren. Sicher könne der impact factor ein erster Indikator sein, aber am Ende müsse die Qualität und nicht die Quantität von Publikationen den Ausschlag geben, so Hans-Peter Müller. Auch die DFG, so Holzer, die bislang bei Anträgen eine Mindestanzahl an vorzuweisenden Veröffentlichungen fordert, wolle hierzu bald ein Positionspapier mit ähnlicher Stoßrichtung vorlegen, um den bestehenden Publikationsdruck zu minimieren. Davon würden beinahe alle Beteiligten profitieren: Die Wissenschaftler*innen wären einem geringeren Publikationsdruck ausgesetzt, Verlage fänden endlich wieder Autor*innen für Lehrbücher, die – wie Mackrodt ausführte – gegenwärtig niemand schreiben wolle, weil man damit keine Reputationsgewinne erziele, und Redaktionen müssten sich nicht mehr mit schwer verdaulichen Texten herumschlagen, die wie von einem schlecht programmierten Algorithmus erstellt wirken. Der Preis, den man für eine derart veränderte Begutachtungspraxis zu zahlen habe, so eine Stimme aus dem Publikum, sei allerdings, „dass man dann wieder lesen müsse“. Wie schön wäre das! Und in Zeiten der Klimakrise obendrein noch ressourcenschonend.

Angesichts der schwierigen Lage waren sich am Ende alle Beteiligten einig: Es bestehe großer Handlungsdruck und man müsse sich in der Innung dringend verständigen. Bleibt zu hoffen, dass man damit nicht bis zum Tag nach der Party auf dem nächsten DGS-Kongress in Berlin wartet. Auch wenn ein Großteil der Angehörigen des Faches es bislang nicht bemerkt zu haben scheint: Die Uhr tickt. Und wenn man die verbleibende Zeit nicht nutzt, könnte es für viele im Fach bald ein böses Erwachen geben – und allgemeine Katerstimmung herrschen. (Stephanie Kappacher)

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Auf die Couch, bitte!

Freitag, 11:30 Uhr. Die Jenaer Regionalkonferenz neigt sich dem Ende. Und so schicken sich die letzten Veranstaltungen am Vormittag an, ein Resümee zu ziehen. Welche Implikationen haben die in den vergangenen Tagen diskutierten Transformationsprozesse für das Fach? Welche Rolle kommt uns Soziolog*innen auf dem Weg in eine Postwachstumsgesellschaft zu? Mit Brigitte Aulenbacher (Linz), Birgit Blättel-Mink (Frankfurt am Main) sowie Annette Treibel (Karlsruhe) sind drei prominente und erfahrene Soziologinnen eingeladen, diese Fragen zu diskutieren. Als Grundlage für den Austausch dient ein zuvor aufgezeichneter und eigens für die Regionalkonferenz verfasster Redebeitrag von Michael Burawoy, der hierzulande insbesondere für sein leidenschaftliches Plädoyer für eine Public Sociology (und weniger für seinen Beitrag zu marxistischer Theorie) bekannt ist.

Um diese Zeit herrscht noch gähnende Leere im Hörsaal: Die Kongressparty am Vorabend scheint ihren Tribut gefordert zu haben, wie man den müden Gesichtern und der im weiteren Verlauf stetig wachsenden Besucherzahl entnehmen kann. Glücklicherweise verzögert sich der Veranstaltungsbeginn und allmählich füllt sich der Saal. Als wenige Minuten später das in Eigenproduktion gedrehte Youtube-Video startet, begrüßt uns ein gut gelaunter Michael Burawoy von hinter seinem Schreibtisch: „Hello from Trumpland." Gerne wäre er vor Ort gewesen, aber seine Lehrverpflichtungen an der UC Berkeley gestatteten ihm die lange Reise nicht, ganz zu schweigen vom CO2-Fußabdruck, den er sonst zu verantworten hätte. Immerhin erspare seine Abwesenheit den Kommentatorinnen übermäßige Höflichkeit, fügt Burawoy verschmitzt hinzu.

Statt wie angekündigt über die Herausforderungen und Versprechen einer Öffentlichen Soziologie im Allgemeinen zu sprechen, wolle er im Folgenden die Implikationen von Karl Polanyis The Great Transformation für eine Öffentliche Soziologie im Zeitalter Trumps ausbuchstabieren: „Going public with Polanyi in the era of Trump", lautet daher der Titel des Papiers, das er zur Diskussion stellt. Neoliberale Vermarktlichung seit den 1970er-Jahren identifiziert Burawoy als die dritte „Great Transformation“, die Polanyi nicht habe kommen sehen. Sie zeichne sich insbesondere durch die intensivierte Kommodifizierung fiktiver Waren – Arbeitskraft, Geld, Natur (Luft, Boden, Wasser) und seit neuestem auch Wissen – aus.[1] Die liberale Demokratie sei vom Kapitalismus gekapert worden und zwar mit drastischen Konsequenzen: soziale Ungleichheit, ein wachsendes ,Prekariat‘– und der arbeitenden Klasse fehle es an Hebelkraft, um eine Umverteilung zu ihrem Vorteil zu erwirken. Stattdessen werde, mit Wolfgang Streeck gesprochen, „oligarchisch“ umverteilt, also von unten nach oben, statt andersherum. Eine Polarisierung der Gesellschaft in rechts- und linkspopulistische Bewegungen sei die Konsequenz, wie am Beispiel der USA oder Großbritanniens zu beobachten sei. Angesichts dieser Lage plädiert Burawoy für eine organische, unmittelbare öffentliche Soziologie, bei der das Fach in eine „face-to-face“-Beziehung mit seinen Öffentlichkeiten trete. Diese Form der öffentlichen Soziologie stellt er der traditionellen gegenüber, die insbesondere die Sichtbarkeit soziologischen Wissens in den Medien (etwa durch Veröffentlichungen, Fernsehauftritte oder Blogbeiträge) fokussiere.

Konkret schlägt Burawoy zwei mögliche Formen einer organischen öffentlichen Soziologie vor. Für die empathische Variante nennt er stellvertretend Arlie Hochschilds ethnografische Studie von Tea Party-Anhänger*innen in Louisiana, vielen bekannt aus ihrem Buch „Strangers in Their Own Land“. Über einen Zeitraum von fünf Jahren reiste Hochschild immer wieder ins Herz der amerikanischen Rechten und traf Anhänger*innen der Tea Party, um sie besser zu verstehen. Grassierende Umweltzerstörung stelle dabei ein ‚keyhole issue‘ dar, einen Schlüssel zur Widersprüchlichkeit des Wahlverhaltens der (neuen) Rechten. Denn die von Hochschild Interviewten leben in einem der am stärksten von Umweltverschmutzung betroffenen US-Bundesstaaten; dennoch wählen sie konsequent gegen eine entsprechende Regulierung.

Als Beispiel für die von Burawoy als affirmativ bezeichnete Variante der öffentlichen Soziologie nennt er Erik Olin Wrights Auseinandersetzung mit alternativen Institutionen, etwa Genossenschaften oder das bedingungslose Grundeinkommen. Dabei gehe es nicht nur um einen Austausch mit Praktiker*innen, sondern auch um eine Vision davon, wie solche „Real Utopias“ mit der Transformation kapitalistischer Verhältnisse zusammenhängen. Sowohl die von Hochschild untersuchten Tea Party-Anhänger*innen als auch die von Wright besprochenen alternativen Projekte sind mit Burawoy als Reaktion auf die (Ent)Kommodifizierung fiktiver Waren in der dritten Welle der Vermarktlichung zu verstehen. Umso lohnender sei es daher für die Soziologie, heute über Polanyi und Theorien fiktiver Waren nachzudenken.

Im Anschluss an das Video macht Brigitte Aulenbacher den Aufschlag. Burawoys Diagnose einer dritten Welle der Vermarktlichung stimmt sie in weiten Teilen zu. Statt von einer öffentlichen spricht sie von einer kritischen Soziologie, deren Erkenntnisziele in emanzipatorischer Weise über die bestehenden Verhältnisse hinausweisen sollen. Dabei könne die Soziologie keinen privilegierten Erkenntnisstand für sich in Anspruch nehmen – und ‚deep stories‘ à la Hochschild als falsches Bewusstsein abtun – schließlich sei die Soziologie ebenso Teil der Gesellschaft, deren Verhältnisse und Dynamiken sie analysiere. Erkennbar sei das nicht zuletzt an den Schwerpunktsetzungen einer solchen Konferenz (mit Themen wie Migration, Klimawandel und Kapitalismuskritik) in Reaktion auf gesellschaftliche Verhältnisse und öffentliche Debatten. Die traditionelle öffentliche Soziologie sieht Aulenbacher ähnlich kritisch wie Burawoy und bezweifelt, dass Gesellschaftsanalyse „twitterisierbar“ sei. Nichtsdestotrotz müssten wir uns damit beschäftigen, wie wir der top-down-Ausbreitung neoliberaler Ideologien über Think Tanks etwas entgegensetzen könnten. Dabei bliebe der Soziologie nur die Möglichkeit, Wissen in dialogischer Auseinandersetzung mit Bewegungen von unten zu generieren. 

Auch Birgit Blättel-Mink stimmt der Diagnose einer Kommodifizierung fiktiver Waren in einer dritten großen Transformation weitestgehend zu. Ferner wirft sie eine wichtige Frage auf, die im weiteren Diskussionsverlauf allerdings unbeantwortet bleibt: Wer sind eigentlich diese Öffentlichkeiten, an die sich Burawoys öffentliche Soziologie richtet? Aus einem Handbucheintrag zitiert sie: „thick rather than thin, local rather than broad, active rather than passive, oppositional rather than mainstream" – doch eine Diskussion darüber, wer oder was damit konkret gemeint ist, bleibt aus. Anknüpfend an Aulenbachers Vorschlag einer kritischen Soziologie stellt Blättel-Mink außerdem Robin Celikates’ programmatischen Ansatz „Kritik als soziale Praxis“ zur Diskussion. In seinem gleichnamigen Buch betont er die Rolle rekonstruktiver statt exmanenter Kritik und macht die Psychoanalyse zum Vorbild: Ähnlich wie dort müsse im Verhältnis zwischen Soziologie und Öffentlichkeit eine Übernahme der Kritik durch die Analysierenden selbst stattfinden (was natürlich voraussetzt, dass wir Soziolog*innen den Subjekten diese Fähigkeit zugestehen). In einer so verstandenen kritischen Soziologie als soziale Praxis gebe es nur „Beteiligte“, keine zu Therapierenden und Therapeut*innen, was einen Dialog auf Augenhöhe gestatte.   

Annette Treibel bezweifelt, dass ein solcher Dialog auf Augenhöhe überhaupt erwünscht sei. Sie mache immer wieder die Erfahrung, dass stattdessen eine Art Rezeptwissen von der Soziologie erwartet werde. Kritik übt sie daran jedoch nicht. Vielmehr plädiert sie für ein Festhalten an der bestehenden Arbeitsteilung, bei der die Wissenschaft sich auf ihre eigentliche Aufgabe der Wissensproduktion konzentriere, und spricht sich gegen eine Rollenkonfusion aus: Es müsse stets klar getrennt werden, ob in der Rolle der Bürgerin, Wissenschaftlerin oder politisch aktiven Person gesprochen werde. Ferner gebe es doch verschiedene Öffentlichkeiten und die Wirkmächtigkeit einer bürgerlichen Öffentlichkeit müssten wir anerkennen. Auch wenn sie nicht immer mit ihnen übereinstimme, sei sie Kolleg*innen wie Nassehi, Koppetsch, Villa & Co. dankbar dafür, dass sie soziologische Wissensbestände in die bürgerlichen Medien trügen und eine dringend notwendige „Außenpolitik“ der Soziologie betrieben.   

Aus dem Publikum äußern sich kritische wie anregende Stimmen zu den vorgetragenen Vorschlägen. Alex Demirovi´c mahnt, Celikates’ Modell könne leicht autoritär werden, wenn sich Analysierende dabei dem Deutungsmodell von Expert*innen überließen. Zudem sei eine Verschiebung wissenschaftlicher Relevanzen möglich: So wie die 68er soziologisches Wissen selbstverständlich gemacht hätten, verweise die Fridays for Future-Bewegung heute auf die zentrale Relevanz naturwissenschaftlicher Wissensbestände. Darauf müsse die Soziologie reagieren und nach kollaborativen Verbindungen suchen. Andernfalls könnten wir es künftig mit einem massiven „sozialwissenschaftlichen Analphabetismus“ zu tun bekommen. Ein anderer Diskussionsteilnehmer äußerte sich skeptisch ob des Vergleichs zur Psychoanalyse: Seiner Ansicht nach fehle es der Patientin sowohl an Leidensdruck als auch der Einsicht, dass die Soziologie helfen könne. Und dass die Gesellschaft zu uns „auf die Couch“ käme, könne er sich nur schwer vorstellen.

Am Ende verließ man die Veranstaltung mit einer Reihe von Fragen im Kopf: Wie passend ist Burawoys Unterscheidung zwischen empathischer und affektiver Soziologie, worauf zielen diese Begriffe? Mit wem soll die Soziologie Empathie zeigen, auf wen oder was sich affirmativ beziehen? Es scheint, als sei der Begriff der öffentlichen Soziologie hier wenig hilfreich, weil er die Schwierigkeit umschifft, ein (gesellschafts-)politisches Ziel zu formulieren und Adressat*innen zu benennen, an Stelle derer die schwammige Chiffre der ,Öffentlichkeit‘ eingesetzt wird. Nicht zuletzt bleibt die große Frage, was eine kritische Soziologie wirklich von Polanyi lernen kann. Die These einer dritten großen Transformation ist plausibel, doch was lehrt sie uns? Sie ist zudem mit sehr breitem Pinsel gemalt, denn seit den 1970er-Jahren ist viel Zeit vergangen. Warum der Neoliberalismus als Regulationsweise seit der Krise 2008 weiterlebt – mit den bekannten verheerenden Folgen für große Teile des Lebens auf diesem Planeten – kann uns Polanyi nicht erklären. Und genau hierin könnte eine zentrale Aufgabe der Soziologie bestehen: Widersprüche aufzeigen, Brüche identifizieren und damit zu sozialen Bewegungen beitragen, die für Alternativen jenseits des neoliberalen Kapitalismus einstehen. Denn so bequem das armchair theorizing auch ist: Darauf, dass die Gesellschaft zur Soziologie „auf die Couch“ kommt, können wir nicht warten. (Leoni Linek)

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(Blick aus dem Zentralen Hörsaalzentrum: Nach der Abschlussveranstaltung leert sich der Campus rasch wieder. Foto: Stephanie Kappacher)

After the Show

Die Stimmung vor dem Beginn der Abschlussveranstaltung erinnerte an ein Popkonzert, genauer: an das Reunion Concert einer ehemaligen Supergroup, deren im Bühnennebel ergraute Mitglieder sich – nach gemeinsam gefeierten Erfolgen und zwischenzeitlichen Konflikten – noch einmal zu einem letzten Gig versammeln, um sich von ihren Fans zu verabschieden. Und die Fans – sprich: die Studierenden und Kongressteilnehmer*innen – dankten es ihnen. In großer Zahl strömten sie in den Hörsaal 1, in dem Sitzplätze schon bald nur noch auf den Treppenstufen zu finden waren. Sie hatten sich eingefunden, um mit Klaus Dörre (Jena), Stephan Lessenich (München) und Hartmut Rosa (Jena) noch einmal die drei Initiatoren und Leiter der im Oktober 2011 gegründeten Kollegforscher*innengruppe „Postwachstumsgesellschaften“ in Augenschein zu nehmen, die das Thema seither über die engen Stadtgrenzen Jenas hinausgetragen und in der soziologischen Forschungslandschaft verankert haben. Und das Publikum sollte etwas geboten kriegen.

Der Anfang der Veranstaltung verlief zunächst so vorhersehbar und routiniert, wie man es von derartigen Events gewohnt ist und auch erwartet. Nach einer ebenso freundlichen wie kurzen Begrüßung übergaben die Moderator*innen, Janina Puder und Hans Rackwitz (beide Jena), das Mikrofon an Birgit Blättel-Mink (Frankfurt am Main), die an diesem Nachmittag gewissermaßen den Part der Vorgruppe übernahm. Wenig überraschend wertete die amtierende DGS-Vorsitzende sowohl den Kongress, der aufgrund einer unter der Ägide ihrer Vorgängerin Nicole Burzan (Göttingen) getroffenen Entscheidung zugleich als 2. DGS-Regionalkonferenz firmierte, als auch die Arbeit der Kollegforscher*innengruppe als Erfolg. Dem Kolleg sei es gelungen, breite öffentliche Aufmerksamkeit für noch vor wenigen Jahren eher randständige Themen zu generieren, an denen weiterzuarbeiten – selbstverständlich transdisziplinär und interaktiv (oder andersrum?) – die Soziologie aufgerufen sei. Mit Blick auf die zurückliegende Woche hob Blättel-Mink insbesondere die Einbeziehung von Aktivist*innen aus verschiedenen Feldern der gesellschaftlichen Praxis positiv hervor, die den Kongress bereichert hätten. Überhaupt sei sie von der Lebhaftigkeit und Ernsthaftigkeit der Diskussionskultur beeindruckt gewesen: „Es wurde geflucht und gestritten, es wurde sich verständigt und bisweilen auch umarmt.“ Mehr, so Blättel-Mink in einem mit den Richtlinien der DFG für die Vergabe von Fördergeldern vermutlich nur bedingt kompatiblen Statement, könne man von einer solchen Veranstaltung nicht verlangen. Das Publikum spendete höflichen Applaus.

Im Namen des gastgebenden Instituts für Soziologie der Universität Jena dankte sodann Sylka Scholz den Kongressverantwortlichen. Sie hoffe, dass es dem Kolleg gelungen sei, „das Thema Postwachstum nachhaltig in der Gesellschaft verankert zu haben“. Sprach‘s und übergab sogleich an Hartmut Rosa, der es sich in seiner Eigenschaft als Co-Direktor des Kollegs angelegen sein ließ, dem ebenso umsichtigen wie unermüdlichen Organisationsteam um Karina Becker, Kathy Kursawe und Christine Schickert zu danken. Mitten hinein in den ebenso herzlichen wie langanhaltenden Applaus folgte dann, nach einer freundlichen Erinnerung, auch der nicht minder verdiente Dank an die vielen studentischen Hilfskräfte, die während der vergangenen Tage ein ums andere Mal Türen und Dateien geöffnet, schadhafte Mikrofone und Beamer ersetzt oder freundlich Auskunft gegeben und menschliche Wärme gespendet hatten, wann immer sich (mal wieder) jemand in den kalten und trostlosen Gängen des Zentralen Hörsaalgebäudes der Universität verlaufen hatte. Im Sinne der Nachhaltigkeit, so Rosa, habe man bewusst auf die sonst obligatorische Gabe von Blumen und Pralinen verzichtet, sondern sich dazu entschlossen, alle an der Durchführung des Kongresses Beteiligten zu einer epischen After Show Party einzuladen. Über deren voraussichtlichen Energiebedarf machte er jedoch keine Angaben.

Während die Geehrten – glücklich und erleichtert über das hinter ihnen liegende und in Vorfreude auf das soeben angekündigte kommende Event – die Bühne verließen, leitete Co-Moderator Hans Rackwitz, seines Zeichens ebenfalls ein bekennender Fan der Jenaer Dreiercombo, den Teil der Abschlussveranstaltung ein, auf den alle gewartet hatten: das Abschlussgespräch mit den noch einmal vereinten Frontmännern des Postwachstumskollegs. Gefragt nach ihrem persönlichen Highlight und ihrer Bilanz des Kongresses erklärte zunächst Rosa etwas fantasielos den ganzen Kongress zum Highlight, wobei er wie zuvor schon Blättel-Mink die konstruktive Atmosphäre und den „guten Spirit“ hervorhob, die er auf den zahlreichen Veranstaltungen gespürt habe. Nun ja. Auch Lessenich, der nach ihm das Wort ergriff, hielt sich bedeckt. Etwas unmotiviert erklärte er „alle, die jetzt noch da sind“, kurzerhand für „eh‘ schmerzbefreit“ und bekundete ambivalente Gefühle: Er sei froh über das Erreichte, aber auch darüber, dass es nun geschafft sei. Mit Blick auf die Zusammenarbeit im Kolleg verwies er auf das Zitat von Blättel-Mink: „,Es wurde geflucht und gestritten, es wurde sich verständigt und bisweilen auch umarmt.‘ Das trifft es ziemlich gut.“ Statt zurück wolle er lieber nach vorne schauen. Neben den drängenden Zukunftsfragen sei er vor allem an anderen Formen wissenschaftlicher Praxis interessiert. So weit, so nichtssagend. Mehr wollte er sich offenbar nicht entlocken lassen. Das Publikum, das sich augenscheinlich gehaltvollere Auskünfte erhofft hatte, quittierte seine Einlassungen wie die seines Vorredners mit mäßigem Applaus.

Ganz andere Töne schlug anschließend Klaus Dörre an, der auf die Frage nach seiner Bilanz des Kongresses eine politische Antwort gab. Wenn ihm in den vergangenen Tagen etwas klar geworden sei, dann die Tatsache, dass negative Freiheiten im Sinne Polanyis, also Freiheiten, die zu Lasten anderer gehen, gesetzlich eingeschränkt werden müssen. Wir brauchten, so Dörre unter Verweis auf die Einführung des Bundesnichtraucherschutzgesetzes im Jahr 2007, klare und verbindliche Regeln: „Befreiung benötigt auch Verbote, sonst werden Vielflieger wie ich immer weiter fliegen.“ Abgesehen davon brauche es veränderte Indikatoren zur Messung nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklung und eine Abkehr von der anhaltenden Fixierung auf das Bruttosozialprodukt als dem entscheidenden ökonomischen Kennwert. Damit nicht genug, ging Dörre, der jetzt allmählich Betriebstemperatur erreicht hatte, noch auf das Thema ein, das während des gesamten Kongresses spürbar war und insbesondere den Ortsansässigen auf den Nägeln brannte: Die politische Zukunft Thüringens und die Rolle der AfD, die bei den bevorstehenden Wahlen laut der gegenwärtigen Prognosen gute Chancen hat, zur stärksten Partei im Landtag zu werden. Selbst wenn es nochmal gut gehe, so Dörre, blieben maximal „noch fünf Jahre Zeit, um die öffentlichen Räume zu verteidigen, in denen wissenschaftliche Wahrheit produziert wird.“ Käme es zu einer Regierungsbeteiligung der AfD, sei mit negativen Auswirkungen (nicht nur) auf die akademische Freiheit zu rechnen. Sollte es dazu kommen, dass sich der Kandidat der CDU mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen lässt, werde er zwar nicht seine Professur niederlegen, aber seinen Wohnort außerhalb Thüringens nehmen.

Nach diesen mit Applaus bedachten Einlassungen waren nicht nur die Anwesenden im Saal, sondern auch die beiden anderen Protagonisten auf dem Podium aufgewacht. Auf die von den Moderator*innen gestellte Frage nach den ihrer Meinung nach wahrscheinlichsten Szenarien für die Zukunft unserer modernen Gesellschaften ließ als erstes Lessenich seinem Pessimismus freien Lauf. Das realistischste Szenario sei das des worst case. Schon vor dreißig Jahren sei es fünf vor zwölf gewesen; mittlerweile sei es „viertel nach zwölf, halb eins oder eins, was weiß ich.“ Der Zeitpunkt, den Klimawandel noch kontrollieren zu können, sei verpasst. Es werde „harte gesellschaftliche Kämpfe“ geben um die Frage, „wer sich welche Freiheiten noch auf wessen Kosten herausnehmen kann“. Uns drohten Verteilungs- und Lebenschancenkonflikte in einem bisher nicht gekannten Ausmaß. Wir stünden immer noch unter dem Einfluss des Vitalismus, der das Lebenselixier unserer kapitalistischen Gesellschaften sei. Das Kennzeichen des Vitalismus sei der unerschütterliche Glaube daran, dass es immer so weitergehen wird, wie bisher, dass sich das Unverfügbare irgendwie verfügbar machen lässt. Davon gelte es sich zu verabschieden: „Wir müssen“, so Lessenich, „ans Eingemachte unserer Vorstellungen von dem, was möglich und akzeptabel ist.“ Auch dafür rührten sich etliche Hände im Publikum.

Das wollte Rosa so nicht stehen lassen. Die Soziologie sei keine soziale Bewegung. Auch mit dem von Dörre ins Spiel gebrachten Wahrheitsbegriff tue er sich schwer. Er sehe sich nicht als Wahrheitsproduzent. Man müsse offen für verschiedene Positionen und Perspektiven sein und dürfe nicht alles ausschließen, was einem nicht passt. Gegenargumente müsse man ernst nehmen und „auch mit denjenigen reden, von denen man denkt, dass man gar nicht mehr mit ihnen reden muss.“ Rosa warb für die Macht des Dialogs. Den Vorschlägen seiner Vorredner konnte er nichts abgewinnen: „Wenn man euch zuhört, kann man sich auch gleich die Kugel geben. Ihr sagt, wir brauchen Verbote und knallharte Kämpfe. Ich glaube, da mache ich nicht mit.“ Die Haltung, in der wir die Welt verändern, sei wichtig. Eine aggressive Weltbeziehung sei der Sache, um die es gehe, nicht förderlich.

Die Tatsache, dass auch Rosas Stellungnahme vom Auditorium wiederum mit Beifall bedacht wurde, kommentierte Lessenich mit der süffisanten Bemerkung, zu den Widersprüchen der Spätmoderne gehöre offenbar auch der Befund, dass Klaus Dörre und Hartmut Rosa für diametral entgegengesetzte Positionen exakt den gleichen Applaus von exakt den gleichen Leuten bekämen. Konsequenterweise wurde auch diese Äußerung sogleich beklatscht, vermutlich wieder von den gleichen Leuten. Anschließend bekräftigte Lessenich seine zuvor geäußerte Ansicht und nutzte die Gelegenheit, um dem Kollegen noch einen rhetorischen Nasenstüber mitzugeben. Ja, wir müssten mit knallharten Auseinandersetzungen rechnen, die könne man nicht resonanztheoretisch wegdeuten. Abgesehen davon gehe es um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, nicht um autoritäre Setzungen. Auch Dörre legte noch einmal nach: Wenn das Ausleben negativer Freiheiten im Sinne Polanyis lebensbedrohliche Folgen zeitige, handele es sich bei der Einschränkung dieser negativen Freiheiten weniger um Verbote als um Befreiungen von einer Last. Auch zu der von Rosa geforderten Bereitschaft zum Dialog hatte Dörre noch etwas zu sagen. Wenn AfD-Politiker unter Verwendung einer von Peter Sloterdijk geprägten Formulierung forderten, dass die Behörden bei Abschiebungen auch „vor wohltemperierter Grausamkeit nicht zurückschrecken“ sollen, dann frage er sich schon, wie man mit solchen Leuten anders umgehen solle als im Modus des Kampfes.

Gerade noch rechtzeitig, bevor sich die inzwischen deutlich aufgeheizte Stimmung auf dem Podium zu einer handfesten Klimakrise entwickelte, sorgte – genau! – Julia Kaiser von der Bewegung Students for Future, der die Veranstalterinnen auch diesmal wieder einen kleinen Timeslot eingeräumt hatten, mit ihrer sympathischen Art dafür, dass sich die erhitzten Gemüter etwas beruhigten. Doch kaum hatte sie ihre bereits bei der Eröffnungsveranstaltung artikulierte Forderung nach einer bundesweiten Klima-Aktionswoche an den deutschen Hochschulen vorgebracht, ging der Schlagabtausch auf dem Podium in die nächste Runde. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand diesmal die von den Moderator*innen gestellte Frage nach der (zukünftigen) Rolle der Soziologie. Als erstes wagte sich Lessenich aus der Deckung: Als vordringlichste Aufgabe des Faches erachte er die Produktion von Reflexionswissen, das in Aushandlungsprozesse einfließen könne. Viele Beitragende aus der deutschen Soziologie, so Lessenich, reflektierten die privilegierte Position, von der aus sie sprächen, schlichtweg nicht. Teile der Zunft hätten nur ein theoretisches Interesse am Sozialen und pflegten einen selbstreferentiellen Formalismus. Das gelte namentlich für systemtheoretische wie für Rational-Choice-Ansätze. Aus dieser Negativbeschreibung, so Lessenich, könne man implizit seine Positivbeschreibung herauslesen. Damit hatte er fertig.

Rosa, der einige Minuten zuvor noch Schwierigkeiten mit dem Wahrheitsbegriff artikuliert hatte, legte nun Wert auf die Feststellung, dass Soziologie doch mehr als nur Feuilleton sei. Mittels quantitativer und qualitativer Methoden empirischer Sozialforschung ließen sich – Hallo, Herr Esser! – durchaus faktische Sachverhalte feststellen. Die Soziologie müsse darüber hinaus aber auch Deutungsangebote machen, die sich dann im gesellschaftlichen Diskurs zu bewähren haben. Dabei sei es ihre Aufgabe als Wissenschaft, die bestmögliche Deutung („best account“) der sozialen Wirklichkeit zu produzieren und sich nicht von vornherein mit bestimmten Parteien oder gesellschaftlichen Gruppen zu identifizieren. Dörre winkte ab. Ihm sei die Frage zu schwer. Stattdessen holte auch er noch einmal die kleine Giftspritze hervor und ließ wissen, dass er sich durch das Ende der Kollegforscher*innengruppe durchaus entlastet fühle, weil er nun nicht mehr zu allen möglichen Leuten nett sein müsse. Die zurückliegende Arbeit im Kolleg verglich er mit dem Verlauf eines Stücks der Bottom Band, mit dem bezeichnenden Titel „Die Lärmalternative“: Man habe mit einem gemeinsamen Thema angefangen, dann sei es dissonant geworden, und am Ende habe man sich irgendwie wieder zusammengerauft. Mehr wollte er nicht sagen, hatte aber immerhin für jeden der ehemaligen Mitstreiter eine CD der Band zur Erinnerung dabei.

Nachdem sich der Pulverdampf auf dem Podium gelegt hatte, durfte das ob dieser höchst ungewöhnlichen und bisweilen auch unangenehmen Vorstellung irritierte Publikum, von dem etliche Anwesende bis dato offenbar nicht geahnt hatten, wie es um die inneren Befindlichkeiten der drei Gründungsmitglieder des Kollegs stand, seine Fragen stellen. Zunächst musste sich Dörre Kritik anhören für seine Ankündigung, Thüringen zu verlassen, falls der zukünftige Ministerpräsident des Landes mit Hilfe der AfD in sein Amt gewählt werde. Das sei wenig solidarisch gegenüber denjenigen, die ihren Wohnort nicht einfach woanders hin verlagern können. Es folgte die nassforsch vorgetragene Beschwerde eines jungen Mannes, der nach Rücksprache mit Google meinte, den Referenten eine falsche Verwendung des negativen Freiheitsbegriffs vorwerfen zu müssen und sie bat „ihre Begriffe auf die Kette zu bekommen“. Und zu guter Letzt wurde die Frage laut, ob man den angestrebten sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft nicht mit positiv besetzten Begriffen beschreiben sollte, statt immer nur von weniger Wachstum und Verzicht zu reden.

Die Antworten fielen denkbar knapp und klar aus. Lessenich gab zu Protokoll, Begriffsmarketing gehöre nicht zu den Aufgaben der Soziologie. Und ganz egal, wie schön man das Ganze auskleide, „am Ende geht es für Gesellschaften unseres Typs darum, Verzicht zu üben“. Punkt. Und was die Zusammenarbeit mit Rosa und Dörre im Kolleg anbelangt, falle ihm auch noch ein musikalischer Vergleich ein: „Killing me softly“. Er jedenfalls sei froh, dass jetzt die Frauen die Macht in Jena übernommen hätten. Rosa, der Lessenichs Ausfall überging, konnte dem Anliegen des letzten Fragenstellers mehr abgewinnen. Ja, es brauche positive Signale. Unsere Gesellschaft, für die er ad hoc den Begriff der „Postwachstumszwanggesellschaft“ parat hatte, sei quasi wahnsinnig und es sei die Aufgabe der Soziologie, Vorschläge für ein weniger wahnsinniges Leben zu machen. Er habe mit seiner Theorie der Resonanzgesellschaft einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet, zu dem er aber jetzt und hier nicht weiter Stellung nehmen wolle, da er das Gefühl habe, einige der Anwesenden litten bereits an „Resonanzvergiftung“. Diese mit sympathischer Selbstironie vorgebrachte Bemerkung entlockte selbst Dörre und Lessenich für einen kurzen Moment ein Lächeln. Rosa hatte aber noch ein ernstes Anliegen: Eine der negativen Freiheiten im Sinne Polanyis, die eingeschränkt gehörten, sei die Freiheit der Entscheidung über das „was“, „wo“ und „zu“ der Produktion. Diese Freiheit wirke sich in zunehmendem Maße zerstörerisch aus. Das durfte man wohl als Aufruf zur Planwirtschaft verstehen.

Zum Schluss war die Reihe dann noch einmal an Dörre, der klarstellte, dass es ihm nicht darum gehe, sich als Privatperson aus dem Staub zu machen, falls es in Thüringen ungemütlich werden sollte – „wer mich kennt, weiß, dass ich Konflikten nicht aus dem Weg gehe“ –, sondern dass es ihm ein Anliegen sei, Gleichgesinnte für eine symbolische Widerstandsfront zu mobilisieren, um mit einer im Idealfall von vielen Professor*innen unterstützten Ankündigung ein Signal im Wahlkampf zu senden. Der vorlaute Suchmaschinenbenutzer wurde knapp beschieden, das nächste Mal in die relevanten Texte und nicht ins Internet zu schauen. Dann würde er auch eine Antwort erhalten. Punkt. Und was das Labeln anbelangt, sei er, ebenso wie in Sachen Musik, altmodisch. Für seine Vision einer sozial und ökologisch verträglichen Postwachstumsgesellschaft bevorzuge er immer noch den Begriff des „Sozialismus“. Im Lichte der historischen Erfahrungen sei aber klar, dass dieser Sozialismus nur ein pluralistischer und demokratischer sein könne.

Mit dieser Bemerkung hatte er, ohne es zu wollen, das Schlusswort zu einer denkwürdigen Abschlussveranstaltung gesprochen, die zwischenzeitlich ähnlich dissonant und leidenschaftlich, aber deutlich weniger virtuos verlaufen war wie das avantgardistische Klarinettenspiel, das den Kongress am Montagabend eröffnet hatte. (Karsten Malowitz)

  1. Genau genommen finden laut Burawoy gleichzeitig (Re-)Kommodifizierungs- und Entkommodifizierungsprozesse statt: Erstere etwa im Falle von Wissen (Privatisierung), letztere in Bezug auf Natur (Abfall, Umweltzerstörung). Prozesse der Entkommodifizierung habe Polanyi ebenso übersehen, wie die dritte Transformation – aber diese Details spart Burawoy heute aus.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher, Karsten Malowitz.

Kategorien: SPLITTER

Stephanie Kappacher

Stephanie Kappacher ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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Leoni Linek

Leoni Linek hat Philosophie, VWL und Soziologie in York, New York, Oxford und Berlin studiert. Sie ist Doktorandin am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitet an einer Dissertation über Freundschaft, Geschlecht und Sexualität.

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Hannah Schmidt-Ott

Hannah Schmidt-Ott ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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Karsten Malowitz

Karsten Malowitz, Politik- und Sozialwissenschaftler, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 und des Internetportals Soziopolis.

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