Daniel Lehnert, Nicole Lühring | Veranstaltungsbericht |

Soziologie der Parteien – revisited

Tagung der Sektion Politische Soziologie in der DGS, Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, 17.–18. Juli 2015

Die Fachtagung „Soziologie der Parteien – revisited“ war dem Ziel verpflichtet, mit dem ‚Alten’ zu brechen, um dem ‚Neuen‘ Gehör und Raum zu verschaffen. So lud die Tagung nicht nur dazu ein, Parteien durch die soziologische Brille in den Blick zu nehmen, sondern sich dem Gegenstand aus unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu nähern. Jene Mannigfaltigkeit ließ sich auch im methodischen Vorgehen der Vortragenden wiederfinden. Die theoretisch sowie methodisch pluralistisch orientierte Parteienforschung, derer es laut JASMIN SIRI (München) bedarf, um sich der Thematik adäquat nähern zu können, fasste PAULA-IRENE VILLA (München) bei der Begrüßung treffend unter dem Stichwort der „Multikulturalität“ zusammen. Die verbreitete Annahme, Parteien stünden in einer modernen Politik nicht mehr im Zentrum, wurde durch die 22 Vortragenden und circa 40 Gäste als normativer Trugschluss entlarvt. Denn auch Parteien bilden kein starres Gerüst, sondern sind dynamische Organisationen, die man auf unterschiedlichste Weise analysieren kann.

CHRISTIAN GANSER und PATRICK RIORDAN (beide München) beschäftigten sich in Panel I im Rahmen einer quantitativen Fallstudie mit der Frage, inwiefern der Einfluss individueller Parteipräferenzen Wahlprognosen der Befragten verzerrt beziehungsweise verbessert. Vor der Bundestagswahl 2013 ließen sie 1.000 Wahlberechtigte angeben, welchen Zweitstimmenanteil diese für die damals im Bundestag vertretenen Parteien sowie für AfD und Piratenpartei erwarteten. Am Beispiel der Partei „Die Linke“ konnte verdeutlicht werden, dass die Befragten für die von ihnen präferierte Partei nicht in jedem Fall ungenauere Prognosen abgaben. Mithin unterschätzten Anhängerinnen der Linken im Vergleich zu den übrigen Befragten das tatsächliche Potenzial der Partei. So verbesserten die ungenauen individuellen Einschätzungen dieser Gruppe zusammengenommen das Ergebnis der Prognose, weil die übrigen Befragten die Linke zum Teil überschätzten.

Im zweiten Vortrag problematisierte NAYLA FAWZI (München) die Auswirkungen politischer und sozialer Kontextfaktoren auf die politisch-medialen Beziehungen in Kommunen. Hierzu stellte sie die Ergebnisse einer quantitativen Untersuchung vor, die sie zusammen mit ihren Koreferenten PHILIP BAUGUT und CARSTEN REINEMANN (beide München) durchgeführt hatte. Die Befragung der politischen und medialen Elite in 52 kreisfreien Städten ergab, dass die Zusammenarbeit zwischen Politik und Journalismus umso enger ausfällt, je stärker der politische Wettbewerb wahrgenommen wird. Beide Bereiche nähmen einander zwar als geschlossene Systeme wahr, würden sich aber responsiv zueinander verhalten.

Im zweiten Panel stand die Perspektive der Organisationssoziologie ebenso wie das Thema Wahlentscheidungen im Mittelpunkt. LEOPOLD RINGEL (Düsseldorf) befasste sich in seinem Vortrag mit den Auswirkungen von Transparenzvorgaben auf die Abläufe in der Landtagsfraktion der Piratenpartei Nordrhein-Westfalen, die er in einer qualitativen Fallstudie untersucht hat. Seine Ausgangsthese lautete, es bedürfe eines Maßes an Intransparenz, damit Parteien als legitime gesellschaftliche Akteure in Erscheinung treten können. Daraus ergab sich eine Spannung zwischen dem institutionalisierten Ideal der Transparenz und seiner Umsetzbarkeit. Als Ergebnis der Untersuchung hielt er zudem fest, dass der Informationsfluss aus der Partei in die Öffentlichkeit mehr und mehr eingeschränkt worden sei.

EVA-MARIA EUCHNER und CAROLINE PREIDEL (beide München) gingen in ihrem Vortrag der Frage nach, welchen Einfluss Parteien auf die Abgeordneten bei Gewissensentscheidungen haben und inwiefern andere soziale Kategorien, beispielsweise das Geschlecht oder die Religionszugehörigkeit, das parlamentarische Verhalten bestimmen. Dabei betrachteten sie moralpolitische Themen wie Abtreibungs-, Sterbehilfe- und Embryonenschutzpolitik. Anhand der von ihnen erhobenen Daten hatten sie eine Regressionsanalyse durchgeführt, die ergab, dass sowohl Partei- und Religionszugehörigkeit als auch das Geschlecht einen signifikanten Einfluss auf das Initiativverhalten der Abgeordneten haben.

Panel III befasste sich mit dem Verhältnis von Parteistrategie und Parteiorganisation. Im ersten Beitrag untersuchte MARCEL LEWANDOWSKY (Hamburg) den Zusammenhang von Parteistrategie und politischem Selbstverständnis einer Partei jenseits gängiger Postulate von Rationalisierung und Professionalisierung, die die Parteienforschung politischen Parteien oftmals unterstellt. Die Befunde seiner qualitativen Studie zeigen, dass Parteien neben ihrer jeweiligen formalen Struktur zudem durch „quasi-formale“ Elemente wie normative Grundhaltungen und bestimmte Affektlagen geprägt werden. Beispielsweise wissen Parteien zwar um die Möglichkeiten der Umfrageforschung, nutzen diese jedoch zum Teil aufgrund bestimmter normativer Einstellungen (etwa zum Datenschutz) nicht. Abschließend konnte festgehalten werden, dass die umfassende Selbstbeschreibung einer Partei darüber mitbestimmt, welche externen Ressourcen (z.B. Umfrageforschung) in die Strategie eingehen.

SEBASTIAN BUKOW (Düsseldorf) schloss daran die Frage an, wie Parteien einheitlich formulierte Wahlkampagnen der Parteispitze mit der dezentralen Struktur ihrer Parteibasis vereinbaren. Seine Auswertung von Daten aus der German Longitudinal Election Study (GLES) offenbarte eine Steuerungswirkung von oben, wobei zentral gesteuerte Kampagnen eher nach responsivem als nach klassisch hierarchischem Muster umgesetzt werden. Somit werde eine Parteistrategie auf Wahlkreisebene vor allem dort ausgeführt, wo die zur Wahl stehenden Personen einen guten Listenplatz innehätten, während stark im Wahlkreis verwurzelte oder auf einem schlechten Listenplatz positionierte Kandidatinnen dazu neigen würden, individuelle Strategien zu verfolgen.

In einer Diskussionsveranstaltung setzten sich STEPHAN LESSENICH (München) und UDO ZOLLEIS (Tübingen; Mitglied der CSU-Landtagsfraktion) damit auseinander, wie das Regieren mit der Linkspartei zu denken sei. Nicht nur die Frage, ob die Linke eine (regionale) Volkpartei sei und darüber hinaus eine Partei des Ressentiments, sondern auch die Organisationsstrukturen der Linken sowie der CSU standen zur Debatte. Des Weiteren kommentierten die Diskutierenden die aktuellen gesellschaftspolitischen und -strukturellen Umbrüche des rechten politischen Randes und führten die Pegida-Bewegung als diesbezügliches Beispiel an.

In Panel IV ging es um die theoretische Betrachtung der Parteiensoziologie. PAULA DIEHL (Berlin) stellte in ihrem Vortrag allerdings zunächst eine Fallstudie zur 5-Sterne-Bewegung in Italien und der Kommunikation Beppe Grillos vor. In ihrer qualitativen Analyse wurde deutlich, dass der Verein eine komplexe Organisationsform mit konfliktreichen Widersprüchen und Ambivalenzen darstellt. So könne Beppe Grillo als Repräsentant, Organisator und Kontrollinstanz in einem identifiziert werden, vertrete aber zugleich die Forderung nach direkter Demokratie. Eine konstante Kategorisierung der politischen Vereinigung erscheine aufgrund ihres dynamischen Charakters unmöglich.

ANDREAS PETTENKOFER (Erfurt) ging es um die Frage, wie die interessanten Einsichten von George Herbert Meads Parteiensoziologie – vor allem seine Beobachtung, dass Parteien die Handlungsorientierungen mancher Mitglieder in einer Weise verändern, die egalitären politischen Programmen wenig Chancen lässt – in einer Weise reformuliert werden können, die den Blick für Variationsmöglichkeiten öffnet, ohne sofort zur These vom "ehernen Gesetz der Oligarchie" zu führen. Er schlug vor, anstelle von Robert Michels' Ideen zum rationalen Egoismus Meads Theorie des sozialen Selbst zu nutzen.

CARMEN SCHMIDT (Osnabrück) überprüfte hingegen die Aktualität der von Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan erarbeiteten Cleavage-Theorie aus dem Jahr 1967, die den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Konfliktlinien und Wahlergebnissen beschreibt. Schmidt zufolge handelt es sich um ein dynamisches Entwicklungsmodell, das die Abfolge von Krisen sowie deren Ausdifferenzierung zu komplexen Konstellationen innerhalb kritischer Phasen nachzeichne. Die Referentin bot ein darauf basierendes modifiziertes Konzept an, dem zufolge Konfliktstrukturen im Übergang zu einer zweiten Moderne (im Sinne Ulrich Becks) gestaltet werden können. Dies sei vor dem Hintergrund der Globalisierungsprozesse möglich, weshalb Schmidt für eine diese einbeziehende Erweiterung der Cleavage-Theorie plädierte, um die Konfliktdimensionen besser sichtbar zu machen.

HELMUT FEHR (Budapest) berichtete in Panel V von der Kampagnenführung populistischer Parteien in Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn. In diesen Ländern würden populistische Semantiken des „nationalen Interesses“ und der „patriotischen Gemeinschaft“ an eine fiktive plebejische Öffentlichkeit (die „einfachen Leute“) gerichtet. Die Ergebnisse seiner qualitativen Forschung offenbaren in allen untersuchten Ländern Mobilisierungsformen, die auf unscharfen Gegenwartsanalysen beruhen. Diese postulieren gemäß dem „Wir gegen sie“-Muster, die vermeintlich einfachen Bürger müssten gegen schrille Minderheiten, Ausländer und Liberale verteidigt werden.

BARTEK PYTLAS (München) bemühte sich darum, das Klischee zu relativieren, dem zufolge rechte Parteien nur temporäre Protestphänomene seien. Vielmehr erwiesen sich Wahlerfolge rechter Parteien mitnichten als unprogrammatische Denkzettel, sondern seien auf durchaus ideologischen Protest zurückzuführen, der an rechte Deutungsmuster anschließe. Aufgrund dieser Prämisse hat Pytlas eine quantitative Untersuchung zu Einstellungen der Anhängerinnen der AfD anlässlich der jüngsten Landtagswahlen in Ostdeutschland durchgeführt, die auf Daten der GLES basiert. Während die Wählerinnen in Brandenburg und Sachsen verstärkt anhand langfristiger politischer Einstellungen entschieden hätten, weise Thüringen eine stärkere Protestdimension auf. Von Protestwahlen zugunsten der AfD könne also nur eingeschränkt die Rede sein.

Zuletzt arbeiteten JAN MÜLLER und CHRISTIAN NESTLER (Rostock) in ihrem Vortrag den Gründungsmythos der AfD auf. Sie beschäftigten sich mit der Frage, inwieweit die AfD organisatorisch tatsächlich andere Wege geht als bereits etablierte Parteien. Entspricht ihr basisdemokratischer Anspruch der Wirklichkeit? Die Ergebnisse ihrer Untersuchung zeigen eine Partei, die bereits über ein breites organisatorisches Fundament verfügt und stark männerdominiert ist, wobei ein Großteil der Mitglieder zuvor der CDU angehörte. Abschließend beschrieben die Referenten eine zentralistisch verfasste top-down-Struktur der AfD, die kaum dem basisdemokratischen Selbstbild der Partei entspreche.

In seiner Keynote referierte ELMAR WIESENDAHL (Hamburg) darüber, welches Potenzial die Parteiensoziologie gegenwärtig aufweise. Von der Soziologie versprach er sich eine Revitalisierung der Parteienforschung sowie eine Konkretisierung ihrer Begriffe. Zudem könne sie den in der Politik Aktiven helfen, deterministische Ansätze, die die Parteienwirklichkeit vereinfachten, kritisch zu reflektieren. Es gelte, den Wirkungskreislauf von Gesellschaft und Politik in den Blick zu nehmen, weshalb er eine strikte Arbeitsteilung zwischen einer Politikwissenschaft, die für Parteien als Teileliten des Staates zuständig ist, und einer Soziologie, die das Verhältnis von Gesellschaft und Parteien behandelt, ablehnte. In diesem Sinne plädierte Wiesendahl für die bereits zu Beginn der Tagung angesprochene Multikulturalität in der Parteienforschung. Abschließend erinnerte Wiesendahl an die Herrschaftsfunktion der Parteien. Forschung müsse diesbezüglich die nationale Parteienherrschaft kontextualisieren und globale Verhältnisse berücksichtigen.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass in zwei Tagen ein methodisch wie themenspezifisch vielfältiges Programm behandelt werden konnte. Anhand von quantitativem wie qualitativem Material und theoretischer Interpretation wurden interessante Forschungsansätze präsentiert und diskutiert. Somit spiegelte die Tagung den Pluralismus der Parteienforschung wider. Unterschiedliche Forschungsperspektiven bestätigten erfolgreich die Relevanz politischer Parteien als zentrale gesellschaftliche Akteure.

Konferenzübersicht:

Panel I

Christian Ganser / Patrick Riordan (München), Wunschdenken kann Wahlprognosen verbessern

Nayla Fawzi / Philip Baugut / Carsten Reinemann (München), Wie wirkt Wettbewerb? Der Einfluss des Parteienwettbewerbs und anderer Kontextfaktoren auf die Beziehungen zwischen Kommunalpolitikern und Lokaljournalisten

Chair: Miriam Melchner (München)

Panel II

Leopold Ringel (Düsseldorf), Paradigm Lost – Transparenz in der Politik. Eine Fallstudie zur Landtagsfraktion der Piratenpartei NRW

Eva-Maria Euchner / Caroline Preidel (München), Parteiinterne Konflikte: Identitäten als Determinanten des legislativen Verhaltens bei moralischen Politiken

Chair: Nicole Lühring (München)

Panel III

Marcel Lewandowsky (Hamburg), Politische Strategie als Erzählung: Überlegungen aus der politikwissenschaftlichen Wahlkampfforschung

Sebastian Bukow (Düsseldorf), Parteien zwischen Steuerung und Stratarchie: Wahlkampfmanagement in organisationssoziologischer Perspektive

Chair: Elmar Wiesendahl (Hamburg)

Diskussion

Stephan Lessenich (München) / Udo Zolleis (Tübingen / Leiter des Planungsstabes und der Öffentlichkeitsarbeit der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag), Die Linke und das Regieren

Moderation: Jasmin Siri (München)

Panel IV: Theoretische Zugänge der Parteiensoziologie

Paula Diehl (Berlin), Zwischen Führung und Partizipation. Die Kommunikation Beppe Grillos und die 5-Sterne-Bewegung in Italien

Andreas Pettenkofer (Erfurt), Parteiorganisationen, Identitätswandel und das Verschwinden politischer Alternativen. Eine pragmatistische Reformulierung von Michels’ Parteientheorie

Carmen Schmidt (Osnabrück), Cleavages revisited? Vom Dealignment der Postmoderne zum Realignment der Zweiten Moderne?

Chair: Jasmin Siri (München)

Panel V: Populismus und die Chancen der Durchsetzung neuer Parteiprojekte

Helmut Fehr (Budapest), ,Wir’ gegen ,Sie’. Zur Kampagnenführung populistischer Parteien in Ostmitteleuropa

Bartek Pytlas (München), Nur ein Denkzettel? Die AfD in Brandenburg, Sachsen und Thüringen

Jan Müller / Christian Nestler (Rostock), Die AfD zwischen basisdemokratischem Anspruch und zentralistischer Wirklichkeit

Chair: Marcel Lewandowsky (Hamburg)

Keynote

Elmar Wiesendahl (Agentur für Politische Strategie Hamburg), Perspektiven und Schwerpunkte einer zeitgemäßen Politischen Soziologie

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Christina Müller.

Kategorien: Politik

Daniel Lehnert

Daniel Lehnert ist Doktorand am Promotionskolleg Rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität an der Universität Tübingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Geschlechtersoziologie, Politische Soziologie, Wissenssoziologie, Sozialtheorie sowie Methoden der qualitativen Sozialforschung.

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Nicole Lühring

Nicole Lühring studiert Soziologie und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2013 ist sie studentische Mitarbeiterin des Lehrstuhls für Soziologie und Gender Studies des Instituts für Soziologie der LMU München. Ihre Interessenschwerpunkte umfassen Geschlechtersoziologie, Queer Studies, politische Soziologie, poststrukturalistische Theorien, Organisationstheorie (z.B. Systemtheorie) und kriminologische Sozialforschung.

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