Stefanie Hammer | Veranstaltungsbericht |

Vom Beginn politischer Ordnung

„Das Problem der Gründung: Aporien der Konstitutionalisierung in der politischen Theorie“, Workshop des Center for Political Practices and Orders (C2PO), Universität Erfurt, 15.–16. September 2016

Die Politikwissenschaft kennt derzeit viele Probleme.[1] Diskutiert werden etwa das Problem der Sicherheit (so der Titel des DVPW-Kongresses 2015), das Problem der Krise der repräsentativen Demokratie und allen voran das damit eng zusammenhängende Problem des europaweit aufstrebenden (Rechts-)Populismus. Der Workshop des Center for Political Practices and Orders (C2PO) setzt etwas früher an und holt ein Thema, das bereits in den Vertragstheorien eines Jean-Jacques Rousseau, eines John Locke oder auch eines John Rawls eine Rolle gespielt hat, zurück ins Zentrum der Debatte – das Problem der Gründung.

Zunächst sei kurz auf das gelungene Veranstaltungsformat verwiesen: Statt der üblichen Vortragspräsentation der eigenen Arbeit wurden im Voraus versandte Papiere durch jeweils zwei Kommentatoren vorgestellt und kommentiert. Diese Grundkonstruktion ermöglichte die unmittelbare konstruktive Auseinandersetzung mit den eigenen Ideen und denen anderer, wie sie bei einem Workshop ohnehin üblich sein sollte.

Im Zentrum des Workshops stand die Frage, wie sich gute Ordnungen auf legitime Weise gründen lassen. Rousseau beschreibt dieses Problem der Gründung eines Staates in seinem Gesellschaftsvertrag (1750) mit den häufig bemühten Worten:

„Damit ein in Entstehung begriffenes Volk die weisen Grundsätze der Politik schätzen und den Grundregeln der Staatsräson folgen lernt, müßte die Wirkung zur Ursache werden und der gemeinschaftliche Sinn, der das Werk des Staates zu sein hat, müßte dessen Errichtung vorausgehen, ebenso wie die Menschen schon vor den Gesetzen sein müßten, was sie durch die Gesetze erst werden sollen.“[2]

Das Problem des Anfangs politischer Ordnungen stellt sich somit als logisch unüberwindbares dar: Um zu werden, was wir hinterher sein wollen, müssten wir es bereits vorher sein. Anders gesagt: Bereits die Gründung einer guten politischen Ordnung bedarf tugendhafter Bürger, die aber erst durch ihr Handeln in guten politischen Ordnungen zur Tugendhaftigkeit erzogen werden. Damit sind wir bereits bei der ersten und zentralen Aporie der Konstitutionalisierung in politischen Theorien angelangt. Im Rahmen des Workshops vielfach diskutiert wurden aber auch das Dilemma zwischen Offenheit und Begrenzung und damit zwischen Freiheit (eine wahrhaft Rousseau‘sche Kategorie) und Zwang sowie das zwischen Souveränität und Selbstbeschränkung. Laut der gängigen Interpretation des Gesellschaftsvertrages löst Rousseau diese Probleme durch die Einführung einer „außergewöhnlichen“ Person, des Gesetzgebers.

KARINA KORECKY (Hamburg) geht in ihrer innovativen Analyse des Zweiten Diskurses von Rousseau einen anderen Weg, der sie ebenfalls zurück zum Anfang, zur Natur und dem vieldiskutierten Naturzustand führt. Im Zuge ihres Dissertationsprojektes „Naturbegriff und politische Ordnung. Rousseau und die Folgen“ rekonstruiert Korecky die Entwicklung vom Naturzustand hin zur gesellschaftlichen Ordnung, die sie entgegen zahlreicher anderer Rousseau-Interpretationen nicht als Verfallsgeschichte begreift. Vielmehr liege in seinem Verständnis der Natur als Ort „menschlicher Handlungsfähigkeit“ der Schlüssel zur Lösung der vormals genannten Aporie: Zwar verdanken die Menschen dem Gesetzgeber die ersten Gesetze, es sind jedoch die Menschen selbst, die durch ihr freies Handeln die Republik in jedem gesetzlichen Akt entweder erneut gründen oder dem Verfall preisgeben.

MARKUS PATBERG (Hamburg) skizzierte in „Constituent Power. A Discourse-Theoretical Solution to the Conflict between Openness and Containment” eine an die Habermas‘sche Diskursethik angelehnte Idealtheorie der Verfassungsgebung und -revision. Darin formulierte er eine Reihe von normativen und prozeduralen Anforderungen an einen solchen Prozess (Gewaltverzicht, Gleichheit, Inklusivität, Diskursivität). Der Grundkonflikt zwischen Offenheit und Begrenzung bzw. zwischen der Souveränität des demos und seiner Selbstbeschränkung werde dadurch abgemildert, dass Verfassungen Revisionsklauseln oder -mechanismen enthielten. Die hierfür festgelegten Prozeduren seien darauf angelegt, den in der Idealtheorie formulierten Anforderungen zu genügen.

Für ENO TRIMCEV (Greifswald) ist der Rückgriff auf Rousseau, wie ihn beispielsweise Korecky vornimmt, repräsentativ für eine von zwei möglichen Lesarten des Problems der Gründung, die er im Rahmen seines Projektes zum „Problem of Founding as an Achievement of Understanding“ in einer Art Hermeneutik der Gründung einander gegenüberstellt. Die andere Lesart findet er bei radikaldemokratischen Autorinnen wie Bonnie Honig oder auch Chantal Mouffe. Deren Verständnis des Politischen als immerwährender Konflikt, Wandel und Transformation eröffne ihnen zwar die Möglichkeit, dem Narrativ der einmaligen Gründung durch den Rousseau‘schen Gesetzgeber eine gegensätzliche Lesart der kontinuierlichen Gründung durch plurale politische Akte entgegenzusetzen. Stattdessen, bemängelte Trimcev, liege ihr Fokus jedoch allein auf der Kritik der hegemonialen (liberalen) Projekte.

Der Argumentation Trimcevs folgend stellte auch FELIX BREUNING (Hamburg) in einer Skizze seines Dissertationsvorhabens fest, dass wir mit Hilfe der Hegemonietheorie einer Chantal Mouffe zwar die „paradoxale Spannung“ zwischen Volkssouveränität als Herrschaftsform und Verfassungsliberalismus als normativem Programm thematisieren und mit Bezug auf Ludwig Wittgenstein dieses Paradox gar als zwei gegensätzliche Grammatiken fassen können. Es lasse sich allerdings in Bezug auf das (im Rahmen einer radikalen Demokratietheorie wiederkehrende) Problem der Gründung keine Antwort finden. HANS VORLÄNDER riet Breuning daher dazu, über die starke und durchaus innovative Fokussierung auf Mouffe und Wittgenstein hinauszugehen und Autoren wie Michael Oaskeshott und dessen Ideen zu Verfassung und Recht in die Analyse mit einzubinden.

Auch die Gerechtigkeitstheorie Axel Honneths, die von STEFANO GROSSO (Heidelberg/Potsdam) zur Lösung des Problems der Gründung herangezogen wird, wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet: Ist Gründung in Bezug auf Anerkennung überhaupt zu denken? Oder ist Anerkennung nicht vielmehr eine Folge (erfolgreicher) Gründung und damit sehr voraussetzungsreich? Grossos Beitrag mit dem Titel „Anerkennung und legitime Macht für die Gründung eines gerechten Staates in der Gerechtigkeitskonzeption Honneths“ wurde vor allem auch bezüglich der Begriffe Staat, Kampf und der damit verbundenen Vorstellungen von Macht diskutiert. So regte ANDREAS BRAUNE an, Anerkennung nicht allein im Rahmen des Staates zu verhandeln, wenn doch Georg Friedrich Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes (1806–1807) bereits eine vorstaatliche Form von Intersubjektivität in der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft sehe. Das Motiv von Herr und Knecht wurde im Workshop auch zur Kritik des von Grosso verwendeten, an Robert Dahl angelehnten Machtbegriffes herangezogen. Mit Macht beschreibt Grosso die „Fähigkeit, Adressaten dahingehend zu beeinflussen, dass sie etwas tun, was sie sonst nicht tun würden“. Diese stark an Max Weber erinnernde Definition fand jedoch mancher Teilnehmer zu unterkomplex, um die unterschiedlichen Dimensionen möglicher Machtverhältnisse zu analysieren.

FRANZ X. BARRIOS-SUVELZA (Berlin) verband die Theoretisierung der Gründung mit einer empirischen Studie. Er untersucht „Das Phänomen der ‚Staatswiedergründung‘ vor dem Hintergrund „des Neuen Lateinamerikanischen Konstitutionalismus“. Am Beispiel Boliviens unternahm er den Versuch, die von ihm eigens geprägte Kategorie der echten bzw. unechten Staatswiedergründung (SWG) zu veranschaulichen, die leider allzu sehr an ähnlich umstrittene Konzepte der vergleichenden Politikwissenschaft, wie beispielsweise defekte Demokratien[3], erinnert. Im Fall Boliviens sei es vor allem die 2009 vollzogene „totale“ Verfassungsreform, die eine Einordnung als echte Staatswiedergründung scheinbar plausibel mache. Mit dem Phänomen der Staatswiedergründung verbunden ist jedoch laut Barrios-Suvelza auch die Kraft des Fiktiven. Die Staats(wieder)gründung geschehe damit sowohl auf der formalen als auch auf einer symbolischen Ebene und werde durch Diskurse, Rituale und Ikonographie stabilisiert. ANDRÉ BRODOCZ erinnerte diesbezüglich an Carl Schmitts Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungstext.

Mit (mehr oder weniger gewalthaltigen) Formen von Unterbrechungen politischer Ordnung und anschließenden (Neu)Gründungen setzt sich auch ANNA TOMASHEK (Eichstätt) in ihrem Projekt zur „Legitimität der Revolution“ auseinander. Sie verbindet die Konzepte der Revolution und der Staatsgründung durch Fragen der Legitimität miteinander, eine laut Tomashek in der aktuellen Revolutionstheorie eher vernachlässigte Frage. Tomasheks These lautet, dass Revolutionen zwar schwer legitimierbar seien, dass jedoch nur eine legitime (bzw. legitimierte?) Revolution auch eine legitime Ordnung begründen könne. In ihrer eigenen Revolutionstheorie führt sie die gegensätzlichen Positionen Immanuel Kants (als kategorischer Kritiker der Revolution) und Hannah Arendts (als Verfechterin dieser als politische Handlung per Definition) zusammen. Um von einer legitimen und damit gerechten Revolution sprechen zu können, verbindet Tomashek meiner Meinung nach jedoch allzu schnell das Konzept der Revolution mit Gewalt und schließlich mit dem Konzept des gerechten Kriegs (Michael Walzer). Darüber vergisst sie gegenwärtige Formen gewaltloser Revolutionen, die ihre eigentliche Ausgangsfrage nach der Legitimität verkomplizieren könnten. WOLFGANG KNÖBL erinnerte diesbezüglich auch an empirisch fundierte Revolutionstheorien, etwa von Theda Skocpol. Zudem verwies er auf den Umstand, dass politische Revolutionen in der Regel ihre Wurzeln in sozialen Fragen und sozialem Protest haben.

Zum Abschluss der Veranstaltung stellte ROMAN YOS (Potsdam) noch einmal einen Autor zur Diskussion, der sich mehr als einmal zu den Voraussetzungen für eine gute, in seinem Sinne also vernünftige Ordnung geäußert hat. Yos widmet sich in seiner Dissertation dem jungen Habermas und einer „ideengeschichtlichen Untersuchung seines frühen Denkens (1952–1962)“. Für den Workshop unternahm Yos nun den Versuch, den jungen Habermas innerhalb der „intellektuellen Gründung des Bundesrepublik“ als Akteur zu positionieren. Yos konzentrierte sich dabei auf Habermas‘ sich wandelnde Ansichten zu „Elite“ und „Masse“, die er aus zwei von Habermas verfassten Zeitungsartikeln und einem Leserbrief aus den Jahren 1953 und 1954 rekonstruiert. Während Habermas im ersten Brief das Bild einer öffentlichen Elitendemokratie zeichnete, ist es im zweiten Beitrag die Masse, der nun in einer partizipatorisch organisierten Demokratie vermehrt Vertrauen geschenkt wird. Damit begegnen uns schließlich die zwei zentralen Figuren vom Anfang der Geschichte, wie sie Rousseau erzählt, wieder. Auf der einen Seite sehen wir die Masse der Menschen, die im Anschluss an die Staatsgründung mittels der Sozialisation in der legitimen freiheitlich demokratischen Grundordnung zu tugendhaften Bürgern erzogen werden. Auf der anderen Seite steht die Elite, die als Gesetzgeber „zauberhafterweise“ ahnt, was legitime und gute Ordnung braucht. Zur Verortung von öffentlichen Intellektuellen,wie Jürgen Habermas auf der einen oder anderen Seite, tragen Arbeiten wie die von Roman Yos in jedem Fall bei.

Konferenzübersicht:

Kommentatoren: André Brodocz, Wolfgang Knöbl, Tine Stein, Hans Vorländer

Andreas Braune (Jena), Was ist das Problem der Gründung?

Felix Breuning (Hamburg), Was ist eine legitime Rechtsgründung? Politische Theorie und das Paradox des demokratischen Konstitutionalismus

Karina Korecky (Hamburg), Natur und Gründung bei Rousseau

Anna Tomashek (Eichstätt), Die Legitimität der Revolution

Markus Patberg (Hamburg), Verfassungsgebende Gewalt. Zum Konflikt zwischen Offenheit und Begrenzung

Franz X. Barrios-Suvelza (Berlin), Das Phänomen der „Staatswiedergründungen“– Eine Fallstudie im Lichte des Neuen Lateinamerikanischen Konstitutionalismus

Stefano Grosso (Heidelberg/Potsdam), Anerkennung und legitime Macht für die Gründung eines gerechten Staates in der Gerechtigkeitskonzeption Honneths

Eno Trimcev (Greifswald), The Problem of Founding as an Achievement of Understanding.

Roman Yos (Potsdam), Jürgen Habermas und der intellektuelle Gründungsdiskurs der Bundesrepublik über “Masse”, “Elite” und “Öffentlichkeit”

  1. Am 6. Oktober 2016 veranstaltete die TU Dresden einen Workshop zur Kategorie des Problems mit dem Titel „Das Problem mit den Problemen“.
  2. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder: Die Grundlagen des politischen Rechts, übers. von Erich Wolfgang Skwara, Frankfurt am Main 2000, S. 61.
  3. Wolfgang Merkel u.a., Defekte Demokratie. Band 1: Theorie, Wiesbaden 2003.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Christina Müller.

Kategorien: Politische Theorie und Ideengeschichte Politik Gesellschaftstheorie

Stefanie Hammer

Dr. Stefanie Hammer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Politische Theorie an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. In ihrer Promotion hat sie sich beschäftigt mit „Zivilreligionspolitik in der postheroischen Gesellschaft. Wie die Bundeswehr um ihre Gefallenen trauert“.

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