Amira Möding | Rezension |

Verstellte Urteilskraft

Rezension zu „Semantische Krisen. Urteilen und Erfahrung in der Gesellschaft ungelöster Probleme“ von Jan-Philipp Kruse

Jan-Philipp Kruse:
Semantische Krisen. Urteilen und Erfahrung in der Gesellschaft ungelöster Probleme
Deutschland
Weilerswist 2022: Velbrück Wissenschaft
392 S., 49,90 EUR
ISBN 978-3-95832-269-1

For a very long time, the intellectual consensus has been that we can no longer ask Great Questions. Increasingly, it’s looking like we have no other choice.[1]

Mit diesen Sätzen endet die Einleitung von David Graebers Debt: The first 5000 Years. Sie könnten Jan-Philipp Kruses hier zu besprechender Dissertation Semantische Krisen als Motto vorangestellt sein. Während Graeber ausgehend von der historischen Verflechtung von Schulden und Schuld der Verschränkung von Wirtschaftssystem und Moral nachgeht (und argumentiert, dass wir Gesellschaft und Ökonomie nicht bloß als institutionalisiertes Tauschverhältnis begreifen dürfen), rückt Kruse mit Blick auf gegenwärtige Krisenlagen die Verschränkung von Urteils-, Handlungs- und Kommunikationsvermögen in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Diese drei Begriffe zieht er als zentrale Kategorien heran, um seinen Befund „semantischer Krisen“ zu entwickeln – Krisen, die sich nach Kruse in liberalen Gesellschaften gegenwärtig verschärfen und durch gleichzeitige Tendenzen des „Entgleisens“ und „Erlahmens“ gesellschaftlicher Verständigungsprozesse auszeichnen (S. 10).

Semantische Krisen träten auf, wenn kollektive Praktiken und politisches Handeln dauerhaft hinter sozialen Problemlagen und Krisenerfahrungen zurückblieben und beträfen letztlich die individuelle wie gesellschaftliche Fähigkeit, die eigene Erfahrungswelt zu erfassen und für andere zugänglich zu beschreiben (S. 10–12, 356–57). Deshalb bezeichnet Kruse sie als semantische Krisen: Wenn subjektive und intersubjektive Erfahrungen auf Dauer keinen Eingang in die politische Praxis finden, werden Probleme weder kommunizier- noch lösbar (S. 357). Die Diskrepanz von Erfahrung und Handlungsmöglichkeiten zeigt sich Kruse zufolge darin, dass zentrale Konzepte, die gesellschaftlichen Diskurs als Ideale ordnen, wie zum Beispiel Freiheit oder Demokratie, an Bedeutung verlieren (S. 296). Dieser Bedeutungsverlust führe zum Verfall sowohl von Urteils- als auch Handlungsvermögen. Gleichzeitig sieht Kruse kollektive Praktiken selbst als bedeutungsgebend – es ist dieser komplexe und wechselseitige Zusammenhang zwischen Erfahrung und Kommunikationsvermögen einerseits und den Möglichkeiten kollektiver politischer Praxis andererseits, den Kruse untersucht, um politische Krisen in westlichen Gesellschaften, etwa Politikverdrossenheit und den Aufstieg rechter Bewegungen, besser zu verstehen (S. 9–10).

Urteilen und handeln im Angesicht komplexer Krisenlagen

Das Buch stellt die erkenntnis- wie sozialtheoretisch grundlegende Frage, wie Verständigung in einer Gesellschaft zustande kommen kann und wann sie unmöglich wird. Daran anschließend erkundet der Autor die notwendigen gesellschaftlichen Bedingungen, durch welche Individuen und Gruppen urteils- und handlungsfähig sind. Wie dringlich diese Frage ist, zeigt sich nicht zuletzt angesichts der Klimakrise, die Kruse als zentrales Beispiel seiner Ausführungen heranzieht – mit Blick auf die Umwelt trete ein Problem zutage, an dem Urteilsfähigkeit und gesellschaftliche Verständigungsprozesse bisher regelmäßig scheitern (S. 45). Durch dieses Scheitern „erlahmt“ Kommunikation. Dabei zeigt sich etwa, wie selten Versprechen von „Nachhaltigkeit“ oder „Freiheit“ eingelöst werden, wie wenig Verwendungen dieser Begriffe mit tatsächlicher Nachhaltigkeit oder gesellschaftlicher Verwirklichung von Freiheit gemein haben und dass ihr Einsatz auch nicht mit einer Auseinandersetzung darüber einhergeht, was Freiheit oder Nachhaltigkeit bedeuten könnten (S. 24, 290 ff.). Kruse zufolge verlieren Begriffe durch solche Fehlverwendungen langfristig ihren Gehalt und „nutzen sich ab“, es kommt zur semantischen Krise (S. 24).

Kruse diagnostiziert keinen klaren Anfangspunkt dieses Prozesses. Stattdessen beschreibt er ihn im Rahmen einer historischen Entwicklung, nämlich der Rationalisierung und Verengung von Kommunikationsprozessen und mit ihnen der Verengung von Öffentlichkeit, durch die Entstehung von Management- und ‚Policy‘-Diskursen, die Kruse zufolge Lösungen komplexer Probleme verstellen. Aufgrund dieser Diagnose entwickelt er eine genealogische Kritik von Zweckrationalität. Die heutige Spielart instrumenteller Vernunft, so verstehe ich Kruse, wird durch die Vorstellung ermöglicht, Urteilsprozesse ließen sich kleinteilig durch Computer modellieren und ihr Ausgang so vorhersagen (S. 171–178). Diese Neubestimmung menschlicher Urteilsprozesse versteht der Autor nicht als harten Bruch, sondern eher als nächsten Schritt einer kontinuierlichen Formalisierung von Urteils- und Handlungsprozessen seit der Aufklärung. Am Beispiel von Computermodellierungen erläutert Kruse, wie der aussichtslose Einsatz von linearen und auf Profitsteigerung oder Öffentlichkeitswirksamkeit getrimmten Strategien zur Lösung komplexer sozialer Probleme semantischen Krisen den Weg bereitet.

Semantische Krisen erzählt auch eine Geschichte des Lernens und Verlernens, der gesellschaftlichen Ermöglichung und des Unmöglich-Werdens von Verständigung und deliberativen Problemlösungsstrategien (S. 168–170, 357). Im Fokus seiner Kritik stehen dabei digital vermittelte und kapitalistisch eingehegte Kommunikationsweisen und Lösungsansätze, die allein auf Optimierung und Effizienz abzielen. In Anlehnung an die philosophische Tradition des Pragmatismus arbeitet Kruse die zentrale Bedingung heraus, mit der semantischen Krisen vorgebeugt werden könne: Begriffe müssen bis dorthin reichen, „wo sich die gemeinsamen Probleme erstrecken“ (S. 10).

Aufgrund der Frage, wie sich Gesellschaften über Problemlagen verständigen, entwickelt Jan-Philipp Kruse die These, dass die Verständigung über Probleme eine notwendige Grundlage für die Möglichkeit einer geteilten Idee von Gesellschaft darstellt. Dabei sind (gesellschaftliche) Probleme für Kruse immer schon Ausdruck und Ergebnis gelungener Kommunikation, denn auch welche Sachverhalte man wie als Problem begreift, muss erstmal ausgehandelt werden. Hier greift der Autor die Frage nach den Werten gegenwärtiger liberaler Gesellschaften auf (S. 9), denn an der Setzung und Analyse eines Problems zeigt sich auch das Selbstverständnis einer Gesellschaft. Schon der Buchtitel weist auf Habermas‘ Spätwerk hin und damit auf die Kritische Theorie kommunikationstheoretischer Ausprägung (S. 9). Über diesen Weg zeigt Kruse in seiner Arbeit die Probleme der Rahmung von „gesellschaftlichen Verständigungsprozessen“ auf und wie es dazu kommt, dass westlich-liberale Gesellschaften immer wieder hinter ihre Möglichkeiten und Ideale zurückfallen.

Gestörte Verständigung

Semantische Krisen ist ein dringliches und ehrgeiziges Buch. Verschiedene Stränge der kritischen Theorie, des philosophischen Pragmatismus, Theorien aus Medien- und Literaturwissenschaft werden in Dialog gebracht, um das Verhältnis zwischen Bedeutung, menschlichem Erkenntnisvermögen, auf Handeln bezogener Urteilskraft, und schließlich den gesellschaftlichen Bedingungen von Handeln selbst zu erklären. Aufgrund ihrer Kritik an instrumenteller Vernunft und kapitalistischen Verwertungszusammenhängen ist Kruses Arbeit zwar klar in der Tradition Kritischer Theorie zu verorten, versucht diese jedoch stärker interdisziplinär zu öffnen. Kruse greift vor allem auf Jürgen Habermas‘ Konzeptionen von Öffentlichkeit und Diskurs zurück; aber auch Rahel Jaeggis Theorie der Lebensformen, die Handlungstheorien des Pragmatismus um John Dewey, und schließlich neuere urteilstheoretische Literatur postmoderner Ausprägung stellen wichtige Bezugspunkte in Kruses Arbeit dar (S. 190 ff.). Die methodische Intervention des Autors liegt dabei vor allem in der Verknüpfung von kritischer Theorie mit post-strukturalistischen Zugängen zu Sprachphilosophie, wie besonders im Unterkapitel zur Bedeutung von Iteration für Urteilsprozesse (S. 294–302) deutlich wird. Gleichzeitig verleiht er einer poststrukturalistisch geprägten Sprachphilosophie eine stärkere normative Dimension, indem er die Auswirkungen semantischer Krisen auf politischen Diskurs und gesellschaftliches Zusammenleben in den Fokus seiner Arbeit rückt (S. 296).

Ebenso wie Formen des Lernens und Urteilens seien auch Möglichkeiten der Verständigung durch Struktur und Werte einer Gesellschaft geprägt, so lässt sich die Prämisse von Kruses Abhandlung zusammenfassen. Eine nachhaltige Problembearbeitung bedeutet für ihn zunächst, einen Umgang mit Problemlagen zu finden, der deliberative und ergebnisoffene Kommunikation ermöglicht und gesellschaftliche Lernprozesse zeitigen kann. Sind Gesellschaften hingegen lediglich auf einfache, schnell implementierbare Lösungen von Teilproblemen ausgerichtet, wirkt sich dies letztlich auf ihre allgemeine Problembearbeitungsfähigkeit aus. Zu semantischen Krisen kommt es, wenn die Problembearbeitung auf Dauer ihren Gegenstand verfehlt, und schließlich sogar die Konzepte zur Beschreibung der Probleme unbrauchbar werden (S. 9–12). So werde etwa der Begriff der Nachhaltigkeit zur bloßen Phrase, wenn er auf Dauer eine Politik beschreibt, die alles andere als nachhaltig ist. Mit dem Bedeutungsverlust von Sprache werde außerdem die Fähigkeit zur Perspektivbildung eingeschränkt und gesellschaftliche Lernprozesse durch die Weise der Problembearbeitung dauerhaft gestört. Dementsprechend folgert Kruse, dass westliche Gesellschaften einen grundsätzlichen Wandel ihrer Lebensformen auf den Weg bringen müssen, um Möglichkeiten der Verständigung, sozialer Lernprozesse und kollektiven Handelns zu gewährleisten (S. 290, 360–62). Politikverdrossenheit, institutionelles Misstrauen und gesellschaftliche Verständigungsunfähigkeit seien in erster Linie Symptome eines strukturellen kommunikativen Unvermögens.

Semantische Krisen sind also Krisen des Handelns und Lernens, ebenso wie Krisen der Verständigung und der Artikulationsmöglichkeiten. Sie beschreiben den Umstand, dass Erfahrungen, wie zum Beispiel die Klimakatastrophe, sich sprachlich nicht mehr adäquat fassen und einordnen lassen. Fallen die Möglichkeiten von Erklärungen, Problembeschreibungen, und schlicht Sprache auf Dauer hinter die Komplexität und Tragweite der Probleme zurück, verarmt nicht nur der öffentliche Diskurs; auch Einzelpersonen spüren, dass sie ihre Lebenswelt gegenüber anderen wie für sich selbst nur noch unzureichend beschreiben und beurteilen können. In diesem Sinn zitiert Kruse Walter Benjamin:

„Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen“ (S. 135).[2]

Hinter dieser Unmöglichkeit stehen für Benjamin die ungeheuerlichen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und mit ihm die beschleunigte Industrialisierung und das Aufkommen der Massenmedien. An diese Überlegungen knüpft Kruse, ähnlich wie Benjamin, eine Medientheorie, in der ein durch neue Medien beschleunigtes Kommunikationsgeschehen mit neuen Weisen der Beschreibung und Verwertung einhergeht. Kruse versucht dabei nicht, Parallelen zwischen den Krisen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und den heutigen Krisen herauszuarbeiten. Vielmehr ist ihm daran gelegen, die Mechanismen aufzuzeigen, mit denen heute Bedingungen für Kommunikation entwickelt oder untergraben werden (S. 227). In dieser Hinsicht betont Kruse die Bedeutung der Erzählung. Er versteht sie nicht nur als Medium der Verständigung, sondern auch als Rahmenbedingung für Lernprozesse und Urteile, die in ihrer Einordnung von Erfahrungen immer schon selbst Ausdruck eines Urteils ist.

Urteilsumwelt und Möglichkeiten der Einigung

Angesichts der schieren Menge an Inhalten und Informationen, die im öffentlichen Raum und insbesondere über soziale Medien zugänglich sind, argumentiert Kruse, dass Gesellschaftstheorie sich auf den Aspekt der Urteilskraft fokussieren müsse. Nur so lasse sich die Möglichkeit gesellschaftlicher Lernfähigkeit mit Rücksicht auf die gegenwärtige Struktur der Öffentlichkeit angemessen erfassen. Aus diesem Grund ist Kruse bemüht, die Habermas‘sche Konzeption des öffentlichen Diskurses um die Frage nach der Urteilsermöglichung zu erweitern und führt dazu den Begriff der ‚Urteilsumwelt‘ ein (S. 290 ff.). Diese umfasst für ihn alle Dimensionen, die in Einklang gebracht werden müssen, um erfolgreich urteilen zu können – sodass sich die Person im Handeln und Urteilen in ihrer Beziehung zu anderen und der Welt wiedererkennen kann – und erstreckt sich von der Wahrnehmungswelt des Subjekts über die Möglichkeit ihrer gehaltvollen Versprachlichung bis hin zu zwischenmenschlichen Interaktionen und der Herstellung einer geteilten Öffentlichkeit. All diese Momente müssen, wie Kruse in Anspielung auf Wittgenstein schreibt, ‚clicken‘ (S. 17, 282–85), also funktional ineinandergreifen, damit Menschen urteilen können.

Gruppen, die Verschwörungstheorien eine Plattform bieten oder sich um entsprechende Erzählungen herum gebildet haben – etwa die „Querdenken“-Bewegung in Deutschland, beziehungsweise die aus den USA hervorgehende Gruppierung „QAnon“ – tragen aus dieser Perspektive dazu bei, die Grundlage von Urteilsvermögen infrage zu stellen. Am Beispiel von Bots auf Facebook erörtert Kruse, wie schwer manipulierte Inhalte und Falschinformationen teilweise von wahrhaftigen Meldungen zu unterscheiden sind (S. 310–312) und weist auf das allgemeine Problem sozialer Medien hin, dass Nachrichten umso mehr Resonanz erhalten, je außergewöhnlicher und sensationeller sie klingen – ungeachtet ihrer faktischen Fundierung.

Daran anknüpfend bemerkt Kruse, wie fragil die Grundlage einer Konsensfindung ist und wie sehr sie, mit Hannah Arendt gesprochen, auf der Voraussetzung eines geteilten „common sense“ beruht (S. 338). Mit einer Person, die die Existenz von Covid-19 leugnet, wird man sich kaum über angemessene Schutzmaßnahmen einigen können. Und wo es keinen Konsens bezüglich der Fakten gibt, wird die öffentliche Debatte zur Farce. Begriffe, so Kruse, „verbiegen sich“ (S. 142), wo auf Dauer keine Lösung des Dissens in Sicht ist. Dieser Umstand wiederum erschwert das Ringen um einen sachlich informierten Lösungsansatz weiter. Aus lerntheoretischer Sicht behandelt Kruse somit die Frage, was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn vermehrt Menschen an Lügen glauben, wenn es unmöglich wird, sich über Fakten auszutauschen, weil Fakten zu Meinungen degradiert werden (S. 209–10).

Ebenso problematisch wie „alternative Fakten“ oder eine öffentliche Debatte, in der es auf Dauer keinen „common ground“ für eine Konsensfindung gibt, ist die ungenaue, oft euphemistische Nutzung von Begriffen im Zusammenhang mit sozialen Krisenlagen. So „verarmen“ die Begriffe oder werden „ausgehöhlt“ (S. 276). In Zusammenhang mit der Klimakrise etwa, scheinen Akteure aus Wirtschaft und Politik einerseits regelmäßig zu ignorieren, dass die rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen eine Grundlage kapitalistischer Profitakkumulation ist und suchen gleichzeitig nach individualisierten Lösungen für ein so vielschichtiges Problem wie die Klimakrise und schieben die Verantwortung vor allem auf Konsument:innen (S. 207–209). Durch seine Verwendung in diesem Zusammenhang verliere der Begriff der Nachhaltigkeit an Bedeutung: Er bezieht sich nicht mehr ausschließlich auf Versuche, so zu wirtschaften, dass das Klima nicht kippt, sondern auch auf Praktiken mit deutlich bescheideneren Zielen, etwa Emissionen lediglich zu reduzieren, oder Marketingmaßnahmen, die durch einen grünen Anstrich darauf abzielen, die Nachfrage für ein nach wie vor umweltschädliches Produkt zu steigern. Eine Praxis, die zu Unrecht mit Labeln wie „nachhaltig“ oder „ethisch“ aufgewertet wird, verwässere die Bedeutung des Begriffs. Das habe nicht nur unmittelbare Folgen für politische Kommunikation, sondern wirke sich laut Kruse auch auf zukünftige Handlungsweisen und Urteile aus. Zu viel Greenwashing führe dazu, dass einer angepriesenen Nachhaltigkeit zunehmend misstrauisch begegnet werde und berge darüber hinaus die Gefahr, „nachhaltig“ als politischen Begriff zu verlieren und die durch ihn bezeichneten Möglichkeiten politischen Handelns zu verschleiern (S. 35 ff.).

Anschließend an diese Beobachtung formuliert Kruse eine Kritik am Denken instrumenteller Vernunft und instrumentellen Kommunikations- und Handlungsweisen im Zeichen ‚lineare[r] Problemlösungskalküle‘ (S. 35). So zeigt der Autor am von den Psychologen Allen Newell und Herbert Simon 1972 entwickelten Modell des „Problemraums“ (S. 172), wie „lineare“ Optimierungsbestrebungen (beispielsweise mehr Profit im nächsten Quartal) nicht umhinkommen, gesellschaftliche Ziele systematisch zu verfehlen. Diese Kritik an linearen Lösungsprozessen, die auf identifizierbaren und somit reproduzierbaren Mechanismen beruhen und als Folie für die Lösung gesellschaftlicher Probleme dienen, bildet den Kern von Kruses Arbeit.

Semantische Krisen greift zentrale Debatten der kritischen Theorie auf und führt sie hinsichtlich des Fortschrittsbegriffs und der Bedingungen gesellschaftlicher Lernfähigkeit fort. Dabei bleibt Jan-Philipp Kruse der normativen Ausrichtung der frühen kritischen Theorie treu. Bereits aus seiner Fragestellung – Wie kann Verständigung in einer Gesellschaft zustande kommen und wann wird sie unmöglich? – ergibt sich eine Verpflichtung zur Interdisziplinarität und Theorienvielfalt. Allerdings überfrachtet diese den Text mitunter und erschwert dadurch das Verständnis. Das schlägt sich auch in der Sprache nieder. Sie ist weit weg von den Klarheitsvorstellungen der analytischen Philosophie, stattdessen ist sie anspielungsreich und verweigert oft, ihre Begriffe eindeutig zu setzen. Es gibt durchaus klassische Definitionen, dann wiederum Passagen, in denen Teilprobleme eher umkreist als benannt werden. Obwohl Kruses Sprache den Text mitunter schwer lesbar macht, zeigt sich in ihr auch eine Hingabe zur Komplexität und zu einer Vielzahl von Perspektiven, die sich nicht immer leicht zusammenführen lassen, sowie eine Leidenschaft für den Einsatz der Fragestellung, auch mit Blick auf politische Herausforderungen der Gegenwart. So hätte ein engerer Fokus die Arbeit sicher zugänglicher gemacht. Kruse geht es jedoch darum, das Problem gesellschaftlicher Kommunikations- und Urteilsprozesse in all seinen Facetten und insbesondere in Bezug auf technologisch vermittelte und kapitalistisch verwertete Kommunikation zu beleuchten. Diese Ausrichtung und Ambition rechtfertigen den weiten inhaltlichen Bogen und den Einsatz vielfältiger Theorien. Die Fragen, weshalb liberale Gesellschaften nicht in der Lage scheinen, existentiellen Problemlagen wie der Klimakrise zu begegnen und wie ebendies ihnen doch gelingen könnte, ohne demokratische Prozesse aufzugeben, sind dringender als je zuvor. Weil Semantische Krisen der Verflechtung von Kommunikation, Erfahrung und Urteilskraft eine theoretische Grundlage bietet, ist Jan-Philipp Kruses Buch ebenso für die Praktische Philosophie wie für die Sozialphilosophie relevant.

  1. David Graeber, Debt: The First 5,000 Years, Brooklyn (New York) 2011, S. 19.
  2. Walter Benjamin, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: ders., Gesammelte Werke Bd. 2, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1977, S. 349.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Nikolas Kill, Jens Bisky.

Kategorien: Gesellschaftstheorie Handlungstheorie Interaktion Kommunikation Kritische Theorie Lebensformen Öffentlichkeit Ökologie / Nachhaltigkeit

Amira Möding

Amira Möding studierte Philosophie und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität und Political Thought and Intellectual History an der Universität Cambridge mit dem Schwerpunkt auf post-koloniale Rechtsgeschichte, Kritiken des Eigentums und kritische Theorie. Seit 2020 schreibt sie in Cambridge an ihrer Doktorarbeit, einer kritischen Ideengeschichte von ‚Big Data‘, den kolonialen Dynamiken, durch die datengetriebene Technologien erdacht und ermöglicht werden, und den oft ebenfalls herrschaftsstützenden Folgen ihrer Implementierung.

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