Stephanie Frfr. von Liebenstein | Rezension |

Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt

Eva Barlösius über "Dicksein"

Eva Barlösius:
Dicksein. Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt
Deutschland
Frankfurt am Main 2014: Campus
203 S., EUR 24,90
ISBN 9783593500836

Die soziologische Literatur über das sogenannte „Übergewicht“ und die davon betroffenen Menschen ist schier unüberschaubar geworden. Kein Wunder, haben sich doch sowohl die Wahrnehmungen als auch die Bewertungen gesellschaftlicher Verhältnisse in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt: Sie werden immer häufiger an körperlichen Aspekten festgemacht, und dicke Körper scheinen – so jedenfalls der breite Konsens – ein soziales, gesundheitspolitisches und ökonomisches Problem par excellence darzustellen. In einem Umfeld, das den Körper immer mehr als bewusst gestaltbares Objekt versteht und der Eigenverantwortung des Individuums die Aufgabe zuschreibt, ihn aktiv zu formen, gilt ein dicker Körper als Kennzeichen von Abweichung – und damit von bewusster oder unbewusster Ablehnung gesellschaftlicher Werte.

Die überwiegende Mehrheit der soziologischen Arbeiten zum Dicksein beschäftigt sich jedoch mit der sozialen Herkunft sowie den Benachteiligungen, denen Hochgewichtige ausgesetzt sind, analysiert die Wahrnehmungen, Vorurteile und Stigmatisierungen, mit denen die Gesellschaft sie konfrontiert, sowie die Diskurse über Dicksein. Erst in jüngster Zeit nimmt die Forschung auch Experten und „Obesity Epidemic Entrepreneurs“[1] – beispielsweise Wissenschaftler, Journalisten und staatliche Akteure – in den Blick. Darüber, wie dickere Menschen soziale Benachteiligungen und Abwertung erleben, wie sie also auf Diskurse über das Dicksein und ihre gesellschaftliche Behandlung reagieren, ist dagegen noch relativ wenig bekannt.

In Barlösius‘ Studie kommen nun dicke Menschen, namentlich Jugendliche, selbst zu Wort; ihre Wahrnehmungen, Erfahrungen und Reaktionen stehen im Zentrum der Untersuchung. Konkret liegt dem vorliegenden Band ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Forschungsprojekt zugrunde, das 2009 bis 2012 unter dem Titel „Verbesserung der Wirksamkeit der Adipositasprävention für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche – zielgruppenspezifische Strategien zur Stärkung der gesundheitsbezogenen Ressourcen Ernährungs- und Bewegungsverantwortung“ durchgeführt wurde. Allerdings wurden aus verschiedenen Gründen nur Jugendliche und keine Kinder befragt. Anhand der Ergebnisse dieser Gruppendiskussionen versucht Barlösius, drei zentrale Forschungsfragen zu beantworten: Wie erfahren sich Menschen in gesellschaftlichen Interaktionen als zu dick? Wie positionieren sie sich zu den vorherrschenden Legitimationen sozialer Ordnung, speziell zu jenen, die die Typisierungen, Klassifizierungen und gesellschaftlichen Umgangsweisen mit als zu dick betrachteten Menschen rechtfertigen? Und schließlich: Wie deuten die als zu dick eingestuften Menschen diese gesellschaftlichen Erfahrungen?

Im Rahmen des Projekts wurden drei Erhebungen durchgeführt, die die empirische Basis des Projekts bilden: Erstens fanden nach Altersgruppe (11–13 und 14–16 Jahre), Geschlecht und kulturellem Hintergrund (deutsch oder türkisch) aufgeteilte Gruppendiskussionen mit sechzig Jugendlichen aus sozial benachteiligten Stadtteilen statt. Zweitens wurde in zwei Müttergruppen und einer Vätergruppe mit insgesamt 24 Elternpaaren von „übergewichtigen“ Kindern gesprochen. Drittens organisierte man ein „World Café“ – eine Methode, die darauf zielt, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster sowie kollektive Sichtweisen freizulegen – mit 18 Experten und Expertinnen aus der Präventionspraxis.

Die in diesen Diskussionen stattfindende Kommunikation analysiert Barlösius anhand verschiedener Theoriemodelle: Zunächst verweist sie auf Pierre Bourdieus Konzept der „sozialen Positionierung“, das zugleich die Grundthese der gesamten Arbeit liefert: „Dicksein ist zuallererst eine gesellschaftliche Erfahrung, die durch soziale Interaktionen sowie die physische Welt vermittelt wird“ (72). Die Dicken in der Gesellschaft, stellt Barlösius fest, bilden vor diesem Hintergrund so etwas „wie eine soziale Klasse“ (siehe u.a. 68).

Tatsächlich beschreiben sich die Jugendlichen mit einem Vokabular, das nahelegt, dass sie ihren gesellschaftlichen Status hauptsächlich durch ihren Körper bestimmt sehen, sodass sie ihrem Körper sogar eine stärkere soziale Strukturierungsmacht zuschreiben als ihrem sozialen Hintergrund. Um welches Thema es auch geht, sei es Schule, Freunde, Sport, Kleidung, Ausgehen oder Partnerschaft, stets ist ihr Körper der Faktor, den sie als Erstes erwähnen. Insbesondere sind sie durchweg der Ansicht, er verhindere, dass ihre Wünsche und Pläne sich verwirklichten. Dass ihre gesellschaftlich keineswegs privilegierte Situation möglicherweise auch etwas mit ihrer sozialen und – im Falle der türkischen Gruppe – ihrer ethnischen Herkunft zu tun haben könnte, verneinen die Jugendlichen dagegen. Ebenso streiten sie ab, dass körperbezogene Gebote, beispielsweise sich gesünder zu ernähren, gemeinsam zu kochen und zu essen sowie mehr Sport zu machen, etwas mit sozialer Klasse und damit verbundenen Praktiken zu tun hätten.

Im Weiteren untersucht Barlösius mit Rückgriff auf Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns Konzept der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, wie sich die dickeren Jugendlichen zu den Legitimationen der „objektiven Wirklichkeit“ in Bezug auf das Dicksein verhalten – wie sie also beispielsweise den gesellschaftlich anerkannten Zusammenhang von „gesunder Ernährung“, Bewegung und Körpergewicht einschätzen. Um das herauszufinden, konfrontiert Barlösius die Jugendlichen mit der Erzählung vom Schlaraffenland. Diese Erzählung soll den Jugendlichen die Möglichkeit eröffnen, zu den üblichen gesellschaftlichen Legitimationen auf Distanz zu gehen, um sie offen zu diskutieren und zu dekonstruieren. Wenig überraschenderweise jedoch verhalten sich die Jugendlichen zu der Erzählung gesellschaftlich konform: Sie lehnen die Logik des Schlaraffenlands, die aus ihrer Sicht u.a. unmittelbar mit Dicksein verknüpft ist, ab und betonen stattdessen sowohl ihre Leistungsbereitschaft als auch ihre Anerkennung der gültigen Normen.

Nichtsdestotrotz beschreiben dieselben Jugendlichen, die eben noch reflexartig „faul“ mit „dick“ verknüpft haben, ihre ideale Welt in Kapitel 4.3 als eine Gesellschaft, in der Gleichbehandlung unabhängig vom Körper möglich sei: Da sie den Körper als äußerliche Hülle ansehen, die nichts mit dem inneren Menschen zu tun habe, ist in ihrer idealen Welt ihr Gewicht nicht ausschlaggebend für ihre Chancen und ihre soziale Teilhabe.

In Kapitel 5 wird die Sprache der Befragten auf ihren moralischen Gehalt untersucht. Zu diesem Zweck greift Barlösius auf Niklas Luhmanns Konzept der „moralischen Kommunikation“ zurück, für die kennzeichnend ist, dass Sinngehalte aus verschiedensten Wissensbereichen und Teilsystemen (beispielsweise Wissenschaft, Politik, Gesundheit) mit Wertungen verbunden werden. Luhmanns Konzept umfasst vier Stufen der Moralisierung, auf deren Spuren hin die Kommunikation der Jugendlichen überprüft wird. In der Tat kommt die Autorin zu dem Schluss, dass in den untersuchten Aussagen alle Kriterien moralischer Kommunikation erfüllt seien. Die Jugendlichen werten ihr eigenes Verhalten systematisch ab, diskriminieren sich also mit ihrem Diskurs quasi selbst.

Im selben Kapitel werden auch die Äußerungen der Expertinnen aus der Adipositasprävention analysiert, und zwar vor allem im Hinblick auf drei Fragen: „1. Haben sich die Akteure untereinander mittels moralischer Kommunikation über Ernährungs- und Adipositasprävention ausgetauscht? 2. Welches Verständnis ihrer praktischen Arbeit haben sie kommuniziert? 3. Welches Verständnis ihrer Profession haben sie vertreten?“ (158). Als Ergebnis hält Barlösius fest, dass die Akteure tatsächlich moralisch kommunizieren, indem sie etwa die Eltern der Jugendlichen als „unfähig […] zu guter Elternschaft“ bezeichnen. Für sie bestehe kein Zweifel daran, wer die „Schuld“ daran trage, dass die Kinder „zu dick“ seien – nämlich deren Eltern. Auch scheinen sie sich im Klaren darüber zu sein, was getan werden müsse, damit die Kinder abnehmen. Die ExpertInnen stellen Regeln für die gesamte Lebensführung ihrer KlientInnen auf und entwerfen mit moralischen Begriffen unterfütterte Präventionskonzepte. Dass auch die Wissenschaft, beispielsweise durch Studien, auf deren Basis Präventionskonzepte entstehen, möglicherweise Lösungsansätze für die Praxis beisteuern könnte, können sie sich dagegen nicht vorstellen (161).

Kapitel 6 schließlich widmet sich den Zukunftsplänen der Jugendlichen. Hier kehrt Barlösius aus methodischen Gründen von Berger / Luckmann und deren Konzept der sinnhaften Deutung des Lebensverlaufs zu Bourdieu zurück, der die „Lebensbahn“ (trajectoire) als einen der „konstitutiven Faktoren“ von sozialer Klasse definiert. Der Umstand, dass diese Theorie im Fokus steht, kommt der Überzeugungskraft von Barlösius‘ ungleichheitssoziologischem Ansatz zugute, Dicksein als eine Art sozialer Klasse zu konstruieren. Die subjektiven Erwartungen der Jugendlichen an ihr zukünftiges Leben und die objektiven Chancen, mit denen sie diese abgleichen, werden untersucht; also auch, welche sozialen Positionen die Jugendlichen für sich als zugänglich erachten und welche nicht.

Im Ergebnis hilft Barlösius‘ Studie dabei, zu verstehen, wie Prozesse sozialstruktureller Differenzierung sowie solche der Herstellung und Rechtfertigung der sozialen Ordnung ineinandergreifen, einander verstärken und bestätigen, so dass ihnen „eine die Gesellschaft formende Macht zuwächst“ (181). Sie vermag überzeugend zu erklären, warum Menschen, die als „zu dick“ klassifiziert werden, diese Erfahrung als ausschlaggebend für ihr Verhältnis zur Gesellschaft erleben. Weiterhin verdeutlicht die Studie, dass der Körper die soziale Herkunft an vielen Stellen in den Hintergrund gedrängt hat und was dies ungleichheitssoziologisch bedeutet: Da die Verantwortung für den Körper gesellschaftlich immer häufiger dem Individuum zugeschrieben wird, sozialstrukturelle Unterschiede jedoch über körperliche Unterschiede repräsentiert und verhandelt werden (beispielsweise, wenn man sich eine erfolgreiche Managerin automatisch als „dünn“ vorstellt, den Mann hinter der Supermarktkasse jedoch als „dick“), läuft die individuelle Eigenverantwortlichkeit – nicht nur für den Körper, sondern auch für andere strukturelle Ungleichheiten – der gesellschaftlichen Fürsorgepflicht allmählich den Rang ab (vgl. 183). Dicke Körper werden zunehmend als Symptom nichtkonformen Handelns gedeutet; der sozialen Benachteiligung, die bei der Prävalenz eines hohen BMI in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen eine Rolle spielt, wird demgegenüber weniger Beachtung geschenkt.

Ein großes Verdienst des Buchs liegt darin, dass es sich dank seiner Metaperspektive auf die Debatte von vielen anderen Werken über das Dicksein abhebt: Die Autorin bemüht sich sichtlich, nicht auf der Ebene des gesellschaftlichen Alarmismus bezüglich des sogenannten „Übergewichts“ zu verharren. Ist es doch das Ziel der Verfasserin, eine nicht-diskriminierende Studie im Sinne der Fat Studies durchzuführen, und das, obwohl im oben zitierten Titel des Forschungsprojekts, aus dem der Band hervorging, Vereinfachungen schon angelegt sind. Dort wird nämlich überaus deutlich, dass das Bundesministerium etwas erforschen lassen möchte, das es als Problem für die öffentliche Gesundheit Deutschlands wahrnimmt. Und da sozial benachteiligte Menschen ein höheres „Risiko“ haben, dick zu sein oder zu werden, steht dieses Umfeld im Zentrum der Untersuchung: So sollen Prävention und Therapie besser greifen. – Unnötig zu erwähnen, dass das Bundesministerium die individuelle Verantwortung der Dicken für ihr Gewicht mit der Formulierung „Ernährungs- und Bewegungsverantwortung“ schon voraussetzt und sich wie selbstverständlich der traditionellen Meinung zu möglichen Einflussfaktoren auf das Gewicht anschließt: Allein Ernährung und Bewegung(smangel) seien ausschlaggebend.

Obwohl die Vorgaben für das Forschungsprojekt nahelegen, dass dessen Geldgeber selbst den von Barlösius im 5. Kapitel untersuchten Luhmann’schen Moralunternehmern zuzurechnen sind, die immer schon zu wissen meinen, wo das Problem liegt und was zu tun wäre, bemüht sich Barlösius darum, allzu reflexhafte Schuldzuweisungen zu vermeiden. Weiterhin – auch dies ist ein Verdienst der Studie – lässt sie dicke Jugendliche selbst zu Wort kommen, statt nur im Sinne der von Edward Said beschriebenen Kolonisierung[2] Wissen über sie zu gewinnen.

Allerdings geht Barlösius leider kaum über konventionelle und mittlerweile als unterkomplex kritisierte Erklärungsmuster hinaus. Insbesondere bezieht sie keine einzige Theorie der Entstehung von „Übergewicht“ mit ein, die andere Faktoren als die in der gesellschaftlichen Debatte allgegenwärtigen „Ernährung und Bewegung“ berücksichtigt. Dabei kennt die neuere medizinische Fachliteratur inzwischen zahlreiche Ansätze, die wesentlich plausibler als das traditionelle Kalorienverbrennungsmodell zu erklären vermögen, warum ein Mensch (dauerhaft) an Gewicht zulegt und ein anderer nicht: Zu nennen sind vor allem die Rolle von Stress, Licht, Schlaf und der Neigung zu Depressionen, aber auch die Diäthistorie der Betroffenen sowie – nicht zuletzt – die genetische Disposition für eine Gewichtszunahme.[3] Der Umstand, dass es unter sozial benachteiligten Jugendlichen einen höheren Anteil an Jugendlichen mit einem hohen BMI gibt, ist somit mutmaßlich auf ganz andere Ursachen zurückzuführen als diejenigen, die im Buch Erwähnung finden oder stillschweigend vorausgesetzt werden.

Die bisweilen mehr als deutlichen Bemerkungen der betroffenen Jugendlichen und Eltern, die auf Stress, Einsamkeit, Langeweile oder mangelnden emotionalen Ausgleich („Frustessen“, 96) hindeuten, scheinen beispielsweise wesentlich aussagekräftiger als die Diagnosen der sogenannten „Experten“. Allerdings geht Barlösius auf entsprechende Hinweise leider nicht ein, sondern beschränkt sich darauf, die umstrittene Ernährungs-Bewegungs-Logik (siehe 97), obschon sie sie sich nicht explizit zu eigen macht, als Subtext vorauszusetzen. Statt also beispielsweise hervorzuheben, dass den Kindern möglicherweise ein ausreichend stabiles Umfeld mit verlässlichen Bindungspersonen (Eltern, Freunden etc.) fehlt, dass sie existenziellem Stress ausgesetzt sind oder zu wenig Sonnenlicht bekommen, verweist Barlösius allein auf die Verantwortung der Eltern, nicht zu viele Süßigkeiten im Haushalt zu lagern. Dass dies allenfalls eine kurzfristige, kaum aber eine sehr wirksame Lösung für die „Übergewichtsproblematik“ sein kann, wird nicht einmal angedeutet.

Man mag einwenden, dass die Frage, wodurch das hohe Gewicht der untersuchten Jugendlichen verursacht oder begünstigt wurde, ja auch gar nicht Gegenstand von Barlösius‘ Studie ist – und womöglich noch nicht einmal eine soziologische Problemstellung. Allerdings bildet sie den diskursiven Hintergrund der Studie und setzt damit vermeintlich gesicherte Kausalitäten implizit voraus. Schon die Auswahl der Fragen, mit denen die Jugendlichen in den Untersuchungsgruppen konfrontiert werden, ist dem traditionellen Erklärungsmuster verhaftet: Da spielt eine Rolle, wer wie und wo mit wem was isst, wieviel Bewegung es im Alltag der Jugendlichen gibt etc. (siehe bspw. 80). Andere Themen werden in die Diskussion nicht eingebracht, obwohl genauso gut gefragt werden könnte: „Wo fühlt ihr euch sicher und geborgen im Alltag und wo nicht? Was stresst euch?“ oder „Wieviel Zeit verbringt ihr draußen im Tageslicht?“.[4]

Auch die Eltern geraten durch diesen unter der Oberfläche schlummernden Diskurs – möglicherweise unbeabsichtigt – in die Kritik: Beispielsweise erläutern sie – quasi in vorauseilendem Gehorsam –, warum es ihnen nicht gelinge, die Kinder vom Verzehr von Süßigkeiten abzuhalten. Barlösius interpretiert die Gründe: Erstens brächten sie es nicht über sich, den Kindern, die ohnehin in einem Umfeld leben, in dem sie auf vieles verzichten müssen, auch noch die bevorzugte Nahrung zu versagen; zweitens falle den Eltern „die geforderte Selbstdisziplin schwer“ (93), da man von ihnen erwarte, dass sie sich selbst gesund ernähren und Sport treiben, damit die Kinder es ihnen nachtun. Drittens, und das ist wohl die drastischste der Aussagen, würden „strikte Regel- und Grenzsetzungen nicht zu ihrem selbstverständlichen Erziehungsrepertoire“ (!) gehören (94). Angesichts der Tatsache, dass Barlösius den sonstigen Erziehungsstil der Eltern überhaupt nicht systematisch untersucht hat, wagt sie sich hier ziemlich weit vor. Wäre nicht ebenso plausibel, dass Eltern genau richtig handeln, wenn sie einen ungezwungenen Umgang mit Essen vorleben und den Kindern statt mit Strenge, die noch mehr Stress (und damit womöglich Gewichtszunahme) verursacht, mit Milde und Liebe begegnen? Will man nicht selbstverständlich voraussetzen, dass die Restriktion der Nahrungsaufnahme und ein permanentes Vorleben eines enthaltsamen Lebensstils die Patentrezepte sind, muss Barlösius‘ Diagnose pauschalisierend und – dies sicherlich unbeabsichtigt – abwertend wirken.

Letzteres sei gerade deshalb erwähnt, weil Barlösius offenkundig darum bemüht ist, Diskriminierungen zu vermeiden, indem sie beispielsweise auf eine entsprechende Wortwahl verzichtet[5] – beispielsweise vermeidet sie konsequent den diskriminierenden Begriff „Übergewicht“ und wählt stattdessen das neutrale „Dicksein“, wohl eine Übersetzung des amerikanischen „Fatness“. Auch geht sie das Thema im Sinne der Fat Studies an, indem sie beispielsweise Wert darauf legt, dicke Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen. Dennoch bleibt die Studie letztlich einem Kontext der „Adipositasprävention“ und „-therapie“ verhaftet, sodass sich die Frage stellt, ob man überhaupt diskriminierungsfrei sprechen kann, solange man voraussetzt, dass die Körper, um die es geht, allesamt ein zu lösendes Problem darstellen. Oder, wie Fat Activist Marilyn Wann, eine Ikone der US-amerikanischen Dickenbewegung, es formuliert: „There is no nice, unstigmatizing way to wish fat people would not eat or exist.”[6]

Zuletzt bleibt mit Bedauern zu konstatieren, dass der – sicherlich auch von einem Verlagslektorat befeuerte – Anspruch des Buches, nämlich „den Dicken“ eine Stimme zu geben und die sozialen Umstände des Dickseins allgemein zu beleuchten (man denke an den sehr umfassenden Titel!), unerfüllt bleibt. Durch eine Untersuchung von sechzig höhergewichtigen Jugendlichen aus einem sozial benachteiligten Umfeld lassen sich wohl kaum Rückschlüsse auf „Dicksein“ im Allgemeinen ziehen: Längst nicht alle dicken Menschen sind sozial benachteiligt, viele sind gebildet, haben gesellschaftlich anerkannte Berufe und sind in einen glücklichen Familienkontext eingebettet. Noch problematischer: Die meisten dicken Menschen sind eben nicht jung – der BMI nimmt mit zunehmendem Alter zu (bis er in der letzten Lebensphase wieder etwas abnimmt).[7] Der größte Anteil dicker Menschen, das zeigt ebenfalls der Mikrozensus des Statistischen Bundesamts, findet sich in der Altersgruppe zwischen sechzig und siebzig. Es bedarf wohl keines gesonderten Nachweises für die Behauptung, dass Menschen dieser Altersgruppe sowohl mit sozialen Typisierungen als auch mit gesellschaftlichen Legitimationen – egal welcher Lebensform – anders umgehen als Jugendliche, die in ihrer Identität noch nicht gefestigt sind und daher besonders empfindlich auf Gruppendruck und soziale Ausgrenzung reagieren.

  1. Lee F. Monaghan / Robert Hollands / Gary Pritchard, Obesity Epidemic Entrepreneurs. Types, Practices and Interests, in: Body & Society 16 (2010), 2, S. 37–71.
  2. Vgl. Edward Said, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1995.
  3. Vgl. zum Thema „Stress“ u.a. Britta Hitze u.a., How the Selfish Brain Organizes its „Supply and Demand“, in: Front. Neuroenergetics (2010); Britta Kubera u.a., The Brain’s Supply and Demand in Obesity, in: Front. Neuroenergetics (2012); zu „Licht“: u.a. S. Geldenhuys u.a., Ultraviolet Radiation Suppresses Obesity and Symptoms of Metabolic Syndrome Independently of Vitamin D in Mice Fed a High-Fat Diet, in: Diabetes 63 (2014), 11, S. 3759–3769; zu „Schlaf“: u.a. B. Bjorvatn u.a., The Association between Sleep Duration, Body Mass Index and Metabolic Measures in the Hordaland Health Study, in: Journal of Sleep Research 16 (2007), 1, S. 66–76; zu „Depression“: u.a. F. S. Luppino u.a., Overweight, Obesity, and Depression: A Systematic Review and Meta-Analysis of Longitudinal Studies, in: Archives of General Psychiatry 67 (2010), 3, S. 220–229; zur „Diäthistorie“: u.a. Andrew J. Hill, Does Dieting Make You Fat? In: British Journal of Nutrition 92, (2004), 1, S. S15–S18.
  4. Dies einmal ganz abgesehen davon, dass schon die Frage nach den Gründen für ein hohes Gewicht eine diskriminierende Komponente hat – der dicke Körper ist in dieser Frage die Abweichung, der dünne die Norm.
  5. Allerdings nicht an jeder Stelle, hier und da entgeht ihr doch einmal eine diskriminierende Formulierung, z.B. spricht sie von „Kilos zu viel“ (103).
  6. Marilyn Wann, Fat Studies. An Invitation to Revolution, in: Esther Rothblum / Sondra Solovay (Hrsg.), Fat Studies Reader, New York 2009, S. xvii.
  7. Statistisches Bundesamt, Leben in Deutschland. Haushalte, Familien und Gesundheit. Ergebnisse des Mikrozensus 2005, Wiesbaden 2006.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stefanie Duttweiler.

Kategorien: Soziale Ungleichheit Familie / Jugend / Alter Gender

Stephanie Frfr. von Liebenstein

Stephanie Frfr. von Liebenstein ist Gründerin und stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung e.V. und war von 2011 bis 2014 Mitglied des Editorial Boards der Fat Studies (hrsg. von Esther Rothblum). Die studierte Anglistin, Germanistin und Philosophin arbeitet als Lektorin für geisteswissenschaftliche Fachliteratur.

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