Teresa Koloma Beck | Essay |

Zerteilte Welten

Mit Frantz Fanon in Kabul

Im Jahr 2015 verbrachte ich für eine ethnografische Studie zwei Monate in der afghanischen Hauptstadt Kabul, mit Kurzaufenthalten in einigen Nachbarprovinzen. Ziel der Forschung war es, etwas über die Besonderheiten sozialräumlicher und lebensweltlicher Strukturen in einem anhaltenden bewaffneten Konflikt zu erfahren. Wie oft in der Ethnografie gab es auch bei diesem Aufenthalt eine Reihe analytischer Überraschungen. Dazu zählte, dass in der Beobachtung des durch die humanitäre militärische Intervention geprägten städtischen Alltags ein Autor und ein Werk relevant wurden, die sich auf einen zeitlich und räumlich ganz anderen empirischen Kontext beziehen: Frantz Fanons Rekonstruktion der kolonialen Gesellschaft, die er im ersten Kapitel von Die Verdammten dieser Erde[1] entwickelt. Darin beschreibt Fanon die Kolonien als eine zerteilte Welt, die um die Unterscheidung von Kolonisierern[2] und Kolonisierten organisiert ist. In Kabul schien die Unterscheidung zwischen lokaler Bevölkerung und den Angehörigen ziviler und militärischer Interventionsorganisationen, kurz: ‚internationals‘, dieselbe Funktion zu erfüllen.

Im Folgenden will ich diese Ähnlichkeiten zwischen dem Fanon’schen Werk und meinen ethnografischen Beobachtungen in Kabul genauer in den Blick nehmen. Wie lässt sich die longue durée der von Fanon beschriebenen Gegebenheiten erklären? Wie kommt es zur beobachteten Wiedergeburt der Strukturen der kolonialen Lebenswelt im Kontext humanitärer Intervention?

Das Ziel dieser Überlegungen besteht jedoch nicht darin, mithilfe eines antikolonialen Autors über den neokolonialen Charakter der Interventionspolitik zu polemisieren. Vielmehr geht es darum, zu ergründen, wie sich eine sozialräumliche Konstellation, die Fanon als das Produkt einer spezifischen Form der Herrschaft und einer spezifischen weltpolitischen Ordnung beschreibt, in einem ganz anderen zeitlichen, räumlichen und weltpolitischen Kontext re-inszeniert. Anders als in der populären Fanon-Rezeption, die den aktivistischen Impuls in Fanons Werk betont, lese ich seinen Text hier dezidiert als konzeptionellen Beitrag zu einer Alltagssoziologie kolonialer Herrschaft, dessen Relevanz – wie bei jedem produktiven sozialwissenschaftlichen Modell – über den empirischen Kontext, in dem es gewonnen wurde, hinausweist.

Afghanistan erscheint dabei als analytisch besonders aufschlussreicher Ort. Denn die politische Geschichte des Landes unterscheidet sich deutlich von den empirischen Fällen, anhand denen üblicherweise über die Gegenwart der kolonialen Vergangenheit nachgedacht wird, und deren jüngere Geschichte von europäischem Siedlerkolonialismus und antikolonialen Kämpfen bestimmt ist. Wenn sich in solchen Kontexten Strukturähnlichkeiten, wie die eben beschriebenen, beobachten lassen, liegt es nahe, diese als koloniale Kontinuitäten einzuordnen. Im afghanischen Fall jedoch greift die sonst oft plausible Kontinuitätshypothese nicht. Die historischen Gegebenheiten sind andere, was eine genauere soziologische Analyse notwendig macht.

Im Folgenden werde ich zunächst Fanons Analyse der kolonialen Gesellschaft als zerteilter Welt vorstellen, um dann in einem zweiten Schritt den strukturellen Parallelen zu Gesellschaften unter den Bedingungen humanitärer Intervention nachzugehen. Abschließend werde ich diskutieren, welche Schlüsse sich aus dieser vergleichenden Analyse nicht zuletzt mit Blick auf die Interventionskontexte der Gegenwart ziehen lassen. Ich werde zeigen, dass die segregierte sozialräumliche Struktur und die damit verbundenen Subjektivitäten in beiden Fällen auf ein handlungspraktisches Problem zurückgehen: Den mit Herrschaftsansprüchen von außen kommenden Akteuren erscheint die einheimische Bevölkerung als potenziell bedrohlich, weshalb sie Maßnahmen zu ihrem Schutz ergreifen. Strukturelle Parallelen zwischen der kolonialen und der Interventionsgesellschaft sind also nicht – oder nicht ausschließlich – auf ideologische Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Humanitarismus zurückzuführen. Vielmehr erweisen sich die beiden empirischen Kontexte als unterschiedliche Erscheinungsformen ein und derselben Herrschaftskonstellation: der Fremdherrschaft. Doch die vergleichende Analyse zeigt nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch, dass sich die Bedingungen für eine solche Form der Herrschaft drastisch verändert haben. In die Rechtfertigungsdiskurse des Kolonialismus ließ sich die Sicherheitspraxis der Segregation mit einiger Konsistenz einfügen; mit den universalistischen Normen, die zeitgenössischer humanitärer Politik zugrunde liegen, ist sie jedoch nur schwer zu vereinbaren und wirft neue Probleme auf.

Zerteilte Welt: Fanons Soziologie des Kolonialismus

Das erste Kapitel von Die Verdammten dieser Erde stellt eine detaillierte Rekonstruktion der sozialen und gesellschaftlichen Dynamiken der kolonialen Gesellschaft dar. „Die kolonisierte Welt ist eine zweigeteilte Welt“,[3] lautet dabei die bereits erwähnte Leitidee. „Die Trennungslinie, die Grenze“, führt Fanon weiter aus, „wird durch Kasernen und Polizeiposten markiert. Der rechtmäßige und institutionelle Gesprächspartner des Kolonisierten, der Wortführer des Kolonialherren und des Unterdrückungsregimes ist der Gendarm oder der Soldat.“[4] Im Zentrum der Fanon’schen Soziologie der kolonialen Gesellschaft steht also die Idee, dass das Leben in den Kolonien von einer binären Leitunterscheidung bestimmt ist: die zwischen Kolonisierern (les colons) und Kolonisierten (les colonisés). Fanon legt dar, dass diese nicht nur Wissenssysteme und politische Logiken strukturiert, sondern auch die Kolonie als Lebenswelt. Sie erzeugt ein spezifisches sozialräumliches Arrangement, das mit Gewaltmitteln abgesichert wird. So entsteht eine Welt der Kolonisierer, die von der Welt der Kolonisierten nicht nur verschieden, sondern abgetrennt ist. Inspiriert von Karl Marx, Sigmund Freud und Maurice Merleau-Ponty interessiert sich Fanon besonders für die Subjektstrukturen und relationalen Dynamiken, die die von ihm beobachtete Konstellation hervorbringt. Gewalt spielt mit Blick auf beides eine zentrale Rolle. Detailreich analysiert er, wie sich eine durch offene Gewaltausübung aufrechterhaltene Herrschaftsform in die Körper der Menschen einschreibt und diese so zu Orten der Reproduktion der Herrschaft macht. Nicht nur leben Menschen im Kolonialismus – der Kolonialismus lebt auch in den Menschen.

Die Befreiung des Subjekts aus der durch Gewaltherrschaft erzeugten Unterwürfigkeit sei nur dadurch möglich, dass sich „die Verdammten dieser Erde“ die Mittel der Gewalt selbst zu eigen machten.

Fluchtpunkt der Argumentation ist die Einsicht, dass Unabhängigkeit im engeren Sinne auf dem Verhandlungsweg nicht zu erreichen ist. Zu nachhaltig seien die Kolonisierten von der Gewaltherrschaft des Kolonialismus geprägt. Er habe sie nicht nur zu Unterworfenen, sondern auch unterwürfig gemacht. Abhängigkeit sei zu einem integralen Aspekt ihrer Subjektstruktur geworden. Um in dieser Situation Unabhängigkeit und Freiheit nicht nur auf dem Papier, sondern auch im Selbst zu erlangen, bedürfe es, so Fanon, einer radikalen Erfahrung. Die Befreiung des Subjekts aus der durch Gewaltherrschaft erzeugten Unterwürfigkeit sei nur dadurch möglich, dass sich „die Verdammten dieser Erde“ die Mittel der Gewalt selbst zu eigen machten. Wie in Hegels Phänomenologie des Geistes bedarf die Auflösung der kolonialen Herr-Knecht-Beziehungen eines revolutionären Akts, der nur vom Knecht ausgehen kann.

Das an europäische Klassiker revolutionären Denkens anknüpfende Plädoyer für einen antikolonialen Kampf verhalf den Verdammten dieser Erde zu rascher Bekanntheit. Allerdings sorgte die Kontroverse um Fanons Bekenntnis zu dekolonialer Gewalt, besonders betont durch Jean-Paul Sartres Vorwort zur ersten Auflage,[5] auch dafür, dass die soziologischen Analysen und sozialtheoretischen Vorschläge des Textes in den Hintergrund gerieten. Dabei ist das mit „Von der Gewalt“ überschriebene erste Kapitel mehr als ein Manifest des antikolonialen Kampfes. Es entwickelt einen methodisch und theoretisch originellen Zugriff auf das soziale Leben in den Kolonien, indem es – inspiriert von phänomenologischen Traditionen – Kolonialismus in Erfahrungsbegriffen als Lebenswelt rekonstruiert. Die Analyse untersucht und verknüpft subjektive, soziale, körperliche und materielle Dynamiken. Die räumlich-physische Trennung von Kolonisierern und Kolonisierten bildet dabei den Ausgangspunkt der Untersuchung, die dann um die Modalitäten der (Re-)Produktion dieser Trennung sowie um deren Effekte auf gesellschaftlicher, sozialer und individueller Ebene kreist.

Doch Kritiker*innen problematisierten an Fanons Texten nicht nur deren politische Positionierung. Insbesondere in den französischen Sozialwissenschaften wurde ihm auch analytische Kurzsichtigkeit vorgeworfen.[6] Mit seinem Argument der manichäischen Teilung der kolonialen Gesellschaft, hieß es, übersehe Fanon die Heterogenität der Bevölkerung in den Kolonien und das komplexe Zusammenspiel verschiedenster Gruppen. Doch der Vorwurf der mangelnden Komplexität geht am Kern des Werkes vorbei, weil er die Relevanz des methodisch-theoretischen Zugriffs verkennt. Phänomenologischen Traditionen folgend entwickelt Fanon eine radikal situierte Analyse. Anstatt einen Nullpunkt der Beobachtung zu beanspruchen, ist seine Rekonstruktion der kolonialen Lebenswelt an den Erfahrungen einer bestimmten Kategorie von Subjekten – den Kolonisierten – orientiert. Indem die Kritiker*innen die methodologisch fundierte Situiertheit des Autors als Kurzsichtigkeit missdeuten, verkennen sie auch ihre eigene Positionalität. Zugegebenermaßen trug Fanon selbst zu diesem Missverständnis bei, weil er den methodisch-theoretischen Rahmen seiner Analyse nicht explizit absteckte. Im Wissen um seine wichtigsten intellektuellen Wegbereiter (Hegel, Marx, Freud, Sartre, Merleau-Ponty) lässt sich der Text jedoch als eine Soziologie des Kolonialismus lesen, die sich aus einer Soziologie der Erfahrung speist. Und es ist diese methodisch-theoretische Perspektive, die das Werk bis heute interessant macht.

Fanon beschreibt die koloniale Gesellschaft als eine spezifische topologische Ordnung, als eine Welt, die in zwei einander entgegenstehende Zonen geteilt ist. Da ist die Stadt der Kolonisierer, in Stein gebaut, stabil und sauber. „Die Stadt des Kolonialherrn“ schreibt Fanon, „ist eine gemäßtete, faule Stadt, ihr Bauch ist ständig voll von guten Dingen.“[7] Daneben gibt es die Stadt der Kolonisierten, eine ausgehungerte Barackensiedlung, eine „Welt ohne Zwischenräume, die Menschen sitzen hier einer auf dem andern, die Hütte eine auf der andern. Die Stadt der Kolonisierten ist eine ausgehungerte Stadt […], eine niedergekauerte Stadt, eine Stadt auf Knien […].“[8] Beide Zonen koexistieren in unmittelbarer Nähe zueinander und sind doch streng voneinander getrennt.

Soziologisch interessant sind vor allem die von Fanon identifizierten sozialen und individuellen Dynamiken, die diese physische Trennung herstellen und aufrechterhalten. Auf handlungspraktischer Ebene werden sie, wie bereits eingangs erwähnt, von bewaffneten Akteuren durchgesetzt, die die Grenzen kontrollieren und die Welt der Kolonisierer vor unerwünschten Eindringlingen schützen sollen. Für die Kolonisierten sind die Gewaltakteure das lebendige Interface der Herrschaft, die „Wortführer des Kolonialherrn und des Unterdrückungsregimes“.[9] Sie verweisen die Kolonisierten an ihren Platz, sie überwachen und regulieren deren Lebensraum, bestimmen, wohin sie sich bewegen, wo sie existieren können.

Anschaulich beschreibt Fanon, dass Polizisten, Soldaten und andere bewaffnete Akteure allein die Segregation kolonialer Lebenswelten nicht zuverlässig aufrechterhalten können. Die Teilung der Welt muss auch normativ begründet werden. Und so begreift und beschreibt der Kolonialismus die einheimischen Bevölkerungen als minderwertig und unmoralisch.[10] Die koloniale Hirnforschung ‚beweist‘ die natürlichen Grenzen ihres moralischen Verhaltens und ihre biologische Veranlagungen zur Aggressivität.[11] Weil die Kolonisierer die lokale Bevölkerung als Bedrohung empfinden – Bedrohung nicht für die leibliche Unversehrtheit, sondern auch für die moralische Integrität der Kolonisierer –, erscheinen die zu Kontrolle und Repression der Kolonisierten ergriffenen Maßnahmen als Akte der Selbstverteidigung. So gestaltet sich die koloniale Gesellschaft als versicherheitlichter Ort, dessen soziale und räumliche Ordnung um Konstruktionen des kolonialen Anderen als Bedrohung organisiert ist.

Fanon führt aus, dass Praktiken der Segregation mehr bedeuten als den eingeschränkten Zugang zu bestimmten Orten der Welt. Beschränkte Mobilität, Leben auf engstem Raum, die Allgegenwart von Kontrollposten und Kontrollpraktiken sind Erfahrungen, die die leiblichen Strukturen und die Subjektivität der Kolonisierten konditionieren. Eindringlich schildert er die daraus resultierenden Spannungen, er beschreibt, wie sich die erfahrene Gewalt „unter der Haut ansammelt“[12] und sich bisweilen in ekstatischen Riten oder in Konflikten zwischen einander eigentlich nahestehenden Personen entlädt.[13]

Allerdings, auch das macht der Autor deutlich, ist die Trennung der Welten nicht absolut, die beiden Zonen sind klar voneinander geschieden, aber nicht hermetisch abgeschlossen. Die Kolonisierer dringen in die Räume der Kolonisierten vor, um diese zu kontrollieren und zu beherrschen. Die Kolonisierten wiederum betreten die Welt der Kolonisierer, um in deren Häusern und Büros zu arbeiten: ihre Gärten zu pflegen, ihnen Essen zu kochen, ihre Wäsche zu waschen und ihre Betten zu machen. Der Übergang von einer Zone in die andere ist eine heikle und in hohem Maße regulierte, aber absolut unverzichtbare soziale Praxis.

Nun gehört die Ausdifferenzierung der urbanen Bevölkerung in sozialstrukturell homogene Nachbarschaften und Viertel zum Alltag in vielen Städten rund um den Globus. Und insbesondere in Kontexten, in denen eine starke soziale Ungleichheit herrscht, gibt es Tendenzen zur Versicherheitlichung der Segregationsdynamik. Davon unterscheidet sich die von Fanon beschriebene Konstellation jedoch dadurch, dass sie in ein groß angelegtes politisches Herrschaftsprojekt eingebettet ist. Diejenigen, die die Zerteilung der Welt vorantreiben, kommen aus einem geografisch wie kulturell entfernten Kontext und machen ihre Herrschaftsansprüche in einer Situation extremer Asymmetrie geltend. Es sind Fremde (oder Ausländer – das französische Wort étrangers kann beides bedeuten), die diese Neuordnung der Lebenswelt einleiten und aufrechterhalten. Hier deckt sich Fanons Rekonstruktion mit den Überlegungen des französischen Soziologen Georges Balandier über die Merkmale der „kolonialen Situation“. Auch Balandier beschreibt als Spezifikum der kolonialen Gesellschaft, dass eine fremde, ethnisch und kulturell differente Minderheit – die ethnische und/oder kulturelle Überlegenheit beansprucht – ihre Herrschaft einer lokalen Mehrheitsbevölkerung aufzwingt, die über wesentlich weniger materielle Ressourcen verfügt.[14]

Interessanterweise erzeugt die asymmetrische Teilung der Welt nicht nur Segregationstendenzen, sondern auch Dynamiken der Anziehung und des Begehrens. Die Lebenswelt der Kolonisierten hat eine Ausrichtung.[15] Beständig sind sie in der Welt der Kolonisierer präsent, an ihr im engeren Sinne des Wortes teilzuhaben, bleibt ihnen jedoch verwehrt. So wird die erzwungene Orientierung auf das Unerreichbare zum Teil ihrer Subjektivität. „Die Welt des Kolonialherrn ist eine feindliche Welt, die ihn [den Kolonisierten] zurückstößt, aber gleichzeitig ist sie eine Welt, die seinen Neid erregt.“[16] Sie bleibt ein Ort der Sehnsucht, zum Greifen nah und doch unerreichbar. Angelehnt an Hegels Dialektik der Herr-Knecht-Beziehung hebt Fanon die Gleichzeitigkeit von Trennung und Verbindung hervor und beschreibt das Verhältnis von Kolonisierern und Kolonisierten als eines der Abhängigkeit, das Letztere jedoch aufgrund der vielfältigen Einschränkungen mit sehr viel größerer Intensität erfahren. Wie auch Balandier macht Fanon den Kolonialismus als eine spezifische Form der Vergesellschaftung lesbar, die sich über antagonistische Beziehungen und Konflikte reproduziert.

Die Verbindung von alltagssoziologischem Gespür und herrschaftssoziologisch informierter Theorieperspektive macht deutlich, wie koloniale Asymmetrien zum Gegenstand der Erfahrung werden, wie sich eine globale Herrschaftskonstellation in Interaktionen und Organisationsarrangements artikuliert, und wie in diesen Prozessen nicht nur Politik gemacht, sondern auch Körper und Subjektstrukturen erzeugt werden.

Fanons phänomenologische Analyse der kolonialen Gesellschaft ist theoretisch wie methodisch gewinnbringend. Sie rekonstruiert die Herrschaftsform des Kolonialismus als topologische Ordnung, die spezifische Subjektivitäten erzeugt und sich in spezifischen Praktiken (re-)produziert. Die Verbindung von alltagssoziologischem Gespür und herrschaftssoziologisch informierter Theorieperspektive macht deutlich, wie koloniale Asymmetrien zum Gegenstand der Erfahrung werden, wie sich eine globale Herrschaftskonstellation in Interaktionen und Organisationsarrangements artikuliert, und wie in diesen Prozessen nicht nur Politik gemacht, sondern auch Körper und Subjektstrukturen erzeugt werden. Lange bevor die Sozialwissenschaften begannen, die Notwendigkeit eines spatial turn zu diskutieren,[17] legte Fanon damit eine empirisch aufschlussreiche und methodisch wie theoretisch inspirierende Rekonstruktion der Wechselbeziehungen zwischen Macht, Raum und Subjektivität vor.

Internationals und locals: die Welt der humanitären Intervention

Fanon hatte seine Überlegungen in Auseinandersetzung mit den dekolonialen Kämpfen seiner Zeit, insbesondere im frankophonen Afrika, entwickelt. In den meisten dieser ehemaligen Kolonien ist die von Fanon beschriebene scharfe, binäre Teilung der Lebenswelt heute verschwunden. Selbstverständlich sind viele postkoloniale Kontexte von eklatanter sozialer Ungleichheit geprägt. Doch diese operiert nicht mehr mit einer offen ethnisierend oder rassistisch kodierten Unterscheidung zwischen ausländischen Herrschern und Einheimischen. Allerdings tauchen die von Fanon beschriebenen sozialräumlichen Arrangements systematisch in einem anderen Kontext auf: an Orten humanitärer Militärinterventionen.

Als ich 2015 für einen zweimonatigen ethnografischen Forschungsaufenthalt nach Kabul aufbrach, hatte ich mit dieser Parallele nicht gerechnet. Ich wollte etwas über die Auswirkungen langanhaltender Konflikte auf sozialräumliche Strukturen erfahren. Zu diesem Zeitpunkt hatte im interdisziplinären Feld der Konflikt- und Gewaltforschung die Raumdimension von Kriegen und bewaffneten Konflikten neue Aufmerksamkeit erlangt. In den deutschsprachigen Sozialwissenschaften wurden dabei Forschungen besonders einflussreich, die unter dem Stichwort „Gewalträume“ Orte des Krieges als Zonen im Chaos rekonstruierten. In den so verstandenen Gewalträumen ist die soziale Ordnung zusammengebrochen und das soziale Leben scheint auf die Ausübung von Gewalt oder die Angst vor ihr reduziert zu sein. Aufgrund eigener ethnografischer Forschungen zum Alltag im Krieg stand ich den vor allem in der Geschichtswissenschaft populären Analysen von Gewalträumen äußerst skeptisch gegenüber. Und so hatte ich mich entschlossen, die räumlichen Strukturen gewaltaffizierter Lebenswelten am Beispiel Afghanistans genauer zu untersuchen. Dass in dieser ethnografischen Arbeit das Werk Frantz Fanons zu einer wichtigen Referenz werden würde, hatte ich nicht erwartet. Zwar ist die Geschichte Afghanistans von imperialen Kämpfen geprägt, doch den modernen Siedlerkolonialismus, der die empirische Grundlage für Fanons Analyse bildete, hatte das Land nie erlebt. Dennoch wurden Fanons dichte Beschreibungen der kolonialen Gesellschaft zu einer regelmäßig relevanten theoretischen Referenz. In Kabul navigierte ich durch eine Stadt, die in zwei Welten geteilt war: eine für jene, die als Fremde im Zuge der humanitären militärischen Intervention gekommen waren; und eine andere für die sogenannte lokale Bevölkerung.

Nun gehört das Zusammenleben mit Mitarbeiter*innen internationaler Organisationen, nationaler Entwicklungshilfeagenturen oder Nichtregierungsorganisationen (NGO), ebenso mit Journalist*innen und Forscher*innen aus dem Ausland für die Bevölkerung vieler sogenannter Entwicklungsländer zum Alltag. Bemerkenswert in Kabul jedoch waren die Anstrengungen, die man unternahm, um die Welt der ‚Lokalen‘ und die der ‚Internationalen‘ getrennt zu halten. Bereits am Flugplatz gab es unterschiedliche Parkplätze für die einen und die anderen.[18] Hochgesicherte Arbeits- und Wohnanlagen (compounds) von internationalen Organisationen, ausländischen Agenturen oder NGOs waren ein prägendes Element des Stadtbilds.[19] Es gab Hotels, Restaurants und Fitnessstudios für ‚Internationale‘, deren Zutrittskontrollen dem security check an einem Flughafen ähnelten. Zu meiner eigenen Überraschung kam mir deshalb auf meinen Wegen durch die Stadt immer wieder Fanons Beschreibung der kolonialen Gesellschaft in den Sinn.

Was verbindet die beiden Kontexte, wenn – wie eingangs erwähnt – im afghanischen Fall Hypothesen über Kontinuitäten nicht tragen? Die Ähnlichkeiten liegen darin begründet, dass in beiden Fällen die Organisation des Alltags in entscheidender Weise durch die Wahrnehmung eines Sicherheitsproblems strukturiert ist. Kontexte internationaler Intervention sind nicht nur durch Aktivitäten humanitärer Hilfe geprägt, sondern auch durch militärische und politische Anstrengungen, einen anhaltenden internen Konflikt zu beenden und Staat und Gesellschaft in grundsätzlicher Weise umzugestalten. Da diese internationalen Bemühungen vor Ort von manchen begrüßt und von anderen abgelehnt werden, nehmen die Intervenierenden die lokale Bevölkerung nicht nur als Bedürftige wahr, deren Herz und Verstand es zu gewinnen gilt, sondern auch als zumindest potenzielle Bedrohung. Der Schutz vor den interventionsfeindlichen Teilen der Bevölkerung ist deshalb ein Hauptanliegen in der praktischen Organisation des interventionistischer Projekts.

In der Feldforschung in Kabul zeigte sich, dass das Streben der Intervenierenden nach Sicherheit eine topologische Ordnung schuf, die jener der kolonialen Gesellschaft – wie Fanon sie beschrieb – in vielerlei Hinsicht ähnelte. Sicherheitsvorstellungen und -kalküle artikulierten sich primär räumlich, das heißt, sie wurden in ‚sicheren Orten‘ gedacht. In der Perspektive der Intervenierenden waren solche Orte vor allem dadurch charakterisiert, dass potenziell gefährliche afghanische Staatsangehörige dort keinen Zutritt hatten. Die Umsetzung dieses Kalküls in alltägliche Praxis erwies sich jedoch als Herausforderung, da es nicht ohne Weiteres möglich war, die lokale Bevölkerung in ‚gefährliche‘ und ‚ungefährliche‘ Mitglieder zu unterteilen. In der Alltagsrationalität verallgemeinerte sich deshalb die Bedrohungswahrnehmung und schloss potenziell jede*n ein, die/der als afghanisch oder ‚lokal‘ gelesen wurde. ‚Sichere Orte‘ zu schaffen bedeutete für die Intervenierenden in erster Linie, eine Distanz zwischen der eigenen Lebenswelt und der von Afghan*innen herzustellen. Ethnograf*innen in anderen Interventionskontexten haben ähnliches beobachtet.[20]

Bankgebäude in der Kabuler Innenstadt. (Quelle: privat)

Im Stadtbild waren die hochgesicherten Wohn- und Arbeitsanlagen der Intervenierenden das materielle Emblem dieser Logik. In einer Studie zur Intervention im Südsudan beschreibt der Politikwissenschaftler und Ethnograf Mark Duffield die quasimilitärischen baulichen Strukturen als fortified aid compound: Hinter hohen Betonmauern mit aufgesetzten Stacheldrahtzäunen lebten und arbeiteten die Intervenierenden losgelöst von den praktischen Problemen und normativen Anforderungen der lokalen Umgebung. Enorme logistische Anstrengungen wurden unternommen, um innerhalb der compounds Lebensstandards und Arbeitsbedingungen aufrechtzuerhalten, die ‚westlichen‘ Erwartungen entsprachen. Sowohl die Sicherheitslogik als auch die Orientierung an westeuropäischen oder nordatlantischen Standards stellen zentrale Organisationsprinzipien vieler Interventionen dar, was dazu führt, dass sich fortified aid compounds in sehr unterschiedlichen Krisenregion stark ähneln.[21]

Compound in der Innenstadt von Kabul. (Quelle: privat)

Wie zu beobachten war, konnten die hochgesicherten baulichen Strukturen allein jedoch keine Sicherheit erzeugen. Denn ähnlich wie bei der Zerteilung der kolonialen Welt trennten sie zwar die Intervenierenden von der lokalen Bevölkerung, doch auch hier handelte es sich nicht um hermetisch geschlossene Strukturen. Regelmäßig mussten Menschen von einer Welt in die andere wechseln. Auch die dickste Mauer braucht Türen und Tore – Öffnungen, um Menschen hinein- und herauszulassen, und Verfahren, die diese Übergänge regulieren und kontrollieren. In der Forschung zeigte sich also, dass ‚sichere Orte‘ nicht allein baulicher Strukturen, sondern vor allem auch ergänzender sozialer Prozesse bedürfen. Regel legten fest, wer unter welchen Bedingungen und zu welchen Zeiten einen Ein- oder Ausgang passieren durfte. Ihre Durchsetzung wurde mithilfe von Verfahren und spezialisiertem Personal sichergestellt. Wie bei Fanon markierten die compounds Grenzen zu einer anderen Welt. Und wie bei Fanon waren diese Grenzen militarisiert, mit (quasi-)militärischen Bauten bestückt und von bewaffneten Kontrollposten bewacht. Die baulichen Gegebenheiten, die die Welt der ‚Internationalen‘ von der der Einheimischen trennten, waren also in eine Vielzahl sozialer Praktiken eingebettet, die den Zugang regelten und die Grenzerfahrungen modulierten.

Das praktische Arrangement, das ich zur Umsetzung meiner Forschung gefunden hatte, erlaubte es mir, einige der Prozesse genauer zu beobachten. Denn ich befand mich in der Grenzzone zwischen der Welt der Intervenierenden und der Welt der lokalen Bevölkerung. Ich kooperierte mit einer zivilgesellschaftlichen afghanischen Organisation, die mir embedded research ermöglichte. Seit Anfang der 2000er-Jahre führte die NGO Graswurzelprojekte in der Friedensarbeit und Konfliktbewältigung durch. Wie die meisten afghanischen NGOs dieser Zeit war die Organisation hauptsächlich durch westliche und internationale Geber finanziert, genoss jedoch besondere Legitimität in der Bevölkerung, auch in den paschtunisch dominierten Provinzen des Südens, wo der Widerstand gegen die Intervention die längste Tradition hatte. Mein alltägliches Arbeitsumfeld brachte mich also mit liberalen, aber kulturell selbstbewussten Afghan*innen in Kontakt, die in der Umgebung des Interventionsprojekts arbeiteten. So wurde die Grenze zwischen der Lebenswelt dieser Kolleg*innen und der Lebenswelt der Intervenierenden, von deren Unterstützung und Finanzierung die afghanische Organisation abhängig war, zu meinem Forschungsfeld. Grenzübertritte – allein oder in Begleitung afghanischer Kolleg*innen oder Informant*innen – waren eine praktische Notwendigkeit und gleichzeitig ein wichtiger heuristischer Motor.

Die oben beschriebene Festungslogik der internationalen Intervention, die zentrale Teile der Stadt organisierte, führte für viele meiner afghanischen Gesprächspartner*innen zu häufigen Erfahrungen von Ablehnung, Ausgrenzung und Demütigung. Im Umfeld des Interventionsprojekts arbeitend, waren sie häufig mit der Welt der Intervenierenden in Kontakt. Bei diesen Begegnungen wurde ihr Status als lediglich geduldete Besucher*innen unmissverständlich deutlich. So waren die Kontrollmaßnahmen an den Eingängen der befestigten Anlagen für Afghan*innen in der Regel sehr viel umfangreicher als für ihre ‚internationalen‘ Kolleg*innen. Insbesondere bei den großen Organisationen erwies es sich für organisationsfremde Afghan*innen oft als schwierig, überhaupt Zugang zum compound zu erhalten – selbst wenn sie, etwa im Falle von Vorträgen, Diskussions- oder Informationsveranstaltungen, ein legitimes Interesse für ihren Besuch belegen konnten. So schickte mich die Organisation, für die ich arbeitete, einmal zu einem Treffen, das nur entfernt mit den Projekten zu tun hatte, mit denen ich mich beschäftigte. Als ich meine Vorgesetzte fragte, warum nicht der afghanische Kollege mit Erfahrungen und Kompetenzen im entsprechenden Feld an dem Treffen teilnahm, erklärte sie mir, dass dieser keinen Zutritt zum Veranstaltungsort, das compound eines großen internationalen Players, erhalten würde.

Selbst innerhalb der hochgesicherten Wohn- und Arbeitsanlagen waren die Kontakte zwischen einheimischen und internationalen Mitarbeiter*innen in hohem Maße geregelt und eingeschränkt. So gab es beispielsweise verschiedene Kantinen, die unterschiedliche Arten von Speisen vorhielten. Ein afghanischer Gesprächspartner, der länger für eine große US-amerikanische Organisation gearbeitet hatte, erzählte, dass er und seine amerikanische Vorgesetzte zu Treffen außerhalb stets in zwei verschiedenen Autos hatten fahren müssen; die Regeln der Organisation erlaubten – aus Sicherheitsgründen – die gemeinsame Fahrt nicht.

Neben diesen formellen organisatorischen Verfahren spielten aber auch informelle Regeln eine wichtige Rolle. Da sich das Personal der Intervention keineswegs nur aus prototypischen Westeuropäer*innen zusammensetzte, war die Zugehörigkeit zur Gruppe der ‚Internationalen‘ keineswegs selbstverständlich, sondern musste performativ erzeugt und stabil gehalten werden. Ausschlaggebend waren dabei Praktiken der Distinktion, die – in Sprache, Kleidung oder anderen Lebensgewohnheiten – Attribute der ‚westlichen‘ Moderne zum Ausdruck brachten. So trugen Mitarbeiterinnen insbesondere von großen Interventionsorganisationen häufig Attribute westlicher Weiblichkeit ostentativ zur Schau, auch – oder sogar: gerade – dann, wenn sie mit männlichen afghanischen Mitarbeitern zu tun hatten. Klagen über die angebliche Unbekömmlichkeit der traditionellen afghanischen Küche waren unter Intervenierenden ein wiederkehrendes Gesprächsthema, vor allem bei jenen, deren dortiges Leben sich auf das compound beschränkte. Auch der kollektive Alkoholexzess, den viele expat communities als gemeinschaftsstiftendes Ritual pflegen, lud sich im afghanischen Kontext symbolisch auf und konnte ein Zeichen der Zugehörigkeit zum globalen Westen sein. So schufen die Intervenierenden auch unter Bedingungen räumlicher Nähe Distanz zu ihren afghanischen Interaktionspartner*innen.

Die eben beschriebenen Praktiken der Segregation – dies ist hervorzuheben – kamen nicht nur in den Interventionsorganisationen und in deren Umfeld zum Tragen, sondern wurden nachgeahmt an allen öffentlichen Orten, die ‚Internationale‘ als Gäste oder Kunden anzuziehen versuchten, darunter Geschäfte, Banken, Restaurants und Hotels, aber auch Unternehmen und Organisationen, die mit den Protagonisten der Intervention zusammenarbeiten wollten. So auch bei der afghanischen Organisation, mit der ich für die Forschung kooperierte. Die Logik der Versicherheitlichung prägte den städtischen Alltag also weit über die compounds der ‚Internationalen‘ hinaus. Infolgedessen bewegten sich Afghan*innen, die wie meine Bürokolleg*innen im Umfeld des Interventionsprojekts arbeiteten und lebten, in einem städtischen Raum, der in fast schon unheimlicher Weise an die von Fanon beschriebene Konstellation erinnerte.

Dabei galt die Welt der Intervenierenden – die compounds, Hotels oder Restaurants – nicht primär aufgrund ihres Wohlstands als erstrebenswert. Wichtiger war, dass sie Momente persönlicher Freiheit versprach, es möglich machte, den sonst gültigen kulturellen, politischen und religiösen Zwängen zumindest temporär zu entkommen.

Dies galt auch für die Gleichzeitigkeit von Anziehung und Abstoßung, die für die Beherrschten von der Welt der Herrschenden ausging. Trotz regelmäßiger Erfahrungen von Ablehnung und Ausgrenzung war die Welt der ‚Internationalen‘ für viele Afghanen*innen in meinem Umfeld ein Sehnsuchtsort. Auch wenn sie einigen Elementen westlicher Lebensstile kritisch gegenüberstanden, verlangte es viele von Ihnen nach einem Leben in einer ‚offenen Gesellschaft‘. Bei manchen hatte diese Sehnsucht bereits einen verzweifelten Charakter angenommen. Dabei galt die Welt der Intervenierenden – die compounds, Hotels oder Restaurants – nicht primär aufgrund ihres Wohlstands als erstrebenswert. Wichtiger war, dass sie Momente persönlicher Freiheit versprach, es möglich machte, den sonst gültigen kulturellen, politischen und religiösen Zwängen zumindest temporär zu entkommen. Natürlich strebten nicht alle Afghan*innen nach solchen Freiheiten. Diese Sehnsucht war typisch für jenen Teil der Bevölkerung, mit dem mich die Feldforschung hauptsächlich zusammenbrachte: Menschen, die zur kulturellen, aber nicht zur politischen oder wirtschaftlichen Elite des Landes gehörten. Sie waren jung oder mittleren Alters, viele hatten im Ausland gelebt, meist im Exil in benachbarten Staaten, bisweilen auch als Studierende. Einige hatte die emanzipatorische Politik der sowjetischen Herrschaft beeinflusst. Auf die eine oder andere Art hatten alle Formen der Interaktion und des Selbstausdrucks erfahren, die im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext nicht oder nicht mehr möglich waren. Deshalb sehnten sie sich nach Orten (oder Situationen), in denen die als beschneidend wahrgenommenen Regeln außer Kraft gesetzt waren. Und wie in Fanons Beschreibung waren diese Orte buchstäblich zum Greifen nah, und dennoch unerreichbar.

Und trotzdem anders

Obwohl die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen der kolonialen und der Interventionsgesellschaft frappierend sind, gibt es einen markanten Unterschied, der viel verändert: Der normative Kontext ist ein anderer. Während der Kolonialismus ferne Gebiete erobern und ausbeuten wollte, um im Wesentlichen nationale Interessen zu fördern, sind humanitäre Interventionen Teil universalistischer internationaler Politik. Diese stellt diskursiv nicht nationalstaatliche Interessen, sondern das Interesse ‚der Menschheit‘ ins Zentrum. Auch wenn eine solche Rhetorik bekanntlich nur bedingt die Interessenlage der politischen Beteiligten widerspiegelt, verändert sie das weltpolitische Geschehen. Denn sie spannt einen geteilten Aufmerksamkeits- und Kommunikationsraum auf, in dem universalistische Normen praktische Relevanz haben.[22]

Innerhalb der epistemischen Ordnung des Kolonialismus war die räumliche und diskursive Ausgrenzung der lokalen Bevölkerung konsistent, weil deren Angehörige als (noch) nicht vollwertige Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft galten. Dies rechtfertigte die strikte Trennung der Lebenswelten; und mehr noch, es delegitimierte präemptiv jeden Widerspruch oder Protest. Beides – Trennung und Delegitimation – ist im Horizont universalistischer Politik nicht mehr ohne Weiteres möglich. Hier ist der sozialräumliche Ausschluss der lokalen Bevölkerung normativ problematisch – selbst wenn er sich sicherheitspolitisch durchaus rechtfertigen lässt. Humanitäre Interventionen sind durch universalistische Normen und Werte begründet und gerechtfertigt, allen voran die Idee der universellen Menschenwürde. Das erklärte Ziel der Intervention besteht darin, diese Prinzipien in der Gesellschaft, in die interveniert wird, zu stärken. Sich gegenüber der lokalen Bevölkerung abzuschirmen, steht dazu in eklatantem Widerspruch und läuft deshalb Gefahr, die Legitimität des Interventionsprojekts vor Ort zu destabilisieren und dadurch neue Sicherheitsprobleme zu erzeugen.

Doch birgt eine Destabilisierung der Intervention nicht nur Risiken, sondern auch emanzipatorisches Potenzial: Neben der lokalen Bevölkerung kritisierten auch Angehörige der Intervention selbst die segregationistischen Praktiken der Intervention. Manche von ihnen haderten intensiv mit der Dissonanz zwischen humanitären Idealen und segregationistischer Praxis. Und sie versuchten auf ihre Weise, der Dissonanz etwas entgegenzusetzen. Zum Teil geschah dies in banal erscheinenden Alltagspraktiken, die für die Akteure jedoch symbolisch bedeutsam waren: etwa wenn sie, entgegen offizieller Richtlinien, Lebensmittel in lokalen Geschäften einkauften oder auf kreative Art Sicherheitsregeln umgingen, um ‚echtes Leben‘ zu genießen. Bisweilen stieß ich jedoch auch auf Geschichten, in denen Mitglieder von Interventionsorganisationen humanitäre Ideale zu einer höchstpersönlichen Verantwortung gemacht hatten und etwa Afghan*innen, die sie während ihres Aufenthaltes kennengelernt hatten, langfristig und aus ihren persönlichen Ressourcen unterstützten. Manchmal ging es dabei auch darum, Afghanistan zu verlassen und nach Europa zu gelangen. Schon während der Forschung 2015 deutete sich damit etwas an, das nach der Machtergreifung der Taliban im Sommer dieses Jahres deutlich zutage trat: Internationale Interventionen reproduzieren nicht nur problematische Strukturen der Weltpolitik, sie erzeugen auch neue Potenziale des Protests und der heterogenen Kollaboration,[23] die die asymmetrischen Unterscheidungen der weltpolitischen Strukturen überwinden. Dies zeigte sich beispielsweise, als sich in diesem Sommer zivile und militärische Kriegsrückkehrer*innen mit großer Vehemenz dafür einsetzten, dass ihre jeweiligen Heimatländer in Europa oder Nordamerika frühere Kolleg*innen und Kamerad*innen aus Afghanistan aufnahmen.

Fanon hatte – flankiert von Hegel und Marx – verstanden, dass auch Gewaltherrschaft Beziehungen erzeugt, dass sie aufgrund ihrer Intimität und Dauer Biografien und Lebensentwürfen miteinander verknüpft, ja ineinander verschränkt, auch und gerade von Menschen, die auf unterschiedlichen Seiten der Geschichte stehen. Gleiches gilt für die Intervention. Solche Begegnungen bergen ein enormes Gewalt- und Zerstörungspotenzial – aber immer auch eine utopische Möglichkeit.

  1. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde [frz. Orig. 1961], übers. von Traugott König, mit einem Vorw. von Jean-Paul Sartre, Frankfurt am Main 1966.
  2. In den deutschsprachigen Ausgaben ist das französische colon zumeist mit „Kolonialherr“ übersetzt. Der französischen Begriff impliziert eine Vielzahl von Aktivitäten, die mit der Aneignung, Besiedlung und Nutzung fremder Territorien einhergehen. Die übliche deutsche Übersetzung legt einen einseitigen Schwerpunkt auf den Herrschafts- und damit auch den politischen Zusammenhang, weshalb ich sie hier vermeide. Beim stattdessen gewählten „Kolonisierer“ verzichte ich auf das sonst durchgängig verwendete Suffix „*innen“, da geschlechtergerechte Sprache in diesem Fall eine Symmetrie kolonialen Engagements suggeriert, die der empirischen Realität nicht entspricht.
  3. Fanon, Die Verdammten dieser Erde, S. 31.
  4. Ebd.
  5. Jean-Paul Sartre, Vorwort von Jean-Paul Sartre, in: Fanon, Die Verdammten dieser Erde, S. 7–28.
  6. Beispielsweise Jean-François Bayart, Relire Fanon, in: Politique africaine 143 (2016), 3, S. 137–143, insbes. S. 140–142.
  7. Fanon, Die Verdammten dieser Erde, S. 32.
  8. Ebd.
  9. Ebd., S. 31.
  10. Ebd., S. 34–38.
  11. Ebd., S. 245–262.
  12. Ebd., S. 49.
  13. Ebd.
  14. Georges Balandier, La situation coloniale. Approche théorique, in: Cahiers internationaux de sociologie 1 (1951), S. 44–79; ders., Die koloniale Situation. Ein theoretischer Ansatz, in: Rudolf von Albertini (Hg.), Moderne Kolonialgeschichte, Köln 1970, S. 105–124.
  15. Diese Formulierung greift Überlegungen des Sozialpsychologen Kurt Lewin zur sozialräumlichen Struktur von Kriegslandschaften auf. Ders., Kriegslandschaft, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie (1917), 12, S. 440–447.
  16. Fanon, Die Verdammten dieser Erde, S. S. 42.
  17. Doreen B. Massey, For space, London / Thousand Oaks, CA 2005; Edward W. Soja, Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London 1989; Edward W. Soja, Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-And-Imagined Places, Cambridge, MA / Oxford 1996.
  18. Siehe auch Ruben Andersson / Florian Weigand, Intervention at Risk. The Vicious Cycle of Distance and Danger in Mali and Afghanistan, in: Journal of Intervention and Statebuilding 9 (2015), 4, S. 519–541.
  19. Siehe auch Mark Duffield, Risk-Management and the Fortified Aid Compound. Everyday Life in Post-Interventionary Society, in: Journal of Intervention and Statebuilding 4 (2010), 4, S. 453–474.
  20. Andersson/Weigand, Intervention at Risk; Duffield, Risk-Management and the Fortified Aid Compound; Mark Duffield, Challenging Environments. Danger, Resilience and the Aid Industry, in: Security Dialogue 43 (2012), 5, S. 475–492.
  21. Andersson/Weigand, Intervention at Risk.
  22. Der Soziologe John W. Meyer hat diese Entwicklungen auf den Begriff der „world polity“ eng geführt. Siehe beispielsweise ders., World Society, Institutional Theories, and the Actor, in: Annual Review of Sociology 36 (2010), S. 1–20.
  23. Zur Idee der „heterogenen Kollaboration“ ausführlich Tanja Bogusz, Experimentalismus und Soziologie. Von der Krisen- zur Erfahrungswissenschaft, Frankfurt am Main / New York 2018.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Gewalt Kolonialismus / Postkolonialismus Körper Normen / Regeln / Konventionen Rassismus / Diskriminierung

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Teresa Koloma Beck

Teresa Koloma Beck ist Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Gesellschaftsanalyse und sozialer Wandel an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Im Zentrum ihrer Arbeits steht die alltagssoziologische Erforschung von Konflikten, Gewalt und Globalisierung.

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