Jacob Johanssen | Rezension |

Zwischen Nähe und Distanz

Replik auf Aaron Lahls und Frank Schumanns Rezension zu „Die Mannosphäre. Frauenfeindliche Communitys im Internet“

Abbildung Buchcover Die Mannosphäre von Johanssen

Jacob Johanssen:
Die Mannosphäre. Frauenfeindliche Communitys im Internet
Übersetzt von Jacob Johanssen
Deutschland
Köln 2023: Herbert von Harlem
356 S., 34,00 EUR
ISBN 978-3-869-62620-8

In dem Artikel „Doing Intellectual Disagreement Differently?“ schreibt die britische Sozialpsychologin Wendy Hollway:

Es ist nicht einfach, emotionale Reaktionen von begründeten Meinungsverschiedenheiten zu trennen. [... Es gibt] eine Reihe von akademischen Konventionen, die bestimmte Strukturen und Formen der Meinungsverschiedenheit normalisieren, die ich untersuchen möchte. Es ist nicht die intellektuelle Meinungsverschiedenheit selbst, die infrage gestellt werden sollte.[1]

Das Zitat erscheint mir passend, um meine Reaktion auf Aaron Lahls und Frank Schumanns Rezension meines Buches Die Mannosphäre. Frauenfeindliche Communitys im Internet einzuleiten und inhaltliche Punkte näher zu diskutieren. Ich bin Lahl und Schumann sehr dankbar, dass sie sich mit der deutschen Ausgabe meines Buches auseinandergesetzt haben, sehe aber auch Punkte, die ich nicht unbeantwortet lassen möchte. Diese sind: die Arbeit mit psychoanalytischen Konzepten; methodologische Differenzen und Aspekte der Interpretation; Nähe und Distanz zum Untersuchungsmaterial und im Umgang miteinander.

„Unsauberkeiten“, oder: Was ist die wahre Psychoanalyse?

Lahl und Schumann haben einige der zentralen Punkte meines Buches sehr anschaulich und klar diskutiert: den Fantasiebegriff und das Konzept vom Körperpanzer, das ich von Reich und Theweleit entlehnt habe. In beiden Abschnitten heben sie interessante Aspekte hervor, denen ich zustimme. Im weiteren Verlauf werfen mir Lahl und Schumann unter anderem „Unsauberkeiten“ und „theoretische Inkonsistenz“ vor. Sie veranschaulichen dies zunächst anhand der Diskussion von Theweleits Weiterentwicklung des Reich’schen Körperpanzers. Meine Abkehr von Theweleits Schlussfolgerung, die Soldatenmänner versuchten Psychosen abzuwehren, stellen die beiden Rezensenten als unlogisch dar.[2] Wenn ich Begriffe wie Auflösung oder Desintegration verwende, ist dies nicht gleichzusetzen mit einer Psychose, sondern meint den affektiven Zustand der Ent/Hemmung, den ich ausführlich im Buch diskutiere und der in der Rezension nur kurz erwähnt wird.

Es geht hierbei um weitreichende Fragen nach dem vermeintlich korrekten Gebrauch der Psychoanalyse außerhalb der klinischen Sphäre: Was bedeutet es, unsauber zu arbeiten? Hier haben Lahl/Schumann und ich verschiedene Ansichten, die mit wissenschaftlicher Sozialisation und vielleicht auch mit länderspezifischen Unterschieden zusammenhängen. Strenggenommen mag es richtig erscheinen, dass ich den Körperpanzerbegriff nicht übernehmen kann, wenn ich mich gleichzeitig von ihm distanziere. Allerdings bedeutet diese Kritik auch, eine fast religiös anmutende Exegese psychoanalytischer Begriffe vorzunehmen, die analytische Möglichkeiten verschließt, anstatt sie zu ermöglichen. Meines Erachtens schränkt vermeintliche methodische Präzision oder Reinheit kreative Prozesse ein. Ich teile die Kritik nicht, dass aus meiner Form des Arbeitens eine „dekontextualisierte Verwendung wissenschaftlicher Theoreme“ resultiert. Als Frage formuliert: Warum dürfen Begriffe, Theoreme oder Ideen nicht adaptiert und weitergedacht werden? Genau diese Frage beantwortet die Rezension nicht, stattdessen propagieren Lahl und Schumann eine Art reine Lehre.

Des Weiteren merken sie an, ich hätte generalisierend und quasi aus der Luft heraus Argumente erarbeitet: „Mit teilweise dürftigen Begründungen erfahren wir dann, dass MGTOWs ‚erstens zwanghaft und zweitens hysterisch‘ seien (S. 198), dass sie ‚den unbewussten Wunsch [hätten], ihre Eltern zu töten‘ (S. 205) und dass sie ‚[w]ie Kinder [...] die Welt in Gut und Böse ein[teilten]‘ (S. 207).“ Die Zitate sind aus dem Kontext der jeweiligen Kapitel gegriffen. In einem großen Teil des MGTOW-Kapitels widme ich mich der Diskussion hysterischer und zwanghafter Charaktertypen, die Elisabeth Young-Bruehl so maßgeblich weitergedacht hat. Ich begründe, warum mir ihre Argumentation schlüssig erscheint. Was daran nun dürftig sein soll, bleiben Lahl und Schumann dem/der Leserin schuldig. Natürlich mag die These provokant erscheinen, dass einige Männer der Mannosphäre unbewusst ihre Eltern, und vor allem Väter, töten wollen und sicherlich kann ich dies nicht mit kompletter Überzeugung sagen. Es ist jedoch unstrittig, dass zum Beispiel Incels und MGTOWs ihre Väter in vielen ihrer Posts als diejenigen verantwortlich machen, die ihnen schlechte Gene und damit eine angeblich so schlechte Ausgangsposition im Leben vererbt haben.

Den Punkt, ich würde wiederholt das ödipale Modell fehlerhaft kritisieren, kann ich nicht teilen. Nicht ich, sondern Jessica Benjamin hat die von mir genannte Kritik vorgebracht und hier müssen sich Lahl und Schumann wohl an sie wenden. Später in der Rezension ist zu lesen, mein Argument, es gäbe in der NoFap-Community nicht die Perspektive, „dass der Pornokonsum ein Symptom für etwas anderes sein kann (z.B. Beziehungsprobleme oder psychische Probleme)“, halte einer genauen Überprüfung nicht stand. Woher diese Überzeugung rührt, erläutern die Rezensenten nicht weiter. Sicherlich gibt es in der NoFap-Bewegung mitunter ein hohes Maß an Reflexion, es werden Lebensgeschichten sowie Erlebnisse besprochen und sie ist insgesamt, wie auch von mir im Buch betont, viel nuancierter als andere Communitys der Mannosphäre. Was ich mit der Abwesenheit des Symptoms meine, ist die vorherrschende ‚rationale‘ Sichtweise auf Pornokonsum: Er wird eben nicht als Symptom begriffen, sondern als etwas verstanden, das man abtrainieren, abstellen oder abtöten kann. Dann werde angeblich alles besser.

Dem Vorwurf, ich hätte mitunter oberflächlich mit Quellen gearbeitet beziehungsweise handwerkliche Fehler gemacht, möchte ich widersprechen. Allerdings merken Lahl und Schumann in diesem Zusammenhang an, der Freud’sche „Bemächtigungstrieb“ würde von mir fälschlicherweise als „Instinkt zur Beherrschung“ bezeichnet. Dies hängt mit meiner Übersetzung des Buches aus dem Englischen zusammen, hierbei muss ich einen Fehler eingestehen.

Psychoanalytisch Interpretieren: theorie- oder methodengeleitet?

An die obige Diskussion schließt ein weiterer Punkt der Rezension an, in dem es um die „feinanalytische“ – wie Lahl und Schumann es nennen – Dateninterpretation geht. Sicherlich ist es lohnenswert, gerade solches Material einer äußerst detaillierten Analyse zu unterziehen. Ausgehend von dieser Perspektive ergibt sich wohl die Kritik, mein Ansatz sei oberflächlich. Ich kann mich hierbei des Eindrucks nicht erwehren, dass die Rezensenten schlicht einen anderen Ansatz als den besseren erachten. Schließlich geht es in der Wissenschaft oftmals um das Bezeugen von Loyalitäten und gerade in der psychoanalytisch-geleiteten Forschung um die Zugehörigkeit zu bestimmten Schulen oder Ansätzen. Ich teile durchaus das Argument, mein Buch sei „theorielastig“, sehe jedoch kein so großes Problem darin, da die Kapitel demonstrieren, dass ich dennoch mit empirischen Daten gearbeitet habe. Interessanter erscheint mir die Empfehlung von Lahl und Schumann, ich hätte mich mehr an Theweleit orientieren und eine Fülle von Daten präsentieren sollen, die die LeserInnen überflutet und auch überwältigt – denn dies tut meiner Meinung nach Theweleits Werk im besten Sinne.

In diesem Kontext ist noch ein weiterer Punkt zu nennen: Sosehr ich Theweleits Arbeiten generell und Männerphantasien im Besonderen bewundere, würde ein solches Buch – in diesem Umfang und Stil – heute wohl nicht mehr erscheinen. Duktus, Ton und Seitenzahl wissenschaftlicher Publikationen haben sich verändert, mittlerweile gibt es beispielsweise sensitive readings, um die Gefühle von Betroffenen nicht zu verletzen.

Einstellung zum Material

Aus meiner Arbeitsweise ergibt sich auch die Antwort auf eine in der Rezension gestellte, sehr interessante Frage nach Nähe und Distanz zum Material. Beides entsteht in meinem Fall mittels Theorien und Methoden. Es scheint mir plausibel, dass meine Interpretationen mitunter wie Diagnosen und Aburteilungen klingen, denn ich bin dem Material gegenüber äußerst kritisch eingestellt. Natürlich bringt es uns nicht weiter, derlei Daten nur kritisch zu analysieren. Wie die Rezensenten sehr richtig anmerken, habe ich mit diesen Männern gehadert, war fasziniert und abgeschreckt. Natürlich habe ich sie kritisiert, aber nicht an den Pranger gestellt. Dies macht vor allem das letzte Kapitel noch einmal deutlich, in dem ich eine reparative Perspektive eröffne. Diesen Abschluss würdigen Lahl und Schumann leider nicht. Meine Analyse als „wiederholte Selbstvergewisserung“ abzutun, ist so gesehen also reduktionistisch.[3]

Ich möchte diesen Aspekt noch unter einem anderen Gesichtspunkt diskutieren, nämlich bezogen auf den Ton und Stil der Rezension selbst. Die Besprechung beinhaltet Wertungen und Schlussfolgerungen über meine Arbeit und – im letzten Absatz – auch über meine Person. Um auf das Eingangszitat von Wendy Hollway zurückzukommen: Man kann intellektuelle Uneinigkeit und auch berechtigte Kritik anders vorbringen. Lahl und Schumann schreiben, mein Buch „wartet zuweilen mit interessanten Ansatzpunkten auf“, meine Interpretationen würden „insgesamt wenig überzeugen“, seien zu „oberflächlich“, ich neige zu „generalisierenden Schnellschüssen“, würde „versuchen“, etwas zu deuten und so weiter. Schlussendlich entstehe dadurch der Eindruck, ich kehrte den Frauenhass der Mannosphäre um in eine Art Mannosphärenhass und, um noch weiter zu gehen, eigentlich hegte ich eine klammheimliche Faszination für diese Männer, also im Grunde sei alles meine Projektion. Warum muss mit solchen Formulierungen gearbeitet werden? Der Stil und die Fundamentalkritik der Rezension sind mitunter belehrend und verletzend. Angesichts der Attacken, denen sich die Psychoanalyse vielerorts heutzutage ausgesetzt sieht, wünschte ich, wir könnten anders miteinander diskutieren.

  1. Wendy Hollway, Doing Intellectual Disagreement Differently?, in: Psychoanalysis, Culture & Society 13 (2008), 4, S. 385–396, hier S. 387 (meine Übers,, J.J.).
  2. Theweleit hatte vor allem die Mütter und nicht die Väter in seinen Männerphantasien diskutiert. In der Mannosphäre, etwa in Diskussionen von Incels, geht es oftmals gerade um die Väter und weniger um die Mütter. Dennoch hätte ich sicherlich die Rolle der Mutter in den von mir untersuchen Communitys mehr diskutieren können. Vgl. hierzu die Fußnote auf S. 70 f. Wie im Buch dargelegt habe ich diese Perspektive nicht weiterverfolgt.
  3. Im Grunde bin ich dieser Kritik schon im Buch selbst begegnet: „Vielleicht ist deshalb auch mein theoretischer Rahmen sehr deutsch (Theweleit und Reich) und von einer bestimmten Denkweise des Nachkriegsdeutschlands geprägt. Als weißer Wissenschaftler wird vielleicht auch meine eigene unbewusste Voreingenommenheit deutlich.“ (S. 52) sowie „Meine Beharrung auf dem ‚Phallus‘ als analytischem Werkzeug könnte somit selbst als phallisch angesehen werden – als ein Versuch, eine analytische Herrschaft über diese Männer zu erlangen und sie in ihre Schranken zu weisen.“ (S. 53) Nichts liegt mir ferner als Selbstvergewisserung, dies sollte auch in der wiederholten, von Lahl und Schumann benannten selbstkritischen Diskussion meiner Person deutlich geworden sein (vgl. S. 51–54, S. 285).

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Digitalisierung Gender Gruppen / Organisationen / Netzwerke Kommunikation Körper Methoden / Forschung Psychologie / Psychoanalyse

Abbildung Profilbild Jacob Johanssen

Jacob Johanssen

Jacob Johanssen ist Associate Professor an der St. Mary's University in London. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Psychoanalyse und digitale Medien. Er ist Founder Member des British Psychoanalytic Council (BPC) und Mitherausgeber der Counterspace-Sektion der Zeitschrift Psychoanalysis, Culture & Society.

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