Solvejg Nitzke, Christine Hentschel, Christian Dries, Ulrich Bröckling | Rezension |

Bücher zur Apokalypse II

Kurz rezensiert


Buchcover Apocalyptic Narratives von Riesch

Hauke Riesch:
Apocalyptic Narratives. Science, Risk and Prophecy
Großbritannien
Routledge 2021: Routledge
198 S., £ 130,00
ISBN 978-0-367-27573-0

Solvejg Nitzke zu „Apocalyptic Narratives“ von Hauke Riesch

Die Apokalypse hat ihren ursprünglich biblischen Kontext längst verlassen. Dessen ist sich Hauke Riesch bewusst, wenn er in seiner groß angelegten Studie Apocalyptic Narratives den Verflechtungen religiöser und säkularer Endzeiterzählungen Ende nachgeht. Der auf Wissenschaftskommunikation spezialisierte Soziologe zeigt anhand von Narrativen, dass und wie höchst widersprüchliche Zugänge – zum Beispiel naturwissenschaftliche Klimaprognosen und evangelikale Untergangsszenarien – erstaunlich ähnliche Konstruktionsmuster für soziale Identitäten und Denkkollektive bedingen. Es geht ihm explizit nicht darum, Inhalte gleichzusetzen, sondern die Apokalypse als geteilten „interprative narrative frame“ (S. 3) sichtbar zu machen. Riesch untersucht mithilfe dieses Rahmens Familienähnlichkeiten zwischen den apokalyptischen Narrativen (etwa Utopien oder Risikokonstruktionen, Figurenkonstellationen und apokalyptische Zukunftsmodellen); sie kenntlich zu machen, ist eine der Leistungen des Bandes. Dabei werden allerdings die Konzepte von Rahmen und Narrativ (und ihr Zusammenwirken) der Komplexität bereits vorhandener literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung zu apokalyptischen Erzählformen und Motiven nicht immer gerecht.

In drei Fallstudien – „Nuclear Apocalypse“, „Environmental Apocalypse“ und „Climate Apocalypse“ – verknüpft Riesch seine Thesen und führt den Wiedererkennungseffekt apokalyptischer Figuren und Plots in gesellschaftlichen Diskursen vor. In all dem, so seine Argumentation, ließen weder der Einsatz apokalyptischer Frames noch die Inszenierung von Prophet*innen (wie im Fall Greta Thunbergs), Endzeitdaten oder Erlösungsfantasien allein Rückschlüsse auf die politische, institutionelle oder gesellschaftliche Position der Sprecher*innen zu. Darüber hinaus berge das apokalyptische Narrativ die Gefahr, neuartige Entwicklungen und Risiken als bereits bekannt zu markieren (vgl. S. 162). Dadurch könne es dazu beitragen, beinahe jede Haltung, jedes Szenario zu plausibilisieren, denn die – von apokalyptischer Rhetorik allzu vertraute – Behauptung der Beispiellosigkeit mildere die tatsächliche Beispiellosigkeit der akuten Krisenlage ab.

Konsequenterweise versucht Riesch, sich dem apokalyptischen Frame zu entziehen. Auf die Prognose des Weltuntergangs folge regelmäßig eine „note of hope or optimism“ (S. 163), die entweder darlege, wie die Apokalypse zu verhindern sei, oder die Hoffnung ausdrücke, man werde eine neue Ordnung schaffen. Einer solchen Perspektive verweigert sich Riesch konsequent, indem er es seinen Leser*innen überlässt, die problematischen narrativen und rhetorischen Verflechtungen zu entwirren.

In der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung, insbesondere des ecocriticism und der Environmental Humanities, sind Risiko, Katastrophe, Zukunft und Identität als Bedingungen für und Effekte von Praktiken des world-making zu verstehen. Riesch nimmt darauf durchaus Bezug (zum Beispiel auf Arbeiten von Eva Horn und Lawrence Buell), aber seine Anstrengung, sich einen religionssoziologischen Zugang zu erarbeiten, hindert ihn bedauerlicherweise daran, solche Ansätze in ihrer Komplexität zur Geltung kommen zu lassen. Dies ist gerade angesichts der titelgebenden Verbindung von Apokalypse und Narrativ schade. Die Studie bietet dennoch einen erhellenden Einstieg in die Zusammenhänge apokalyptischer und technologischer Diskurse (vor allem Risikokalkulation und Prognostik) im Zusammenhang mit politischer Ökologie und Umweltbewegungen beziehungsweise deren Ausbremsen.


Abbildung Buchcover Post-Apocalyptic Environmentalism von Cassegård/Thörn

Carl Cassegård / Håkan Thörn:
Post-Apocalyptic Environmentalism. The Green Movement in Times of Catastrophe
Deutschland
Cham 2022: Springer
137 S., 42,79 EUR
ISBN 978-3-031-13202-5

Christine Hentschel zu „Post-Apocalyptic Environmentalism“ von Carl Cassegård und Håkan Thörn

Was, wenn wir schon längst in der Postapokalypse sind? Wie würde sich unser Blick auf Zukunft verändern und welche Utopien ließen sich dann noch denken? Die schwedischen Soziologen Carl Cassegård und Håkan Thörn offerieren in ihrem Buch Post-Apocalyptic Environmentalism. The Green Movement in Times of Catastrophe eine ganz eigene Perspektive auf unsere (post-)apokalyptische Gegenwart. Sie arbeiten darin das Aufkommen eines „postapokalyptischen Umweltaktivismus“ heraus, der sich von der Idee des Fortschritts verabschiedet hat und sich jeder Hoffnung auf eine bessere Zukunft verweigert. Anhand von Interviews mit Aktivist:innen bei internationalen Klimaverhandlungen und mit lokalen Aktivist:innen in Schweden und Japan, offiziellen Dokumenten ökologischer Bewegungen und ikonischen Texten wie Rachel Carsons Silent Spring teilen die Autoren die Umweltbewegung in drei große historische Stränge ein, denen sie die Narrative des Grünen Fortschritts, der Apokalypse und der Postapokalypse zuordnen. Theoretisch angeleitet ist ihr Unterfangen vor allem von den Denkern der frühen Frankfurter Schule: Adorno, Benjamin und Marcuse.

Die erste Strömung, zurückgehend auf die conservation movement des frühen 20. Jahrhunderts, folgt der Idee eines Grünen Fortschritts. Die Bewahrung der Natur, so das Versprechen, lässt sich mit ökonomischem Wachstum vereinbaren, wie etwa in den Versuchen der letzten Jahre, einen Green New Deal zu erreichen. Die zweite Strömung, die laut Cassegård und Thörn die Umweltbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt hat, ist das dunkle Gegenbild zum Fortschrittsnarrativ und von einer apokalyptischen Erzählung geleitet. Sie mobilisiert ihre Anhänger:innen über Szenarien einer katastrophischen Zukunft, die es um jeden Preis zu verhindern gilt.

Während sich die Protagonist:innen des Grünen Fortschritts auf Hoffnung stützen und der apokalyptische Aktivismus auf Angst als mobilisierende Kraft setzt, ist der postapokalyptische Aktivismus, den die Autoren als neuste Protestform der Umweltbewegung ausweisen, von Trauer, Verzweiflung und Wut geprägt. Seine Wurzeln sehen Cassegård und Thörn im „environmentalism of the poor“ (Joan Martínez-Alier; Rob Nixon) – den aktivistischen Kämpfen derer, die direkt von den Folgen ökologischer Zerstörung betroffen sind (S. 82), etwa in den „sacrifice zones“ (Naomi Klein) kapitalistischer Produktion im Globalen Süden. In Europa nahmen postapokalyptische Bewegungen erst in den letzten Jahren Form an, etwa im kulturellen Aktivismus des britischen Dark Mountain Project,[1] den Protestaktionen von Gruppen wie Extinction Rebellion oder Manifesten wie Jem Bendells Deep Adaptation[2] und der französischen Kollapsologen.[3] Die Katastrophe erscheint hier nicht als künftiges Ereignis, das gefürchtet wird und zu verhindern ist. Die entsprechenden Schriften und Aktionen skandalisieren und akzeptieren sie als gegenwärtige Realität oder imaginieren sie als eine Zukunft, die nicht mehr aufzuhalten ist. Postapokalyptischer Umweltaktivismus ist keineswegs defätistisch oder lähmend, wie die Autoren betonen (S. 79). Gerade in der Feststellung, dass die Katastrophe schon da ist, in der Forderung, dass geschehenes Unrecht geahndet und Verlust gemildert werden muss, sowie in der Abwendung von institutionalisierten Formen staatlicher und kapitalistischer Problemlösung liege sein politisches Potenzial.

Am Ende kommen die Autoren zu einer kritischen Reflexion aller drei Strömungen: Das Narrativ des Grünen Fortschritts bleibt dem System zu eng verhaftet, das uns die Zerstörung eingebrockt hat. Die apokalyptische Vision tendiert dazu, die Gegenwart als bewahrenswert zu verklären und ihren katastrophischen Unterbau zu übersehen; zudem kann sie allzu leicht in autoritäre technokratische Interventionen kippen. Die Anhänger:innen der postapokalyptischen Erzählung, für die Cassegård und Thörn insgesamt die größte Sympathie haben, geraten ebenso in die Kritik: Sie ziehen sich oft in ihre eigene Welt zurück, widmen sich praktischen Dingen wie Permakultur (S. 125) und scheuen öffentlichen Konflikt und Protest.[4]

Alle Kritik kommt für die Autoren auf einen Dreh-und-Angelpunkt zurück: Ohne Kapitalismuskritik verfehlt jeder Aktivismus die Chance, an die Wurzel des Übels zu gelangen. So schlagen sie am Ende eine „anti-kapitalistische Umweltbewegung“ (S. 128) vor, die anerkennt, wie zentral der industrielle Kapitalismus für die Verursachung unserer Probleme ist. Eine solche Bewegung verorte die Katastrophe als gegenwärtig und kämpfe um eine revolutionäre Transformation. Sie muss von der Katastrophe der Gegenwart ausgehen, denn gerade unter Bedingungen von Knappheit gilt es, utopische Visionen einer auf Gleichheit, Freiheit und Demokratie orientierten Gesellschaft zu verfolgen.

Den Autoren ist ein argumentativer Bogen gelungen, in dem die Anerkennung der apokalyptischen Zustände im Jetzt und in der Zukunft zum unerlässlichen Element emanzipatorischer, ja utopischer Zukunftsentwürfe werden. Ob für diesen Zweck die Rede von der Katastrophe nicht ‚ausgereicht‘ hätte, wäre zu überlegen; zumindest wird das (post-)apokalyptische Motiv kaum in seiner religiösen Dimension – der Hoffnung auf das Reich, der Vorbereitung auf das kommende Ende, der spirituellen Bezüge eines Erwachens und der Offenbarung – ausbuchstabiert. In diesem Sinne sollte das Buch weniger als eine große Theorie (post-)apokalyptischer Umweltbewegungen gelesen werden, denn als eine engagierte Abhandlung über die Genese des gegenwärtigen Klimaaktivismus und seiner emotionalen Ausrichtungen im Angesicht der Katastrophe.


Ingo Reuter:
Weltuntergänge. Vom Sinn der Endzeit-Erzählungen
Deutschland
Stuttgart 2020: Reclam
S. 93, EUR 6,00
ISBN 978-3-15-019678-6

Christian Dries zu „Weltuntergänge“ von Ingo Reuter

Weltuntergänge sind nichts für schwache Nerven. Um ihren Schrecken zu bannen (und uns zugleich daran zu delektieren), erzählen wir uns seit jeher die unterschiedlichsten Endzeitgeschichten – vom biblischen Sintflut-Mythos über soziale Ansteckungsfantasien bis hin zur hausgemachten „Katastrophe ohne Ereignis“.[5] Doch fabriziert das Weltuntergangsgenre nicht einfach Gruselstories. Wer einen ersten kurzweiligen und nicht von allzu großem Theorieballast beschwerten Zugang dazu sucht, wird bei Ingo Reuter fündig. Das knapp 80-seitige Vademecum, das der außerplanmäßige Professor für Religionspädagogik und kenntnisreiche Fan der postapokalyptischen Fernsehserie The Walking Dead[6] für Reclams Was-bedeutet-das-alles?-Reihe verfasst hat, bringt grundlegende Strickmuster, sozialpsychologische Funktionen, epistemische Potenziale und narrative Fallstricke von Endzeitfiktionen auf den Punkt.[7]

„Wer von Weltuntergängen spricht“, so Reuter, „der redet zugleich von Gerechtigkeit“ (S. 9), von sozialer Ausschließung – wer wird überleben, unter welchen Bedingungen? – und Schuld (Whodunit). Vor allem aber gehe es um das Danach. Denn Endzeiterzählungen eröffneten stets eine, und sei es auch noch so düstere, „Aussicht auf einen Neubeginn“ (S. 13), ja Errettung, wenn nicht gar Erlösung (nämlich vom modernen Sodom). So schon in der genreprägenden „Offenbarung des Johannes“, die das Leiden der Unterdrückten als tatsächliche Apokalypse schildert und daher erlaubt, die Rachefantasie einer „Zerstörung des Zerstörerischen“ als Rettung vor dem Untergang zu sublimieren (S. 24).

Generell erzeugen Untergangserzählungen Reuter zufolge hohe politische Bindungsenergien, sind erstrangige Heldengeneratoren und neigen zu manichäischen Simplifizierungen beziehungsweise Freund-Feind-Logiken (die Auserwählten vs. die Verdorbenen). Zugleich jedoch fungierten sie, wenn gut gemacht, als epistemologische Supernovas, martialische „Verstehenshilfen für die Gegenwart“ (S. 86), die eigentliche, mindestens unangenehme Wahrheiten über uns selbst offenbarten: Ganz gleich, ob es sich um Aliens, Zombies, Künstliche Intelligenzen oder klimatische Endzeitbeschleuniger handelt – unter dem Brennglas der Extremsituation konfrontieren uns Weltuntergangsfiktionen aus imaginierten Zukünften heraus mit den Schattenseiten des eigenen Tuns und Lassens in der Gegenwart, den selbstzerstörerischen Nebenfolgen eines petropyromanischen Wirtschaftsregimes,[8] der Fragilität sozialer Ordnung und den Abgründen menschlicher Natur. Einer stirbt am Ende immer: der Mensch oder seine Menschlichkeit.

Sinn und Zweck der Endzeitnarrative, so Reuter abschließend, liegt deshalb in der Selbstverständigung (vgl. S. 73); sie beantworten Kants vierte Frage „Was ist der Mensch?“[9] aus der Perspektive der Grenzerfahrung und der „Anthropologie des Desasters“[10] und bieten sich zugleich als Antidot gegen unliebsame Antworten an, indem sie „exemplarisch an einzelnen Figuren vor[führen], woher Rettung kommen könnte“ (S. 85). Wer vom Weltendende erzählt, ist also nicht bloß auf Effekt aus und sehnt nicht herostratisch das Ende herbei – ein Standardvorwurf gegen alle Apokalyptiker –, sondern will „in aller Regel vor dem Ende warnen“ (S. 84). Wenn unsere Erde eines (fernen) Tages ohnehin der zum roten Riesen aufgeblähten Sonne zum Opfer fallen wird, dann lautet nach Reuter die eigentliche Frage, die wir uns in Endzeiterzählungen selbst stellen, „wie die gewonnene Zeit zu gestalten sei“ (S. 77).[11] So besehen sind Weltuntergangsgeschichten mehr als blühende Phantasmen und nervenzehrende Schocker, nämlich – heute mehr denn je – notwendiges Exerzitium und Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung.


Abbildung Buchcover After the Apocalypse von Horvat

Srećko Horvat:
After the Apocalypse
Großbritannien
Cambridge 2021: Polity
180 S., 61,64 EUR
ISBN 978-1-509-54008-2

Ulrich Bröckling zu „After the Apocalypse“ von Srećko Horvat

Postapokalyptische Romane, Filme, Comics und Computerspiele erzählen von dystopischen Welten nach einer planetaren Katastrophe. Der kroatische Philosoph und Aktivist Srećko Horvat übernimmt diese Perspektive für eine kritische Beschreibung der Gegenwart. „Please note: the post-apocalyptic fiction section has been moved to Current Affairs“, zitiert er ein Hinweisschild aus einer Buchhandlung als Motto seines Essays. Er begibt sich an Orte, an denen das Danach bereits Wirklichkeit geworden ist oder seine Schatten zumindest schon vorauswirft: auf seine Heimatinsel Vis in der Adria, wo Horvat nach einer extremen Sturmflut 2019 kommende Desaster erahnt und betrauert; in die Sperrzone von Tschernobyl wenige Monate vor der russischen Aggression, wo die nukleare Katastrophe touristisch vermarktet wird; sowie – als virtueller Ausflug – auf die Marshallinseln, jene durch die US-amerikanischen Kernwaffentests radioaktiv verseuchten Atolle im Pazifik, denen aufgrund des steigenden Meeresspiegels der Untergang im strikten Wortsinne droht. Gerahmt werden die Exkursionsberichte durch ein einleitendes Kapitel mit neun Thesen zur Apokalypse und ein Postskriptum über die COVID-19-Pandemie als globale „Röntgenaufnahme“, die zeigt, dass die einzig verbleibende Alternative die zwischen „Massenauslöschung und einer radikalen Neuerfindung der Welt“ ist (S. 175).

Horvats philosophischer Reiseführer ist Günther Anders, er adaptiert dessen auf die Bombe bezogenen Leitbegriffe des Überschwelligen – die Kluft zwischen dem Vorstellbaren und dem Herstellbaren – und der nackten Apokalypse ohne kommendes Reich, um die multiplen Katastrophen und endzeitlichen tipping points gedanklich zu durchdringen. Anders’ Parabel von der „beweinten Zukunft“,[12] die als paradoxe Intervention im Futur II zum Widerstand gegen die kollektive Selbstvernichtung mobilisieren soll, dient ihm als rhetorisches Vorbild. Horvat beherrscht wie Anders alle Register prophetischer Warnrede, deutlicher als dieser präsentiert er sich zugleich als antikapitalistischer Agitator, der mit geradezu messianischer Verve darauf insistiert, dass die Zukunft noch nicht verloren ist. Indem er (post-)apokalyptische Dystopie und revolutionäre Utopie antagonistisch miteinander verknüpft, lädt er beide eschatologisch auf, ohne viel mehr über sie sagen zu können, als dass der Kampf gegen die eine nur als Kampf für die andere zu führen ist. Auch wenn der Antagonismus auf den Gegensatz zwischen dem längst um sich greifenden „Ende der Welt“ und einem weiterhin möglichen „anderen Ende der Welt“ hinausläuft, soll er einer ums Ganze sein.

Horvats trotzige „Hoffnung ohne Optimismus“[13] mag man teilen oder nicht. Die von ihm aufgerufenen Graffiti-Parolen mögen bisweilen klingen wie das sprichwörtliche Pfeifen im Walde. Weit mehr berühren dagegen seine melancholischen Schilderungen der „Solastalgie“ (S. 48 ff.), jenes Schmerzes über die Zerstörung vertrauter Landschaften und liebgewonnener Orte im Zuge der Klimakatastrophe, der ihn auf Vis überkommt. Der schwarze Humor, mit dem er seine Bustour in die Geisterstädte rund um den havarierten Atommeiler in der Ukraine beschreibt, wo man T-Shirts mit der Aufschrift „Enjoy Chernobyl, Die Later“ kaufen kann (S. 103), lässt der Leserschaft das Lachen im Hals stecken bleiben. Der GAU ist zum Spektakel geworden. Am stärksten verstört Horvats Bericht über die Lecks in der behelfsmäßigen Betonkuppel auf dem Eniwetok-Atoll im Pazifik, unter der Tausende Tonnen plutoniumverstrahlten Abfalls lagern, die Hinterlassenschaft der Atomtests. Das Grab, wie es die Marshallianer nennen, wird voraussichtlich bald schon unter der Meeresoberfläche verschwinden – mit unabsehbaren Folgen.

Zu lernen ist von Horvat nicht zuletzt, wie die Apokalypse immer auch als semiotische Maschine funktioniert. Der Strom populärkultureller Untergangsnarrationen und -bilder, die das gesellschaftliche Imaginäre mit affektiver Intensität aufladen, reißt nicht ab, und Horvat bemüht sich nach Kräften, diese Energie in widerständige Bahnen zu lenken. Nach der Lektüre von After the Apocalypse wünscht man sich nichts mehr, als dass sein Appell verfangen möge. Wie alle semiotischen Maschinen produziert die apokalyptische allerdings mehr als nur eine Bedeutung. Für diese Vieldeutigkeit interessiert sich Horvat kaum. Problematisch daran ist nicht seine Politisierung der Endzeitdiagnosen, sondern dass er vernachlässigt, zu ermitteln, wie auch seine Gegner die apokalyptische Zeichenproduktion für ihre Ziele politisieren.

  1. Seit 2009 veröffentlicht das Dark Mountain Project Essays, Gedichte, Stories, Manifeste und andere (künstlerische) Ausdrucksformen, die sich mit dem bevorstehenden Kollaps unserer Zivilisation auseinandersetzen. Für eine Selbstbeschreibung siehe: https://dark-mountain.net/about/ [7.8.2023].
  2. Nach dem ursprünglichen Text „Deep Adaptation. A Map for Navigating Climate Tragedy“ [7.8.2023] aus dem Jahr 2018 von Jem Bendell erschienen die Bücher Deep Adaptation. Navigating the Realities of Climate Chaos von Jem Bendell und Rupert Read (2021, Polity Press) und Breaking Together. A Freedom-Loving Response to Collapse von Jem Bendell (2023, Good Works). Deep Adaptation ist inzwischen eine internationale Community, die in Seminaren, selbstorganisierten Gruppen und mit Selbsthilfetipps Menschen darin unterstützt, den „systemischen Kollaps zu navigieren“ und eine „liebende Antwort auf unsere Misere“ zu finden. Siehe https://guidance.deepadaptation.info [7.8.2023].
  3. Das ursprünglich 2015 erschienene Comment tout peut s'effondrer. Petit manuel de collapsologie à l'usage des générations présentes von Pablo Servigne und Raphaël Stevens (Éditions du Seuil) erschien 2022 auf Deutsch mit dem Titel: Wie alles zusammenbrechen kann. Handbuch der Kollapsologie (Mandelbaum). 2018 erschien zudem von Pablo Servigne, Raphaël Stevens und Gauthier Chapelle: Une autre fin du monde est possible. Vivre l’effrondement (et pas seulement y survivre) (Éditions du Seuil) und 2022 das Erklärbuch für Kinder (und Eltern) zum Kollaps: L'effondrement (et après) expliqué à nos enfants… et à nos parents von Pablo Servigne und Gauthier Chapelle. In Frankreich hat sich seit 2015 eine rege intellektuelle Community der Kollapsologie herausgebildet, siehe etwa https://collapsologie.fr/fr/ [7.8.2023]. Siehe hierzu auch die Kurzrezension von Frank Adloff in diesem Dossier.
  4. In konservativen oder gar rechtsextremen Wendungen der postapokalyptischen Imagination, so die Sorge der Autoren, gerät die Akzeptanz der kommenden Katastrophe sogar zur Ausrede für unzählige Varianten eines „climate barbarism“ (Naomi Klein): der Bewahrung von Privilegien auf Kosten der Schwächsten (S. 130).
  5. Eva Horn, Zukunft als Katastrophe, Frankfurt am Main 2014, S. 19 f.
  6. Ingo Reuter, „The Walking Dead“. Über(-)Leben in der schlechtesten aller möglichen Welten. Interpretation einer Fernsehserie, Würzburg 2018.
  7. Siehe hierzu auch die ausführliche Besprechung von Jennifer Stevens, Mit Apokalyptik gegen den Status quo [19.6.2023], in: Soziopolis, 24.2.2021.
  8. Vgl. Peter Sloterdijk, Die Reue des Prometheus. Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung, Berlin 2023.
  9. Immanuel Kant, Logik, in: ders., Werke in sechs Bänden, Bd. 3, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 2005, S. 417–582, hier S. 448 (A 25).
  10. Horn, Zukunft als Katastrophe, S. 26.
  11. In diesem Zusammenhang unbedingt lesenswert: die, freilich vom Kältetod-Szenario ausgehende, frühe Übung in soziologisch-apokalyptischer Fantasie des lange zu Unrecht vergessenen Gabriel de Tarde, Fragmente einer Geschichte der Zukunft, Konstanz 2015.
  12. Günther Anders, Die beweinte Zukunft, in: ders., Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, München 1972, S. 1–10.
  13. Vgl. Srećko Horvat, Poetry from the Future. Why a Global Liberation Movement Is Our Civilization’s Last Chance, London 2019.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Globalisierung / Weltgesellschaft Gruppen / Organisationen / Netzwerke Kapitalismus / Postkapitalismus Moderne / Postmoderne Ökologie / Nachhaltigkeit Zeit / Zukunft Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen

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Solvejg Nitzke

Dr. Solvejg Nitzke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin an der TU Dresden. Sie leitet das Projekt „Disrupt!Research. Dynamische Zusammenarbeit unter den Bedingungen der Störung“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Science Fiction, Katastrophen, Ökologie, Klima und Pflanzen in der Literatur.

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Christine Hentschel

Christine Hentschel ist Professorin für Kriminologie, insbesondere Sicherheit und Resilienz, am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg. Sie beschäftigt sich mit post/apokalyptischen Imaginationen und Affekten der Gegenwart sowie mit Zukunftspraktiken im Angesicht planetarer Unsicherheit.

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Christian Dries

Dr. Christian Dries leitet die Günther-Anders-Forschungsstelle an der Universität Freiburg und ist Lehrbeauftragter an der Universität Basel.

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Ulrich Bröckling

Dr. Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.

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