Dossier

Über Schreiben sprechen

Eine Interviewreihe zum wissenschaftlichen Schreiben

Schreiben ist für manche eine selbstverständliche, bisweilen sogar natürliche Ausdrucksweise, für andere – wahrscheinlich die meisten – ist und bleibt es eine belastende Tätigkeit, so herausfordernd, anstrengend und kraftzehrend wie Bergsteigen. Eigene Gedanken für andere nachvollziehbar zu Papier zu bringen – klar und deutlich, idealerweise zugleich in eleganter Sprache –, gilt gleichermaßen als Kunststück, Handwerk und Hürde.

Als Wissenschaftler*in sieht man sich mit ganz spezifischen Anforderungen an das Verfassen von Texten konfrontiert. Nachdem man die Argumente verstanden, die gelegentlich gewundenen Überlegungen nachvollzogen und die unterschiedlichen theoretischen Positionen anderer Autor*innen gegeneinander abgewogen hat, muss die eigene Sichtweise nun in eigene Worte gegossen und bündig formuliert werden, wiederum mit stichhaltigen Argumenten, innerhalb einer logisch sauberen Thesenfolge und in einer darstellerischen Stringenz, zu der – jedenfalls gelegentlich – trockene Lakonie und selbstironische Distanz zählen dürfen. Gerade wer die Darstellungskonventionen akademischen Schreibens beherrscht, darf sie gezielt und gut dosiert verletzen, um die eigene Souveränität im Medium des wissenschaftlichen Diskurses zu bezeugen.

Sicherlich spielen Talent und Begabung nicht nur in der Belletristik eine gewisse Rolle, sondern auch bei den Textsorten, die der sogenannten expositorischen Prosa zugerechnet werden, die also empirische oder theoretische Sachverhalte vorstellen. Für diese Art der Präsentation braucht es zunächst kognitive Kompetenzen, die ein akademisches Studium vermittelt. Neben den eigentlichen Inhalten muss man lernen, sich mit einiger Sicherheit in den jeweiligen Fachsprachen akademischer Disziplinen zu bewegen. Wie bei einer Fremdsprache braucht es Zeit und Geduld, bis man sich deren spezifische Terminologien und Ausdrucksweisen angeeignet hat. Nicht anders verhält es sich mit dem Schreiben. Selbst wenn es eine Kunst ist, so hat auch diese ihre Regeln, die erlernt und respektiert werden sollten; jedenfalls wenn und solange man als Autor*in gelesen werden möchte. Lernen heißt hier – wie in fast allen anderen Zusammenhängen – in erster Linie nachmachen. Ohne Imitation entsteht kein Autor, keine Autorin. Wer gut schreiben will, muss sich einen Stil oder eine Darstellungsform zum Vorbild nehmen, der das eigene Schreiben nacheifert.

Gut geschrieben, heißt es, sei gut gedacht. Die Sentenz trifft ins Schwarze. Tatsächlich ist die Schule des Schreibens immer auch eine Schule des Denkens. Erst der Versuch, zum Ausdruck zu bringen, was gemeint werden soll, lässt uns verstehen, was unser Gedanke ist. Und spätestens Sigmund Freud, einer der ganz großen Stilisten wissenschaftlicher Prosa, hat darauf aufmerksam gemacht, was uns diese Beobachtung in aller Regel lehrt: dass wir nämlich durchaus nicht die Herr*innen im Haus unserer Bedeutungen sind. Diese Erfahrung immer neu durchlaufen und verkraften zu müssen, ist einer der Gründe, warum das Schreiben eine so schwierige Übung ist.

Schreiben, fand der argentinische Schriftsteller und Bibliothekar Jorge Luis Borges, sei weniger vornehm als lesen. Wer wollte widersprechen? Ohne einen gewissen Geltungsdrang, ohne die womöglich fragwürdige Überzeugung, etwas nicht nur sagen zu wollen, sondern unbedingt sagen zu müssen, also ohne ein bisschen Hybris, ja vielleicht sogar eine Spur von Exhibitionismus, dürfte sich niemand an den Schreibtisch setzen, um für Stunden, Tage, mitunter sogar Wochen und Monate in die kraftraubende Verfertigung eines Textes abzutauchen. Doch die Vornehmen, die Leser*innen, die sich ihrem gelegentlichen Ausdrucksverlangen widersetzen und sich voller Diskretion lieber der ebenso abgeschiedenen wie stillen Beschäftigung widmen, die Darstellungen und Gedankengänge anderer nachzuvollziehen, prämiert die Wissenschaft nicht. Wer in Akademia eintreten will, muss ein Tor durchschreiten, das der Imperativ „Publish or Perish!“ überschreibt. In ihrer Welt ist Distinktion nur durch’s Schreiben zu gewinnen, das Lesen hat sein Recht hingegen nur als integraler Bestandteil der Exerzitien, die das Schreiben vorbereiten.

Nicht nur Studierende oder Promovierende am Anfang ihrer wissenschaftlichen Laufbahn tun sich mit dem Abfassen eigener Texte schwer. Selbst gestandene Wissenschaftler*innen geraten trotz langjähriger Berufserfahrung und Schreibpraxis immer wieder in Krisen oder gar veritable Schreibblockaden. So gesehen ist es umso verwunderlicher, dass an vielen Universitäten und Hochschulen mittlerweile zwar Schreibwerkstätten, Workshops oder entsprechende Tutorien angeboten werden, die Praxis des wissenschaftlichen Schreibens abseits derartiger didaktischer Anstrengungen jedoch nur selten thematisiert wird.

Als Wissenschaftsredaktion haben wir selbstverständlich jeden Tag mit den Produkten akademischen Schreibens zu tun. In der Mehrzahl der Fälle verlangen sie nach einer behutsamen und sorgfältigen Bearbeitung. Redigieren ist Text-Therapie. Schon deshalb beschäftigt sich eine Redaktion häufig mit dem Entstehungsprozess eines Textes, mit dem komplizierten und mitunter durchaus schmerzhaften Geburtsvorgang, der aller Prosa vorhergeht. Und zuweilen lassen uns Autor*innen auch wissen, welche Schwierigkeiten sie beim Schreiben hatten und wie dankbar sie für etwaige Hilfestellungen sind.

So hat uns der gelegentlich geäußerte Wunsch nach Tipps und Tricks, aber auch unsere eigene Neugierde dazu veranlasst, dem Thema „Wissenschaftliches Schreiben“ etwas gründlicher nachzugehen. Was läge da näher, als produktive und anerkannte Autor*innen nach ihren persönlichen Erfahrungen, ihren Kniffen und Routinen zu fragen? Und zu unserer großen Freude waren beinahe alle, die wir um ein Gespräch über das Schreiben gebeten haben, sofort bereit, uns ihre Zeit und ihren Rat zu schenken. Das Ergebnis ist eine Interviewreihe in mehreren Etappen.

In der ersten Runde waren wir mit fünf Wissenschaftlerinnen im Gespräch: mit der Historikerin und geschäftsführenden Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Ute Frevert, mit der Soziologin und Genderforscherin Paula-Irene Villa Braslavsky, mit der Soziologin und emeritierten Direktorin des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Renate Mayntz, mit der Juristin und Soziologin Ute Gerhard sowie mit der Philosophin Cornelia Klinger. Die Gesprächsprotokolle gewähren ebenso ungewöhnliche wie erhellende Einblicke in die privaten Schreibpraktiken und -räume unserer Gesprächspartnerinnen. Für die Offenheit und Präzision ihrer Auskünfte danken wir ihnen sehr. Vor allem aber für den Mut, über einige ziemlich wohl gehütete Betriebsgeheimnisse des akademischen Lebens derart unverstellt zu sprechen.

Da sich die Praxis des Schreibens in Wahrheit keineswegs von selbst versteht, da sie der Übung bedarf und vom Vergleich profitiert, also von in der Regel seltenen Gelegenheiten, Autor*innen bei der Verschriftlichung ihres Meinens einmal über die Schulter zu schauen, hat unsere erste Serie von Interviews über wissenschaftliches Schreiben große Resonanz bekommen. Sie hat uns bewogen, die Reihe fortzusetzen. In der zweiten Interviewrunde wird es unter anderem um das Verhältnis von Wissenschaft und Autor*innenschaft, um veränderte Publikationsstrategien, aber auch, ein Stück weit pro domo, das heißt für die Hausapotheke der Redaktion, um die Beschaffenheit der Zusammenarbeit mit Lektor*innen und Redakteur*innen gehen. Wir starten mit einem nächsten Gespräch, zu dem wir den Freiburger Soziologen Ulrich Bröckling geladen haben. Ihm werden in loser Folge – zunächst in Interviews mit Jo Reichertz, Rahel Jaeggi, Andreas Reckwitz und Gesa Lindemann – weitere Auskünfte darüber folgen, was zu wissen und zu tun ist, soll die Praxis des Schreibens ihre Schrecken verlieren. Als vorläufigen Abschluss der Interviewreihe wechseln wir die Perspektive und befragen Eva Gilmer, seit 2007 Leiterin des Wissenschaftslektorats im Suhrkamp Verlag, zu ihrer Arbeit an Texten und mit deren Autor*innen.

Inspiriert von den ersten beiden Interviewsequenzen zur wissenschaftlichen Schreibpraxis wandte sich Marc Ortmann an Autor:innen außerhalb der deutschsprachigen Wissenschaft und befragte sie zu Hemmnissen und Hürden, ihren jeweiligen Tipps und Kniffen, aber auch zu ihren Freuden beim Schreiben, ebenso wie zu ihren Erfahrungen und Erkenntnissen. Wir freuen uns, an dieser Stelle die – ebenfalls von Marc Ortmann übersetzten – Gespräche mit Gisèle Sapiro, Geoffroy de Lagasnerie, Vincent Dubois, Benedicte Zimmermann, Ash Watson und Les Back veröffentlichen zu dürfen. Wir danken Marc Ortmann sowie seinen Gesprächspartner:innen für die Fortführung des Austauschs über das wissenschaftliche Schreiben.

Die Redaktion

Marc Ortmann, Les Back | Interview

Musik ist eine Form der Soziologie

Les Back im Gespräch mit Marc Ortmann

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Marc Ortmann, Bénédicte Zimmermann | Interview

„Schreiben hat einen kumulativen Charakter“

Bénédicte Zimmermann im Gespräch mit Marc Ortmann

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Geoffroy de Lagasnerie, Marc Ortmann | Interview

„Für mich ist Schreiben ein politischer Akt“

Geoffroy de Lagasnerie im Gespräch mit Marc Ortmann

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Wibke Liebhart, Eva Gilmer | Interview

„Stil hat auch etwas mit Mut zu tun“

Eva Gilmer im Gespräch mit Wibke Liebhart

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Martin Bauer, Andreas Reckwitz | Interview

Wenn Schreiben Forschung wird

Andreas Reckwitz im Gespräch mit Martin Bauer

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Thomas Hoebel, Jo Reichertz | Interview

Dialog mit dem Drachen

Jo Reichertz im Gespräch mit Thomas Hoebel

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Cornelia Klinger, Wibke Liebhart | Interview

"Das gute Schreiben erzieht das gute Denken"

Cornelia Klinger im Gespräch mit Wibke Liebhart

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Wibke Liebhart, Ute Gerhard | Interview

"Zum Schreiben muss ich mutig sein"

Ute Gerhard im Gespräch mit Wibke Liebhart

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Stephanie Kappacher, Renate Mayntz | Interview

"Wenn geschrieben wird, bin ich zu Hause"

Renate Mayntz im Gespräch mit Stephanie Kappacher

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Wibke Liebhart, Paula-Irene Villa Braslavsky | Interview

"Der Bildschirm ist mir immer zu klein"

Paula-Irene Villa Braslavsky im Gespräch mit Wibke Liebhart

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Athanasios Karafillidis, Andrew Abbott | Interview

The Shining, not the Moon

Andrew Abbott in conversation with Athanasios Karafillidis

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