Fabian Link | Rezension |

Expertise für den Ernstfall

Rezension zu „Experts, Social Scientists, and Techniques of Prognosis in Cold War America” von Christian Dayé

Christian Dayé:
Experts, Social Scientists, and Techniques of Prognosis in Cold War America
Schweiz
Cham 2020: Palgrave Macmillan
xvi, 246 S., 96,29 EUR (Hardcover)
ISBN 978-3-030-32780-4

Seit rund zwei Jahrzehnten erfreut sich die Wissenschaftsgeschichte des militärisch-industriellen-akademischen Komplexes in den USA zur Zeit des Kalten Krieges gesteigerter Aufmerksamkeit.[1] Die sowohl in außeruniversitären Think Tanks als auch in universitären Einrichtungen und Projektteams praktizierte Forschung folgte in der Frühphase des Kalten Krieges einer „Cold War Rationality“,[2] einer technisch-mathematischen und primär methodenorientierten Rationalität, die menschliche Vernunft durch behavioristische, spieltheoretische und kybernetische Konzepte ersetzen sollte und deren Wissen auf Anwendung durch Militär, Politik und Industrie zielte. Dass auch die Sozialwissenschaften, und hier zumal die Soziologie und die Wirtschaftswissenschaft, in diesem epistemisch-politischen Gefüge eine zentrale Rolle spielten, ist inzwischen bekannt und verhältnismäßig gut erforscht.[3] Ein wichtiger Beitrag zu dieser Forschungsliteratur ist das vorliegende Buch von Christian Dayé, das zugleich an eine Reihe interessanter jüngerer Arbeiten[4] zur Geschichte sozialwissenschaftlicher Methoden anschließt und diese fortsetzt.

In methodischer Hinsicht folgt Dayé einer soziologischen Soziologiegeschichte im Anschluss an Christian Fleck,[5] die er mit Prinzipien der historischen Epistemologie nach Gaston Bachelard kombiniert (S. 7 f.). Das Buch richtet sich somit sowohl an Soziologen, die sich für die Geschichte ihrer Disziplin und deren Methoden interessieren, als auch an Wissens- und Wissenschaftshistoriker. Allerdings dürften die teilweise ausgesprochen detailliert rekonstruierten praktischen Abläufe bei der Anwendung der hier im Fokus stehenden Techniken in erster Linie für Sozialwissenschaftler aufschlussreich sein.

Im Zentrum des Buches stehen zwei Prognosetechniken, die Delphi Technique und das Political Gaming, die beide zwischen 1947 und 1964 am wohl wichtigsten und populärsten US-amerikanischen Think Thank der Nachkriegszeit entwickelt und erprobt wurden, der 1946 gegründeten RAND Corporation. Bei der Delphi Technique handelt es sich um eine Methode zur Ermittlung von Prognosen und Entwicklungstrends durch eine Expertengruppe. Der Expertengruppe wird eine Reihe von Thesen und/oder Fragen vorgelegt, die in mehreren Runden beantwortet beziehungsweise auf ihre Plausibilität hin geprüft werden. Dabei steht der Prozess der Meinungsbildung im Vordergrund. Ziel der Methode ist, eine aufbereitete Gruppenmeinung zu erhalten, die Aussagen und Angaben über die gesamte Bandbreite der in der Gruppe vorhandenen Ansichten enthalten soll. Beim Political Gaming dagegen geht es um die Simulation außenpolitischer, meist im Zusammenhang mit militärischen Operationen stehender Situationen. Beteiligt sein können zwei oder mehrere Spieler, deren Handlungsoptionen nach der Rational Choice-Theorie ausgerichtet sind. Es geht darum, den nächsten Spielzug des Gegners zu antizipieren, um einen strategischen Vorteil zu erlangen.

Dayé untersucht zwei Gruppen innerhalb der RAND Corporation: Zum einen die Mitglieder der für die Delphi Technique zuständigen mathematischen Abteilung, bestehend aus Olaf Helmer, Norman Dalkey und Nicholas Rescher, und zum anderen die Angehörigen der mit Political Gaming befassten sozialwissenschaftlichen Abteilung, die sich aus Hans Speier, Herbert Goldhamer und Paul Kecskemeti zusammensetzte (S. 4). Beide Gruppen bestanden aus Akteuren, die an kontinentaleuropäischen Denktraditionen geschult waren – die Mathematiker am Logischen Positivismus Wiener und Berliner Prägung, die Sozialwissenschaftler an der Wissenssoziologie Karl Mannheims (S. 5) – und die diese Ansätze weiterentwickelten und innerhalb ihres neuen Wirkungsfelds zur Anwendung brachten. Die gesellschaftliche und insbesondere politische Relevanz der untersuchten Prognosetechniken muss vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und der damit verbundenen globalen Verunsicherung verstanden werden. Es ging um die Berechnung der Wahrscheinlichkeit weiterer atomarer Angriffe durch mit den USA verfeindete Mächte. Für beide RAND-Gruppen spielte dabei die Figur des wissenschaftlichen Experten eine entscheidende Rolle. Dem Experten sprachen die Wissenschaftler die Fähigkeit zu, in einer Zeit der Unsicherheit sicheres Wissen generieren zu können, an dem sich politische Entscheidungsträger orientieren sollten (S. 6). Von diesem Befund leitet Dayé zwei Konzepte ab, an denen er seine Geschichte ausrichtet: einerseits die den Experten zugewiesene epistemische Autorität und andererseits die an sie gerichteten epistemischen Hoffnungen der Gesellschaft (S. 7).

Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert, bestehend aus einer Einleitung, fünf Hauptkapiteln und einer Konklusion. Im zweiten Kapitel verortet Dayé die Mitglieder der beiden Forschergruppen im zeitgenössischen Kontext der US-amerikanischen Sozialwissenschaften der 1940er- und 1950er-Jahre. Zudem historisiert er die soziale Figur des sozialwissenschaftlichen Experten sowie die neuartige Einrichtung der am Ende des Zweiten Weltkrieges entstandenen Think Tanks. In den folgenden vier Kapiteln (Kap. 3–6) rekonstruiert er streng chronologisch und minutiös die verschiedenen Phasen in der Entwicklung der beiden Prognosetechniken. Das Resultat ist alles andere als eine eindimensionale sozialwissenschaftliche Fortschrittsgeschichte, wiewohl die RAND-Mitarbeiter ihre Techniken von 1947 bis 1964 laufend verfeinerten. Vielmehr zeigt Dayé, wie die Akteure ihre Methoden und Techniken je nach Kontext veränderten. So wurde etwa das aus der Spieltheorie John von Neumanns und Oskar Morgensterns hervorgegangene Konzept des Political Gaming während des Zweiten Weltkrieges zum War Gaming weiterentwickelt, bevor es im frühen Kalten Krieg dann auch für zivile Prognosen verwendet wurde (S. 78, 83). Diese Transformation resultierte daraus, dass Mathematiker oder Sozialwissenschaftler in vom Außenministerium bezahlte Forschungsunternehmen für Kriegszwecke involviert waren. Die Erweiterung von militärisch-strategischen Prognosemethoden auf zivile Zukunftsfragen zeigt, dass sich der militärisch-industrielle-akademische Komplex im frühen Kalten Krieg auch mittels bestimmter, aus dem Kriegskontext stammender Methoden konstituierte. Dayé diskutiert auch die methodologischen Probleme bei der Anwendung der Delphi Technique, bei der die Formalisierung von Expertenmeinungen an ihre Grenzen stieß (S. 136 f.), etwa wenn keine Klarheit darüber bestand, wie die entsprechenden Fragen so formuliert werden konnten, dass sie eindeutige Antworten generierten (S. 167). In Kapitel 6 stellt Dayé die Frage nach der gesellschaftlichen Verbreitung der beiden Prognosetechniken. Während das Political Gaming bereits früh auch von anderen Institutionen und Akteuren verwendet wurde, zögerte die RAND Corporation zunächst längere Zeit mit Veröffentlichungen zur Delphi Technique, bevor sie die Daten in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren schließlich doch freigab. Dayé vermutet als Auslöser für den Sinneswandel den erfolgreichen Start des ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik 1 durch die Sowjetunion am 4. Oktober 1957 sowie die ebenfalls in diese Zeit fallende erfolgreiche Entwicklung von Interkontinentalraketen. Letztere machte eine der Grundannahmen der Delphi-Studie, der zufolge Atombomben mit Flugzeugen an ihren Abwurfort gebracht werden mussten, obsolet (S. 157 f.). Nach 1964 arbeiteten Olaf Helmer und der Futurist Theodore Gordon an der Verbreitung der Delphi Technique und darauf basierender Methoden, die von Akteuren und Institutionen der Zukunftsforschung und auch von der CIA aufgenommen wurden (S. 206 f.). Zu diesen Prognosemethoden gehörte die Cross-Impact Analysis (Wechselwirkungsanalyse), bei der einzelne, in der Zukunft möglicherweise auftretende Ereignisse mit damit zusammenhängenden Ereignissen korreliert werden, um ihre wechselseitige Beeinflussung zu eruieren. Besonders interessant ist Dayés am Ende dieses Kapitels getroffener Schluss, dass die Delphi-Methode als Resultat einer transformierten Fortführung des Wiener Logischen Positivismus angesehen werden kann, weil man schon seinerzeit in Wien mit dem Ansatz sowohl analytisch-wissenschaftliche als auch anwendungsbezogene, auf die Lösung gesellschaftlicher Problemlagen gerichtete Ziele verfolgt hatte (S. 196).

Dayés gewählte Terminologie ist ausgesprochen reflektiert und präzise, etwa wenn er „prognosis“ (als generischen Begriff) weiter in „prediction“ (in die Zukunft weisende Feststellungen ohne Rückverweis auf Evidenz), „forecast“ (evidenzbasierte Aussage über mögliche Zukunftsszenarien) und „prospection“ (Identifikation einzelner zukunftsrelevanter Faktoren) unterscheidet (S. 9 f.). Die terminologischen Unterscheidungen gehen allerdings zuweilen zu Lasten der Lesbarkeit. Gleichwohl leistet Dayé mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Sozialwissenschaften im Kalten Krieg, weil er gekonnt die detaillierte Analyse zweier Prognosetechniken mit den epistemisch-politischen Konstellationen des frühen Kalten Krieges verbindet. Im Gegensatz zu Brückweh, Igo und Isaac, die eher eine kritische Konzeptgeschichte von Methoden verfolgen, rekonstruiert Dayé in allem Detail die durch den jeweiligen historischen Kontext bedingten geringeren und größeren Wandlungen sozialwissenschaftlicher Methoden. Damit gelingt ihm eine historische Epistemologie von Methoden und Techniken in den Sozialwissenschaften, deren Mehrwert darin besteht, dass diese Praktiken keineswegs als neutral oder unabänderlich, sondern form- und wandelbar, anpassungsfähig und in hohem Maße politisch anzusehen sind.

  1. Vgl. die frühe Arbeit von Rebecca S. Lowen, Creating the Cold War University: The Transformation of Stanford, Berkeley, CA / Los Angeles, CA / London 1997. Siehe dazu auch den jüngeren Sammelband von Naomi Oreskes / John Krige (Hg.), Science and Technology in the Global Cold War, Cambridge, MA / London 2014.
  2. Vgl. Paul Erickson et al., How Reason Almost Lost Its Mind: The Strange Career of Cold War Rationality, Chicago, IL / London 2013.
  3. Mark Solovey / Hamilton Cravens (Hg.), Cold War Social Science: Knowledge Production, Liberal Democracy, and Human Nature, New York 2021.
  4. Kerstin Brückweh, Menschen zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter, Berlin / Boston, MA 2015; Sarah E. Igo, The Averaged American: Surveys, Citizens, and the Making of a Mass Public, Cambridge, MA / London 2007; Joel Isaac, Working Knowledge: Making the Human Sciences from Parsons to Kuhn, Cambridge, MA / London 2012; Andrea Ploder, Qualitative Forschung als strenge Wissenschaft? Zur Rezeption der Phänomenologie Husserls in der Methodenliteratur, mit einem Vorwort von Katharina Scherke, Konstanz 2014.
  5. Siehe Christian Fleck, Skizze einer Methodologie der Geschichte der Soziologie, in: Christian Dayé / Stephan Moebius (Hg.), Soziologiegeschichte. Wege und Ziele, Berlin 2015, S. 34–111.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Epistemologien Geschichte der Sozialwissenschaften Gruppen / Organisationen / Netzwerke Methoden / Forschung Militär Wissenschaft

Fabian Link

PD Dr. Fabian Link ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bergischen Universität Wuppertal und hält seine Titularlehre an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert, transnationale Geschichte des Faschismus sowie nationalsozialistische Wissenschafts-, Kunst- und Kulturpolitik.

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